9 - Schwindel

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Es wird eine ruhige Nacht. Und das haben wir auch beide nötig. Ich wache nur einmal auf, um auf Toilette zu gehen. Als ich zurück komme, betrachte ich eine Weile schweigend im Mondlicht sein Gesicht. Es ist entspannt. Seine Nase steckt im Bauch der Plüschmaus, sein Körper ist völlig zur Ruhe gekommen. Keine verräterischen Eltern, kein Krankenhausgeruch, kein Schnee, kein übergriffiger Barmann, keine Angst dringt durch sein Gefühl von Geborgenheit in unserer Familie. Und ich war in meinem ganzen Leben noch nie so dankbar für etwas wie in diesem Moment. Als seine Hand im Schlaf nach mir sucht, lege ich mich wieder neben ihn ins Bett, lege meinen Arm um seinen Brustkorb, der sich gleichmäßig hebt und senkt. Seine Hand greift nach meiner, sein Schwanz ringelt sich locker um meine Hüfte, und auch ich schlafe schnell wieder ein.

Am nächsten Morgen wache ich davon auf, dass etwas an meinen Fingern knabbert.
Knabbert? ... Paul???
Ich öffne meine Augen und versuche rauszufinden, wo meine Hand eigentlich ist. Der Arm liegt immer noch vor Pauls Brustkorb, er hat vorhin im Schlaf meine Hand gegriffen, und nun knabbert er ganz zart an meinen Fingern herum. So wie gestern am Schwanz seiner Maus. Eine Erinnerung durchzuckt mich.
So, wie Nena es immer gemacht hat, wenn sie sich bei mir besonders wohl gefühlt hat und mir zu verstehen geben wollte, dass sie mich lieb hat.
Ich schließe meine Augen wieder und strecke alle meine Sinne nach diesem seltsam kitzligen Gefühl in meinen Fingern aus. Erinnerungen tauchen auf – an Nenas Geruch. Und an ihre Stimme.

Da kommt wer!

Es klopft leise an der Tür. Paul sitzt sofort senkrecht da und dreht seine Ohren wachsam in Richtung des Geräusches. Dann fällt er wieder um, stöhnt und hält sich den Kopf. Also antworte ich stattdessen.
„Ja?"
Meine Mutter kommt rein, um uns zu wecken. Naja – eher Paul. Mich hat sie doch sicher nebenan vermutet. - Nein, sie hat es gewusst! Jepp, ihr Blick sagt alles, obwohl sie versucht, es zu verbergen. Aber dann konzentriert sie sich erstmal auf Paul.
„Na, das sieht ja aus, als hätte der Schwindel dich schon fest in Griff. Ist es nur unangenehm schwindelig, oder hast du auch Kopfschmerzen?"

Schwindelig ist gar kein Ausdruck!
Das hört ja gar nicht mehr auf, sich zu drehen.

Statt einer Antwort knurrt Paul ungeduldig.
„Hört das Drehen eigentlich zwischendurch wieder auf? Oder renne ich jetzt drei Tage lang eirig durch die Gegend wie frisch von der Achterbahn nach fünf Loopings?"
Wir müssen schmunzeln.
„Na, solange die Achterbahn nicht deinen Humor aus dir rauskreiselt, ist noch nichts verloren. Das ist nicht angenehm, und es wird wohl auch nicht mehr aufhören. Rennen wird also eher schwierig. Aber wir sind ja da, und du denkst einfach immer daran: Aufgeben ist keine Option!"
Ich liebe dich, Mama!

Leichter gesagt als getan ...

Paul stöhnt wieder und schlägt sich entnervt die Hände vors Gesicht.
„Cool. Eine Katze mit Schwindelattacken. Wie soll das denn gehen???"
Meine Mutter zieht ihm die Hände von den Augen und schaut ihn fest an.
„Vergiss nicht – auch ich bin eine Katzenhybride. Und mir war in beiden Schwangerschaften jeweils drei MONATE lang schwindelig. Manchmal bin ich nur noch an den Wänden entlanggerutscht, weil ich nicht mehr wusste, wo oben und unten ist. Also steh auf, Niklas wird dir helfen. Und Essen und Trinken hilft dagegen. Dann wird es weniger. Wir haben heute viel vor."
Mit diesen Worten geht sie wieder raus. Paul schaut Mama mit großen Augen hinterher.
Manchmal hilft eine klare Ansage viel weiter als Mitleid ...

Im Vergleich ist Paul heute viel besser zu Wege als gestern, denn das Fieber ist weg – und die Panik. Aber mit diesem Schwindel hat er keine Chance, sich auf den Beinen zu halten oder gar alleine zu duschen. Ich setze ihn vorsichtig in die Badewanne und beginne, ihn zu waschen. Er versucht zu genießen, dass er so verwöhnt wird, aber die steile Falte zwischen seinen geschlossenen Augen spricht Bände. Ihm ist offensichtlich fast übel von all dem Geschaukel.
„Versuch, dich zu entspannen, den Rest mache ich. Am Anfang haben alle damit zu kämpfen. Aber die meisten gewöhnen sich nach einer Weile an den Dreheffekt, dann ist es nicht mehr so schlimm."

Zurück im Zimmer lege ich ihn aufs Bett, er dreht sich vorsichtig auf den Bauch und versucht dabei, seinen Kopf möglichst wenig zu bewegen. Ich bürste sanft sein Rückenfell und föhne es trocken. Paul schnurrt.
„Woher weißt du, dass das so schön ist?"
Tja...
„Weil ... Nena das geliebt hat. ... Sie hat dabei so laut geschnurrt, dass das Bett vibriert hat."
Paul kichert. Und packt sich zischend an den Kopf.

Woah – drei Tage lang. DREI elende Tage lang Karrussell fahren. Ich glaubs nicht ...
Aber mit Niklas zusammen werde ich das schon irgendwie aushalten.

Eigentlich ist nichts besonderes dabei. Körperliches Verwöhnen gehört zur Begleitung dazu, weil das dem Patienten vieles leichter macht. Aber ich bin bisher immer auf der rein dienstlich-höflich-distanzierten Ebene geblieben, habe noch nie einem Patienten von Nena erzählt. Und das macht plötzlich alles anders. Ich helfe ihm beim Anziehen, bewege ihn dabei immer nur ganz langsam, trage ihn dann hoch in die Wohnung meiner Eltern und lasse ihn in einen Sessel gleiten. Mein Vater ist schon lange weg zur Arbeit, meine Mutter hat sich ab heute für vier Tage freigenommen, um ganz für Paul da sein zu können. Es duftet hier inzwischen verführerisch nach Frühstück, Kaffee und Tee. Paul hält sich tapfer, während er einfach flüssig gerührtes Joghurt mit einem Strohhalm trinkt. Das macht satt, und er muss sich nicht viel bewegen dabei.

Joghurt mit dem Strohhalm??? Lustig. ...
Hm! Hat was ... Und ich muss meinen Kopf nicht bewegen. Jei!!!

Leise berichtet meine Mutter, was sie bisher erreicht hat.
„Die Online-Suche läuft, aber da werde ich erst heute Mittag nach Reaktionen schauen. Leider konnte ich deine Oma nicht ans Telefon kriegen. Grab doch mal in deinem umgerührten Gedächtnis, ob es eine Nachbarin oder Freundin von ihr gibt, die ich vielleicht kontaktieren könnte. Ich möchte nicht zu viel Zeit verlieren."
Mit einem frechen Zwinkern schaut sie Paul an. Der beißt die Zähne zusammen, damit er nicht schon wieder stöhnt.
„Im Adressbuch meiner Eltern stehen die Kontaktdaten der Nachbarin, die ab und zu nach Oma schaut, und von zwei Freundinnen. Dort können wir nachsehen."

Meine Mutter nickt.
„In Ordnung, das ist super. Dann kriegen wir das sicher hin. Ansonsten habe ich die Adresse der Kneipe ausfindig gemacht. Die öffnen allerdings erst nachmittags. Also habe ich mich entschieden, die Polizei zu informieren. Und eben habe ich die Rückmeldung bekommen, dass der sehr zerknirschte Kneipenbesitzer gleich dort auf uns warten wird. Du wirst also demnächst wieder im Besitz deiner Jacke nebst Inhalt sein."
Erleichtert atmet Paul durch.

Gott sei Dank! Dann bin ich wieder vollständig!
Naja ... minus Gesundheit minus Gleichgewicht minus Überlebenschancen ...
Aaaaaaber: mit Jacke!

Während ich mein Frühstück genieße, höre ich dem Bericht meiner Mutter zu und beobachte Paul aus dem Augenwinkel.
Irre ich mich? Das freut ihn nicht nur, irgendwas ist grade witzig für ihn. Manchmal ist sein Humor echt schräg ...
Wir brechen nun auf. Zunächst muss Paul aber noch den mobilen Datenempfänger bekommen. Der ist ganz klein, passt an seinen Hosenbund und wird bei unserer Rückkehr automatisch alle gesammelten Daten auf die Hauptgeräte übertragen. Diese schalten wir derweil auf standby, damit nicht in dem Moment, wo wir mit Paul das Haus verlassen, alle Alarmglocken anspringen.

Da er immer noch keine eigene Jacke hat, packe ich Paul in meinen Wintermantel ein und trage ihn dann ins Auto. Ich setze mich zu ihm auf die Rückbank und lege seinen Kopf meinen Schoß. Eine Weile sucht er nach einer angenehmen Position, dann rührt er sich wieder nicht mehr. Leider bringt die Fahrt im Stadtverkehr ziemlich viel Geruckel mit sich. Aber er scheint sich tatsächlich allmählich dran zu gewöhnen, denn sein Gejammer wird trotzdem immer weniger.

Uaaaaa – das ist ja schlimmer als Schiffsschaukel!
Aber ich halt lieber meine Klappe, sonst wird Luisa irgendwann noch ungemütlich.
Hauptsache, ich hab gleich meinen Kram wieder.

Vor der Kneipe stehen bereits zwei Polizisten und ein demütig geduckter Freak. Meine Mutter steigt aus und spricht mit den Polizisten. Daraufhin kommt einer der beiden mit zum Auto und spricht Paul an.
„So, junger Mann. Wie gut, dass sie sich in Sicherheit gebracht haben am Montag. Diese Kneipe haben wir schon lange auf dem Kieker. Wir konnten nur bisher nichts nachweisen. Aber diesmal ist der Typ zu weit gegangen. Wir haben ihre Jacke bereits beschlagnahmt. Könnten sie bitte mit mir zusammen den Inhalt kontrollieren?"
Schwerfällig öffnet Paul die Augen und lässt sich alle Gegenstände einzeln zeigen. Er entsperrt das Handy und zeigt dem Polizisten ein paar Selfies von sich als Beweis. Er beschreibt seine Brieftasche und deren Inhalt, bevor er sie gezeigt bekommt. Er gibt die Adresse an, zu der der Schlüssel gehört.
„Sehr gut, junger Mann. Das sind offensichtlich ihre Sachen. Wir nehmen die als Beweismittel mit. Sie werden das alles in etwa einer Woche wiederbekommen."

Bitte!?! Mist!!!

Paul reißt zum ersten Mal heute die Augen weit auf. Meine Mutter schüttelt den Kopf und widerspricht.
„Das geht nicht, dann ist es zu spät. Zumindest den Schlüssel müssen wir jetzt sofort bekommen."
Während der Polizist sie fragend ansieht, holt sie Pauls Personalausweis aus der Brieftasche und hält ihn dem Mann unter die Nase. Der liest, stutzt. Denkt nach. Wird blass, kratzt sich am Kopf und fängt an zu stottern.
Aha – der Groschen ist gefallen. Oh Mann, hoffentlich geht das gut!

Dann geht er mit dem Ausweis zu seinem Kollegen, der inzwischen den Barmann über seine Rechte aufgeklärt und ihn verhaftet hat. Die beiden Beamten diskutieren miteinander. Dann kommt er wieder.
„Das tut mir furchtbar leid für sie, Herr Mengel. Um so bitterer ist dieses scheußliche Erlebnis. Unter diesen Umständen geben wir ihnen ihre Wertgegenstände natürlich gleich wieder. Ich nehme nur schnell ihre Personalien auf, dann können sie weiterfahren. Würden sie, Frau Jahn, uns auch ihre Personalien geben? Dann können wir hinterher mit ihnen Kontakt aufnehmen."
Paul schließt frustriert die Augen. 

Hinterher. - Netter Mensch! Diskret wie ein Kampfjet mit Überschallgeschwindigkeit.
Naja. Ich hab, was ich will. Was die „hinterher" damit machen, ist mir eigentlich egal.

Autsch!
Das hat echt weh getan. Ich sehe die Trauer hinter seiner beherrschten Fassade und kann ihm das alles doch nicht ersparen. Aber immerhin haben wir den Schlüssel und können nun direkt zum Haus seiner Eltern fahren. Ich steige wieder zu Paul auf die Rückbank und bette seinen Kopf in meinem Schoß. Mama startet den Motor und fädelt sich in den laufenden Verkehr.

„Paul? Magst du mir erzählen, was uns dort jetzt erwartet?"
Er schüttelt den Kopf und fasst sich sofort wieder zischend an die Schläfen.
„Sorry, warts ab. Ich muss mich grade darauf konzentrieren, nicht von der Schaukel zu fallen."
Ein schwaches Grinsen breitet sich auf seinen Lippen aus. Ich bin unglaublich froh, dass er das alles mit so viel Humor nimmt. Ich merke schon, dass er sich zusammenreißen muss, dass er sich heimlich fragt, was wohl noch alles kommt. Ich spüre aber auch, dass er sich dennoch wohl fühlt. Nicht in seiner Haut grade. Aber in unserer Mitte. Und darauf kommt es jetzt an.

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14.7.2019    -    13.9.2019    -    26.9.2019

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