11 - Gefühlschaos

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Kaum sind wir zu Hause, verlassen Paul endgültig die Kräfte. Er lässt sich ins Bett bringen, kaut grade noch ein Marmeladenbrot runter und lächelt selig bei dem Geschmack. Dann fallen ihm die Augen zu. Die Messgeräte sind wieder aktiviert und zeichnen auf. Er hat nun so einen typischen Krankenschwester-Rufknopf am Bett. Darum kann ich nach nebenan gehen, mich hinlegen und mich selbst ein bisschen von dem nervenaufreibenden Vormittag erholen. Ich werde sein Klingeln hören.

Lange bleibe ich allerdings nicht allein. Meine Mutter kommt zu mir, hockt sich neben mir aufs Bett und fängt an, mir die Haare zu kraulen. Ich bin mir sicher zu wissen, was sie gleich sagen wird, und wappne mich innerlich. Und dann geht es auch schon los.
„Bevor du dich völlig versteifst und dich gegen jedes meiner Worte wehrst, mein Sohn – ich verstehe dich, und ich werde alles mit dir aushalten."
Ich hasse es, dass sie immer alles versteht und am Ende dann doch Recht hat. Das macht es so schwer, ihr mal böse zu sein.
„Aber???"

„Kein Aber, Niklas. Ehrlich nicht. Ihr beiden liebt euch so sehr, Das sieht jeder Blinde mit 'nem Krückstock. Wir werden euch ganz bestimmt nicht diese wenigen glücklichen Tage mit endlosen Diskussionen und Ratschlägen versauen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich Paul schon fast so lieb habe wie du. Er ist einfach wunderbar. Ich bin genau so wütend wie du über sein Schicksal. Er hat das alles nicht verdient. Er hat dich verdient! Und darum werden wir – Papa und ich – in diesen drei Tagen alles, wirklich alles versuchen, um dich so stark zu machen, dass du für Paul stark sein kannst. Und wir werden auch hinterher so für dich da sein, wie du es brauchst."

Ich schluchze auf und drücke mich an meine Mutter. Ich habe die besten Eltern der Welt.
„Es ... tut so weh! Jetzt schon ..."
Ich kann die ehrliche Trauer in ihrer Stimme hören.
„Ich weiß, Nicki. Ich weiß. Mir tut das auch weh."
Sorry, Mama, dass ich eben noch geglaubt habe, dass du mir das ausreden willst. Du bist die Beste!
„Mama? - Du bist wunderbar!"

Und dann weinen wir gemeinsam um den Jungen im Zimmer nebenan, der so spät zu uns gefunden und sich sofort in unser aller Herzen geschlichen hat - und uns so bald schon wieder verlassen muss.

„Niklas?"
Ich putze mir geräuschvoll die Nase.
„Hm?"
Meine Mutter zögert.
„Lass uns mal ein bisschen Profi sein, das wird für uns beide schwer genug. Wir sollten wie immer besprechen, wie wir beide miteinander agieren. Ist das jetzt O.K. für dich?"
Ich atme tief durch, richte mich auf und raufe mir resigniert durch die Haare.
„Mama, uns allen Dreien ist klar, dass wir hier nach all den Jahren Routine plötzlich Neuland betreten. Es gibt kein 'wie immer'. Es fängt schon damit an, dass ich deine obligatorische erste Frage danach, ob mir der Patient sympathisch ist und wie ich ihn einschätze – gar nicht beantworten kann. Ich mein'. Ich kann mein Hirn einschalten, seine Vitalwerte kontrollieren, ihn waschen, pflegen, füttern. Aber keine zehn Pferde werden mich aus seiner Nähe bekommen, wenn er mich braucht. Ich werde keine Pause machen, wenn er nach mir ruft. Vergiss den Schichtdienst und die Verlaufsprotokolle! Und jetzt kuck' nicht so verzweifelt. Ich weiß nicht, ob ich das durchhalten werde. Ich kann mich grade bei mir selber auf nichts verlassen. In mir ist ein Gefühlschaos – das ist einfach unbeschreiblich!"

„Dann fang an."
Irritiert werfe ich ihr einen Seitenblick zu.
„Fang an zu sortieren, bevor es zu spät ist. Paul braucht dich. Und er braucht deine Professionalität. Wenn du nämlich Sonntag Nacht noch fertiger bist als er, dann vermittelst du ihm das Gefühl, dass er nicht gehen darf, wegen dir. Es ist schlimm genug, dass er seine Oma alleine zurück lassen muss. Du weißt genau, wovon ich rede. Erinnerst du dich an die Mutter, die wir fast rausgeworfen hätten? Sie hat sich an ihre Tochter geklammert und die ganze Zeit gejammert 'geh nicht, geh nicht'. Das Mädchen hat sich unglaublich gequält bis zum letzten Atemzug. Tu Paul das nicht an!"

Siehste??? Sie hat schon wieder Recht!
Verzweifelt schlage ich die Hände vors Gesicht.
„Hier ist dein Hospiztagebuch. Ein Neues. Nur für Paul. Schreib alles auf! Jedes einzelne Gefühl, jede Frage. Er kann jederzeit aufwachen und uns unterbrechen. Dann findest du deine Gedanken wieder. Wehr dich bitte nicht dagegen, es hat dir immer geholfen. Und wenn Paul fragt, was das ist, erklär es ihm."
Ich schüttele energisch den Kopf und schiele misstrauisch auf das Notizbuch.
„Es hat geholfen, ja. Es hilft, den inneren Abstand zu wahren und sachlich richtig zu agieren. Aber ich will doch gar keinen Abstand wahren!"

„Doch, das willst du. Denn genau das ist es, was Paul am Sonntag von dir braucht. Er braucht deine körperliche Nähe, deine Wärme, deine Stimme, deine Hände, Augen und Ohren. Er braucht die Gewissheit deiner Liebe. Schlaf meinetwegen mit ihm in einem Bett, damit er sich geborgen fühlt und du dich nicht so hilflos. Das ist uns letzten Endes egal, wenn es hilft. Aber er braucht es auch zu spüren, dass du deine Sinne beisammen hast, der Situation gewachsen bist und souverän entscheiden kannst, was im nächsten Augenblick zu tun ist. Paul braucht es, an dir zu spüren, dass die nächsten zweieinhalb Tage keine Quälerei sein werden. Dass er sich geborgen fühlen darf. Dass er sich geliebt weiß. Er braucht DICH als festes Geländer, weil ER das Gleichgewicht verloren hat."

Gegen einen riesigen inneren Widerstand an nehme ich meiner Mutter das Notizbuch aus der Hand. Ja, wir betreten Neuland. ... Aber genau darum darf ich auch dieses besondere Buch völlig anders füllen als sonst. Es stimmt. Ich muss bei Verstand bleiben, damit ich diese drei Tage bewusst und für Paul angenehm gestalten kann. Ich registriere, dass meine Mutter nicht einfach eines der üblichen Protokollbücher aus dem Hospiz gegriffen sondern extra für mich ein besonders schönes Notizbuch besorgt hat. Zärtlich streichen meine Finger über den Ledereinband. Ich öffne das Buch vorsichtig, schnappe mir einen Stift vom Nachttisch und male geduldig Pauls Namen ganz groß auf die erste Seite.    😺ᅠ PAUL   🐭ᅠ  Ob ich eines Tages werde dankbar sein können für die Zeit, die uns gemeinsam geschenkt wurde?
MEIN Paul. Du selbst bist das Geschenk!

Meine Mutter räuspert sich leise, um mich aus meinen Gedanken zu holen.
„Zwei sachliche Dinge noch. Es haben sich auf die Online-Anfrage hin einige Leute gemeldet. Da war auch 'zu weit weg' dabei und dieser total unangenehme Typ, der sich immer meldet, und den wir schon beiden letzten Malen aussortiert haben. Aber drei Leute werden morgen im Laufe des Tages kommen. Wenn Paul das noch wünscht. Und das andere ist, dass Papa mir vorhin geschrieben hat, dass er für Samstag, Sonntag und Montag alle Dienste und Termine wegorganisieren konnte. Wir beide werden also von heute Abend an rund um die Uhr für euch beide da sein. Wenn du eine Pause brauchst – dann hol sie dir bitte. Paul wird nie alleine sein. Und er wird das auch wollen."

Ich brumme unzufrieden.
„Das ist ein Totschlagargument, das weißt du schon, oder?"
Sie schmunzelt.
„Ja. Weiß ich. Aber grade war es ziemlich praktisch. Und jetzt fang an zu schreiben oder ruh dich aus."

Ich muss tatsächlich erschöpft vom vielen Denken eingeschlafen sein, denn das Summen des Patientenrufes holt mich von ziemlich weit weg zurück in die Wirklichkeit. Ein Blick in mein Buch zeigt mir, dass ich es versucht, aber noch nicht viel aufs Papier gebracht habe. Ich werfe mir schnell im Bad eine handvoll kaltes Wasser ins Gesicht, dann schlüpfe ich zu Paul ins Zimmer und hocke mich vor ihm auf den Fußboden. So können wir uns gut ansehen, ohne dass er sich groß bewegen muss.
„Wie geht es dir? Hast du dich ein bisschen erholen können?"
Lange und mit sehr wachsamem Blick schaut Paul mich an.
„Ja, der Schlaf hat gut getan. Aber ich mach mir Sorgen um dich. Ich habe dir heute Vormittag ganz schön viel zugemutet. Ich kann auch nicht versprechen, dass das nicht so weiter geht. Ich habe Angst um dich."

Autsch!
„Paul, ja – ich habe an all dem ganz schön zu kauen. Aber ich sehe mich immer noch in der Rolle, dass ich DIR versuche, Gutes zu tun, dass ich DIR Halt gebe, dass ich DIR das Abschiednehmen und Gehen erleichtere."
Er unterbricht mich.
„Dann versprich mir etwas. Und ich meine das ganz ernst! Mach bitte genug Pausen. Deine Eltern werden mich ganz sicher nicht alleine lassen. Mein größter Wunsch ist es jetzt, dass du am Sonntag Abend und in der Nacht noch die Kraft hast, ganz für mich da zu sein. Und das schaffst du nur, wenn du vorher genug Pausen machst. Und auf deine Eltern hörst!"

Doppelautsch.
„Habt ihr euch abgesprochen???"
Paul grinst.
„Nö. Aber diese Frage zeigt mir, dass meine Befürchtung nicht unbegründet ist. Deine Eltern kennen dich viel länger und besser als ich. Und wenn die das selbe sagen, dann haben wir Drei wohl Recht."
Paul greift nach meiner Hand und drückt sie leicht. Dann schaut er mir direkt in die Augen und fängt an, an meinen Fingern zu knabbern. Ich lege meinen Kopf neben seinen auf das Kissen, schließe die Augen und genieße für einen langen, schönen Augenblick unsere besondere Nähe und Liebe.
Irgendwann muss ich ihm erzählen, wie sehr mich das an Nena erinnert - und glücklich macht.

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15.7.2019    -    31.8.2019    -    26.9.2019

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