10 - Ein letzter Blick zurück

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Nach ziemlich viel stockendem Verkehr mitten durch die Stadt halten wir schließlich in der Einfahrt eines kleinen Reihenendhauses. Pauls Elternhaus. Meine Mutter stellt den Motor ab.
„Paul? Du gibst das Tempo vor. Fühl dich bitte zu nichts gedrängt."
Eine Vielzahl von Gefühlen jagt über sein Gesicht. 

Ich weiß grade nicht, ob ich heulen, wegrennen oder eine Bombe werfen soll.
Jetzt kann ich tatsächlich nochmal da rein. Und alles in mir wehrt sich dagegen.
Niklas, hilf mir, das durchzustehen!

Mit geschlossenen Augen greift Paul nach meiner Hand und klammert sich gradezu an mich. Es dauert ein paar Minuten, bevor er mich ansieht und das Startsignal gibt. Und sein unsicher-verzweifelter Blick bringt mich fast um. Ich öffne die Autotür, rutsche raus und ziehe Paul vorsichtig in meine Arme. Wir gehen auf die Haustür zu, während meine Mutter das Auto abschließt. Paul kramt den Schlüssel hervor, zögert kurz und gibt ihn dann meiner Mutter.
„Hier. Machst du auf, bitte?"
Sie öffnet die Haustür und schließt sie hinter uns wieder. Wir treten ein in die stille Welt von Pauls Vergangenheit. Einen Moment lang sagt niemand von uns etwas.
Ich weiß nicht, ob ich grade in seiner Haut stecken will, das hier muss ganz furchtbar schwer für ihn sein ...

Schließlich fasst sich meine Mutter ein Herz und legt Paul sanft eine Hand auf den Arm.
„Können wir erst versuchen, deine Oma zu erreichen?"
Paul steuert uns ins Wohnzimmer, das im skandinavischen Landhausstil eingerichtet ist. Ich lege ihn aufs Sofa und greife nach einem Adressbuch neben dem Telefon.
„Brauchst du das hier?" Paul nickt, nimmt das Buch entgegen und blättert darin. Dann zeigt er auf einen Block auf dem Telefontisch.
„Schreibst du mal mit?" Er diktiert mir mehrere Namen, Adressen und Nummern.

„Und jetzt lass deine Mutter telefonieren, bitte. Ich will dir was zeigen."
Ich reiche meiner Mutter den Zettel. Während sie sofort ihr Glück bei diesen Nummern versucht, dirigiert mich Paul durchs Wohnzimmer. Nach kurzer Zeit stoße ich auf eine Reihe von Fotoalben.
„Pack bitte das Grüne ein, und das mit den Palmen drauf. Ich möchte die mitnehmen. Zu Hause können wir in Ruhe drin stöbern. Ich mag dir von mir erzählen."
Mir wird ganz warm.
Zu Hause. Danke, Paul! Ich bin gern dein Zuhause.

Als nächstes lotst Paul mich die Treppe hoch. Ich habe das Gefühl, dass er sich jetzt doch daran gewöhnt, hier zu sein. Seine Konzentration ist weg vom Schwindel, liegt ganz bei diesem Moment. Auf dem Flur oben bremst er mich schweigend, zögert einen Moment und legt seinen Kopf auf meiner Schulter ab. Dann zeigt er stumm auf eine der Türen. Wir betreten ein typisches Jungs-Jugendzimmer, ich lege ihn aufs Bett. Auch hier dirigiert er mich – zum Schrank, zum Schreibtisch, zum Bücherregal, wo ich hinter eine Buchreihe greifen soll, zu einem Schuhkarton unterm Bett. So sammelt sich im Laufe der Zeit ein kleiner Haufen persönlicher Gegenstände und einiger weniger bequemer Kleidungsstücke auf dem Schreibtisch an. Dann wird Paul ganz still. Mit tränenglänzenden Augen sieht er sich im Zimmer um, greift nach meiner Hand, zittert kurz und flüstert.
„Halt mich fest. Scheiße, ist das schwer. Das hier ist ... nein, war mein Leben. Ich werde das alles nie wieder sehen!"
Er wischt sich mit der Hand über die Augen, ringt um Fassung.

Wie konnten sie mir das antun?
Wie konnten sie mir so ohne Vorwarnung alles nehmen?

Ich setze mich, ziehe ihn vorsichtig auf meinen Schoß und streiche ihm langsam über den Rücken.
„Bitte, Paul. Schäm dich deiner Tränen nicht. Wer wenn nicht du hat Grund, um sein Leben zu weinen?"
Still, aber unaufhörlich laufen ihm die Tränen übers Gesicht. Er weint – um seine Eltern, um sein verlorenes Vertrauen und den Verrat, um seine Träume, um sein unbekanntes GEGENÜBER, um all die verpassten Jahre voller Leben, Liebe und Leidenschaft, die ihm nun vermutlich verwehrt bleiben werden.

Wenn ich mich hier so umschaue – das ist mir gleichzeitig so vertraut und so fremd!
Ich möchte alles mitnehmen und nichts. Ich möchte erinnern und vergessen gleichzeitig. ...
Was solls. Das letzte Hemd hat keine Taschen.

Er deutet auf ein Foto auf seinem Nachttisch. Es zeigt einen etwa zwölfjährigen jungen Katzenhybriden mit zwei Erwachsenen.
„Schau mal. Da hab ich noch geglaubt, dass meine Eltern mit mir durch dick und dünn gehen werden ..."
Er fasst das Bild nicht an. Es wandert nicht auf den Haufen persönlicher Gegenstände. Er ist ganz in sich gekehrt, als meine Mutter leise den Kopf zur Tür reinstreckt. Sie macht pantomimisch Telefonieren nach und reckt dann den Daumen in die Höhe.

Dann ändert sich ihre Miene, als sie mir einen Brief so hinhält, dass nur ich ihn sehen kann, Paul aber nicht.
"Für Paul von Mami"
Ich halte die Luft an. Allmählich weiß ich nicht mehr, wen ich schlimmer finden soll – den Vater, der das Ding eiskalt durchzieht? Oder die Mutter, die ihren eigenen Schmerz wichtiger findet als die Lebensangst ihres Sohnes?
Was soll denn nach dieser Aktion bitte noch ein Brief? Hofft sie darauf, dass Paul den liest und ihr ganz gerührt schon mal prophylaktisch verzeiht??? Dass er ihr ganz furchtbar dankbar für die tolle Idee mit dem Schlüssel ist und ihr all seine Liebe entgegen bringt???
Ich knirsche mit den Zähnen, und Paul schaut mich fragend an. Meine Mutter hat er zum Glück immer noch nicht bemerkt, und sie hat den Brief auch schon wieder weg gesteckt.
Reicht, Niklas! Es ist in Ordnung, dass du dich in ihn verliebt hast. Aber bleib gefälligst trotzdem Profi, verdammt nochmal!

Ich lächele Paul an. Er ist ausnahmsweise mal zu sehr mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt und fragt nicht weiter nach. Er drückt dankbar meine Hand.
„Lass uns gehen, ich muss hier raus. Ich will schauen, ob deine Mutter wegen meiner Oma was erreichen konnte. Könntest du derweil diese ausgesuchten Sachen runter bringen? Die würde ich gerne mitnehmen."
Ich nicke, hebe ihn langsam und ziemlich geräuschvoll hoch, während meine Mutter schnell verschwindet und die Treppe runter saust. Paul drängt sich ganz nah an mich in meinen Armen. Er flüstert etwas, und ich muss genau hinhören, um ihn zu verstehen.
„Es tut so weh..."

Im Wohnzimmer lege ich ihn aufs Sofa und streiche ihm sanft durchs Haar. Paul atmet einmal tief durch und nickt mir zu. Dann wende ich mich wieder zur Treppe. Meine Mutter setzt sich zu ihm und erzählt von ihren Erfolgen beim Telefonieren. Ich bleibe auf dem Flur hinter der Tür stehen und schließe die Augen. Ich bin erschüttert wie jedes Mal, wenn ich im Hospiz einen Abschied erlebe. Aber ich war noch nie bei einem Abschied vom Zuhause dabei. Und das ist noch viel schlimmer, viel dichter als sonst. Ich höre einfach zu.

„Paul, ich habe deine Oma erreichen können. Eine Nachbarin wusste, wo sie ist. Sie hat seit einer Woche verzweifelt versucht, deine Eltern zu erreichen, weil sie gerne zu deiner und ihrer Unterstützung herkommen wollte. Vorgestern dann hatte deine Mutter kurz ihr Handy an, und deine Oma hat sie prompt erwischt."
Meine Mutter klingt auf einmal unglaublich frustriert.

"Als sie gehört hat, was deine Eltern getan haben, war sie so geschockt, dass sie rückwärts gestolpert ist und sich den Oberschenkelhals gebrochen hat.
Oh nein! Auch das noch!
Sie liegt im Krankenhaus und ist totunglücklich, dass sie nicht bei dir sein kann. Ich habe aus jedem einzelnen ihrer Worte ihre ganze Liebe zu dir heraus gehört. Ich habe sogar mit einem der Ärzte telefoniert. Aber der ist nicht gewillt, sie gehen zu lassen. Sie könnte ja zu uns verlegt werden. Aber nein ... Deine Oma ist jetzt wild entschlossen, sich eine technische Möglichkeit zu verschaffen, dass sie dich nochmal sehen kann. Und du sie. Wir haben verabredet, dass ich jemand aus dem Netzwerk zu ihr schicke, der ihr einen Laptop bringen wird. Dann könnt ihr jeden Abend miteinander skypen und euch einigermaßen brauchbar voneinander verabschieden."
Ich höre Paul schluchzen und muss mir selbst die Tränen verkneifen.

Ach Oma. Ich hätte so gerne noch einmal deinen besonderen Duft nach Äpfeln und Wiese und Sommer gerochen, wäre so gerne noch einmal in deiner herzlichen Umarmung versunken ..

Ich sehe ja sein Gesicht nicht, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, wie traurig er jetzt aussieht. Seine Oma fehlt ihm sehr. Ich gehe nun doch hoch und packe die eingesammelten Sachen einfach in Pauls Ranzen. Dann klemme ich mir den Schuhkarton unter den Arm, werfe einen letzten Blick durch den Raum und gehe.

Im Wohnzimmer stelle ich die Sachen ab und gehe zu Paul. Er hat Tränen in den Augen.
„Niklas? Meine Oma kann nicht kommen! Sie hat sich das Bein gebrochen und liegt im Krankenhaus dort. ... Hälst du mich bitte ganz fest?"
Er flüstert wieder nur, aber ich weiß genau, was er meint. Ich hocke mich neben das Sofa und nehme ihn sachte und warm in meine Arme.

Paul schnieft und versucht, sich wieder zu fassen.
„Könntest du mich einfach rumtragen? Ich möchte noch einmal aus jedem Fenster schauen."
Während ich Paul auf die Arme nehme und mit ihm im ganzen Erdgeschoss von Fenster zu Fenster wandere, geht meine Mutter in die Küche und inspiziert den Kühlschrank, ob da irgendwas ist, was gammelt und weggeworfen werden muss. Ihr spüre, dass ihr das alles auch ungeheuer nahe geht und sie sich beschäftigen muss. Gleichzeitig will sie uns Zeit zu Zweit lassen.

Paul zeigt mir derweil den verschneiten Garten, sein altes Baumhaus, die Stelle, wo er als Grundschulkind sein eigenes kleines Kräuterbeet hatte, aber auch manchen Gegenstand in einem der Räume. Ich weiß gar nicht, ob er selbst merkt, dass er nun doch ganz viele Anekdoten rauskramt, die von inniger Liebe zwischen ihm und seinen Eltern erzählen. Aber ich bin froh darüber, denn so kann er die Bitterkeit ein ganz kleines Bisschen loslassen. Ich spüre seine unbewusste Erleichterung darüber und freue mich für ihn.

Als wir in der Küche ankommen, steckt meine Mutter grade bis zur Schulter in einem großen alten Schrank. Ihre Stimme klingt dumpf.
„Paul, gibt es irgendwas, was du besonders gerne isst, was ich hier noch einpacken soll?"
Paul lächelt versonnen.
„Oh ja! Die Himbeermarmelade, die meine Oma gekocht hat. Die muss auf dem zweiten Board von oben sein!"
Meine Mutter taucht mit zwei Gläsern Marmelade aus den Tiefen des Schrankes auf.
„Die hier?"
Paul nickt und strahlt. Die Marmelade wandert ins Wohnzimmer in den Ranzen. Kurz darauf spüre ich den Blick meiner Mutter im Rücken. Sie bleibt im Flur und hält sich dezent zurück. Pauls Blick wandert nun auch hier aus dem Fenster.

Mist! Da wolle ich nun nicht grade dran erinnert werden.
Wenn ich gleich endgültig weg bin, lasse ich auch Sammy zurück ...

Plötzlich versteift er sich und zeigt auf die andere Straßenseite. Seine nächsten Worte jagen mir einen Schauder den Rücken runter. Paul macht sich ganz klein in meinen Armen.
„Da drüben ... da hat... hat ... Sammy gewohnt."
Stille. Tränen.
„Er hatte keinen Niklas, er war ganz allein, als er starb."
Stille. Lächeln.
„Aber ich. Ich hab einen. Den Besten."
Sturzbachartig schießen mir die Tränen aus den Augen. Ich drücke Paul fest an mich und schluchze. Da kitzelt mich etwas leise am Ohr. Ich öffne meine Augen. Pauls Schwanz.
Du geliebter, kleiner Idiot! Wieso weißt du nach grademal einemTag, was mir gut tut???
Zwei Arme schlingen sich um meinen Hals.
„Und der Beste ist einfach mal so MEIN Niklas!"

Ich taumele mit Paul im Arm zum nächsten Küchenstuhl. Erst nach einer ganzen Weile kann ich mich wieder beruhigen. Das war grade einfach zu viel. Auch ohne unsere tiefe Bindung, von irgendeinem Patienten, hätte mich das völlig von den Beinen gesägt.
„Lass uns nach Hause gehen. Hier ist nicht mehr mein Zuhause. Mein Zuhause ist bei dir."
Ganz ruhig und klar ist Paul nun. Er hat Abschied genommen. Meine Mutter trägt den Ranzen, den Schuhkarton und die beiden Alben zum Auto. Ich bringe Paul raus. Sehr bewusst zieht er selbst die Tür hinter uns zu, dirigiert mich zum Briefkasten und wirft ohne zu zögern den Schlüssel hinein.

Doch als ich gehen will, hält er mich zurück.
„Luisa? Könntest du mir noch einen Gefallen tun?"
Meine Mutter kommt zurück zu uns und nickt.
„Könntest du in den Busch dort am Zaun kriechen? Du siehst hinterher wahrscheinlich aus wie ein Schneemann. Nein, eine Schneefrau. Aber du würdest mich glücklich machen, wenn du an der Rückseite des Stammes nach einem eingeritzten Herz suchst und mir das fotografierst."
Ohne Zögern stapft meine Mutter los und taucht unter den immergrünen Busch. Paul kuschelt sich an mich und schaut ihr hinterher.
Wie schwer das alles ist. Du bist tapfer, Paul!

Sofort fällt eine ganze Ladung Schnee auf Mama. Unbeirrt arbeitet sie sich in die Mitte vor, wo es weniger Äste gibt, leuchtet mit dem Handy die Rinde ab und umrundet den Stamm. Schließlich bleibt sie stehen, bückt sich etwas und tastet die Rinde ab. Dann stellt sie ihr Handy ein und macht ein paar Fotos. Sie taucht tatsächlich als halbe Schneefrau wieder aus dem Busch auf. Wortlos hält sie Paul ein Bild hin. Der schluckt und nickt dann. Er dreht das Handy zu mir, und ich begreife sofort, was ich sehe. In dem Herz sind – etwas verwittert und mit Flechten überzogen, aber noch gut erkennbar - ein „P" und ein „S" eingeritzt.
Paul. Und Sammy.
„Lasst uns nach Hause fahren."
Paul blickt nicht zurück.

Nichts wie weg hier. 

Auf der Heimfahrt schweigen wir alle. Paul hat die Augen geschlossen. Er scheint den Schwindel, den er die ganze Zeit verdrängt hatte, wieder deutlicher zu spüren. Meine Mutter wirkt sehr nachdenklich und abwesend und hat Mühe, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Und mir schießt der Gedanke durch den Kopf, ob Sammy wohl Pauls GEGENÜBER gewesen wäre.
Wäre. Das Schicksal ist ein elendes Miststück!

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14.7.2019    -    31.8.2019    -    13.9.2019

26.9.2019

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