16 - Entscheidung

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Nachdem Paul gefrühstückt hat, gehen wir ins Wohnzimmer. Ich drücke ihm die Schnabeltasse, die Tropfen und das Protokoll in die Hand und trage ihn rüber. Bei dem Sessel machen wir kurz Halt, damit er trinken kann – mit einem breiten Grinsen im Gesicht ... Dann setze ich ihn auf dem Sofa ab und husche schnell in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Wir kuscheln uns aufs Sofa, genießen das entspannte Schweigen. Paul kaut mal wieder zärtlich an meinen Fingern rum und beschenkt mich dadurch mit einem angenehmen Kribbeln am ganzen Körper. So sehr ich das genieße - ich gebe mir einen Ruck. Erst gieße ich den Tee auf und hole ihn zum Ziehen an den Wohnzimmertisch, damit ich nicht nochmal in die Küche muss. Dann hole ich tief Luft.

Aha. Jetzt kommt das, was ich eben drüben schon gespürt habe.
Irgendwas tut ihm gar nicht gut.

„Paul, ich muss noch was ansprechen, bevor wir heute Nachmittag zur Klinik fahren. Ich ... Wir ... Du machst das heute, weil du hoffst, doch noch dein GEGENÜBER zu finden. Und du willst meine Begleitung dabei. Aber das ist absurd. Ich liebe dich. Von ganzem Herzen. Ich schaff das einfach nicht. Ich kann dich nicht begleiten und zusehen, wie du vor meinen Augen diejenige Person suchst, die dich küssen soll, die dein Leben teilen soll. Und du liebst mich. Tief und innig. Ich zweifle keine Sekunde daran. Dieser ganze Morgen zeigt, wie sehr wir bereits miteinander verbunden sind. Ich begreife nur einfach nicht, wie das gehen kann. Du solltest dein GEGENÜBER lieben – und nicht mich. Aber wir hätten das doch längst merken müssen, wenn ich dein GEGENÜBER wäre. Ich bin einfach unglaublich durcheinander und ratlos."

Owei. Nicht weinen, Niklas!
Du hast ja Recht. ... Mist, ja. Du hast Recht...

Jetzt muss ich doch die Tränen unterdrücken.
„Ich bitte dich, in dich hinein zu horchen, ob du statt meiner meine Mutter mit in den Raum nehmen kannst. Sie macht das wirklich unglaublich gut. Und ich fürchte einfach, wenn ich da mit drin sitze, werde ich dir nicht helfen sondern dich eher ablenken oder verwirren. Du sollst dich aber ganz auf die Wesen konzentrieren können, die da zu dir kommen."
Paul hat längst aufgehört, an meinen Fingern zu knabbern. Er liegt ganz still da, rührt sich nicht. Ich kann auch an Ohren und Schwanz nicht ablesen, was grade in ihm vorgeht. Er ist wie eine Blackbox.

Jetzt bin ich total verwirrt.
Was mache ich denn jetzt???

Das Schweigen dehnt sich unendlich und macht mich verrückt.
Ist er eingeschlafen? Oder läuft er grade innerlich vor mir weg? Fühlt er sich jetzt verraten? Im Stich gelassen? Ach, könnte ich doch nur in seinen Kopf kucken!
Aus Sekunden werden Minuten, die Stille dehnt sich aus wie Kaugummi. Nun laufen mir doch die Tränen, und ich kann nur noch flüstern.
„Paul? Kannst ... könntest du bitte irgendwas sagen? Irgendwas? ...... Du machst mir Angst."
Ich schließe die Augen. Warte bange. Alles in mir ist zum Zerreißen gespannt.

Das ist Niklas bestimmt total schwer gefallen.
Aber ich habe doch selbst keine Ahnung, was ich DARAUF antworten soll!

Da spüre ich etwas Weiches an meiner Wange. Ein ganz zärtlicher Katzenschwanz, der mir die Tränen wegwischt. Und Paul flüstert zurück.
„Hab keine Angst. Mich verwirrt das auch. Ich habe das bisher hübsch verdrängt, aber du hast Recht mit dem, was du sagst. Irgendwie funktioniert das so nicht. Ich weiß nur noch nicht, welchen Schluss ich daraus ziehen soll."
Ich drücke ihn etwas an mich zum Zeichen, dass ich ihn verstanden habe. Er knurrt frustriert. Er rubbelt sich die Nase. Sein Schwanz geht unruhig hin und her.
„Bitte sei mir nicht böse. Kannst ... kannst du mich eine Weile alleine lassen? Ich muss nachdenken."

Es tut mir leid, Nick!
Ich liebe dich.

Bleischwer fühlen sich meine Glieder an, als ich aufstehe und alles vorbereite. Ich stelle ihm einen kleinen Timer, damit er rechtzeitig wieder die Tropfen nimmt. Ich lege ihm sein Handy hin, damit er mich anrufen kann, wenn er Hilfe braucht oder ich einfach wieder kommen soll. Ich stelle ihm Getränke in Reichweite. Dann hocke ich mich nochmal vor ihn, drücke seine Hand, versuche vergeblich, zuversichtlich auszusehen – und schleiche wie ein geprügelter Hund aus dem Raum. Ich verstehe grade nicht, was an der Entscheidung „Luisa" oder „Niklas" so kompliziert sein soll, dass er dafür Bedenkzeit braucht. Es liegt etwas in der Luft, was ich nicht greifen kann. Und was mir nur noch mehr Angst macht als vorher.

Kaum bin ich aus dem Raum, laufen mir wieder die Tränen. Ich hole mein Paulbuch aus meinem Schlafzimmer, gehe eilig nach oben und flüchte mich völlig verwirrt in die Arme meiner überraschten Mutter. Ganz nebenbei registriere ich, WIE einsam Paul jetzt grade in diesem Augenblick sein muss. Er hat keine Mutter mehr, in deren Arme er sich flüchten kann ...

Wie ein Fünfjähriger, der sich das Knie aufgeschlagen hat, heule ich mich in den Armen meiner Mutter aus und erzähle dann schluchzend von unserem Gespräch. Auch ihr spontaner Impuls ist, zu Paul zu eilen, weil „der arme Junge doch jetzt nicht alleine sein darf". Aber ich halte sie zurück, so schwer es auch fällt.
„Mama, bleib hier, er hat mich bewusst weggeschickt. Er hat gesagt, er schreibt'ne SMS, wenn ich wieder kommen soll."
Ratlos und stumm sitzen wir beieinander.

Plötzlich zuckt meine Mutter zusammen, und ich sehe sie fragend an. Sie beißt sich auf die Lippen, presst die Augen zu, atmet tief durch.
„Nicki. - Ich glaube, du musst gleich unglaublich stark sein, deshalb sage ich dir, was ich vermute. Dann trifft es dich nicht unvorbereitet. Ich glaube ... Ich vermute ... Du hast ihn gefragt 'Luisa' oder 'Niklas'. Aber die Frage, die er sich grade stellt, ist vielleicht viel grundsätzlicher. Wenn du euer Problem nämlich konsequent weiter denkst ... dann ... lautet die eigentliche Frage:'Hingehen oder nicht hingehen' ..."

Ich starre meine Mutter an, unfähig, zu denken oder zu fühlen oder auch nur zu atmen. Die Welt scheint still zu stehen. Ein einziger grausamer Gedanke jagt durch meinen Kopf und zerreißt mir das Hirn.
„Mama? Mama, bin ich Schuld, wenn er jetzt aufgibt? Hab ich ihn dazu verleitet, sich für mich und damit für den Tod zu entscheiden???"
Wieder sacke ich in mir zusammen und breche in Tränen aus. Wieder nimmt sie mich in den Arm und hält mich einfach.

Und bei ihrer Antwort ist meine Mutter dann sehr eindeutig.
„Nein, mein Sohn. Hast du nicht. Vergiss bitte nicht – jede dieser Phasen ist normal. Wir haben doch schon mit ihm darüber gesprochen. Wir haben nur gehofft, dass der Fall nicht eintreten wird. Weißt du noch, was Paul Donnerstag Abend gesagt hat? 'Das heißt, ich habe jetzt die Option, mich selbst umzubringen, indem ich vor dieser Chance zurück schrecke!' Deine Antwort war die beste Antwort, die du geben konntest:'Das stimmt so nicht. Falls du dich am Samstag dagegen entscheiden wirst, dann, weil es sich für dich richtig anfühlt. Dann bringst du dich nicht um, sondern du entscheidest dich aktiv, auf dein Gefühl zu hören und das für dich Richtige zu tun.' Es reißt dich in Stücke, ihn gehen zu lassen, mein Sohn. Aber du bringst ihn nicht damit um, dass du ihm die Wahl gelassen hast. Paul ist so klar, er lebt diesen ganzen Abschied so beeindruckend tapfer und wach und selbstbewusst. Was auch immer er da unten grade mit sich selbst ausmacht – es ist sein Weg – und nicht deine Schuld."

Mehr gibt es im Augenblick dazu nicht zu sagen. Wir sitzen schweigend beieinander. Die Sekunden dehnen sich zu Ewigkeiten, während ich mit fliegenden Fingern Zeile um Zeile in mein Tagebuch schreibe und innerlich flehe und flehe und flehe, dass Paul noch eine Chance zum Leben bekommt – egal, ob mit mir oder ohne mich.

Als mein Handy aufleuchtet, springe ich förmlich darauf und falle dabei fast vom Sofa. Die Nachricht ist kurz.
„Könntet ihr bitte alle drei zu mir kommen, falls es möglich ist?"
Ich schlucke, schiebe Mama das Handy rüber und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Meine Mutter holt meinen Vater, streicht mir noch einmal sanft über den Rücken. Und dann gehen wir schweren Herzens gemeinsam in den Keller. Zu Paul. Meinem wunderbaren Paul, der wohl nie zu mir gehören wird.

Als wir mein Wohnzimmer betreten, lächelt er dankbar, gleichzeitig ziemlich unsicher und streckt mir stumm die Arme entgegen. Während ich zu ihm eile und mich zu ihm aufs Sofa kuschele, kontrolliert mein Vater im Vorbeigehen das Medikamenten-Protokoll und nickt zufrieden. Dann setzen sich auch meine Eltern und schauen Paul erwartungsvoll an.

Ach, du Sch... Sehen DIE alle Drei fertig aus!
Ach, Niklas. Es tut mir so leid. Ich kann dir das nicht ersparen.
Und ich gäbe alles drum, dass ich es könnte!
Halt mich fest, Nick, und ich halte dich!

Paul wird ein bisschen verlegen und fängt schließlich leise zu sprechen an.
„Es ist nicht leicht, zu denken oder sogar auszusprechen, was ich euch sagen möchte."
Paul schaut mich direkt an.
„Niklas, ich liebe dich. Sehr, sehr, sehr. Du bist, zusammen mit meiner Oma und Sammy, das Beste und Wundervollste, was mir je in meinem Leben begegnet ist. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich innerlich den Schalter umlege und mal eben so jemand anderen liebe, nur weil der oder die mein GEGENÜBER ist. Wenn ich also jetzt entscheide, das ich da heute Nachmittag nicht hingehe, dann unterschreibe ich mein eigenes Todesurteil. Aber ich verbringe tatsächlich lieber die letzten 36 Stunden mit dir als mein keine Ahnung wie langes Leben mit irgendjemand. Ich habe nur furchtbare Angst um dich, weil ich befürchte, dass du nun ein schlechtes Gewissen bekommst. Und das dein Leben lang mit dir rumtragen wirst. Denn das will ich nicht."

Und bitte, fang jetzt nicht an zu weinen, Nick.
Die Entscheidung zu fällen war schon ohne den Anblick von deinem traurigen Gesicht schwer genug.

Erschüttert, dass unsere Vorahnung richtig war, erleichtert, dass Mama mich vorgewarnt hat, stolz, dass Paul für sich eine so klare Antwort finden konnte, beschämt, dass ich ihm so viel wert bin, dass er sein Leben dafür opfert – ich kann gar nicht sagen, WAS ich in diesem Moment alles fühle, während ich ihn zärtlich an mich drücke und nur ganz leise „Danke!" flüstere. Auch wenn das grade nicht die richtige Antwort zu sein scheint. Eine Weile schweigen wir gemeinsam, und nach und nach fühlt es sich immer richtiger an, diesen neu eingeschlagenen Weg nun gemeinsam zu gehen.

Womit habe ich dich verdient? Was verlange ich hier eigentlich von dir!
Und du gehst jeden Weg mit mir mit. Du bist wunderbar, Niklas!
Warum nur... Arg, egal. Ich frag jetzt einfach!

Dann wird Paul auf einmal ganz sachlich.
„Jan? Kannst du mir erklären, warum eigentlich unbedingt ein Kuss von einer ganz bestimmten Person nötig ist, um zu überleben? Was passiert da biologisch gesehen so Überlebensnotwendiges, dass wir alle uns da durchquälen müssen?"
Mein Vater sieht traurig aus, als er eine Antwort versucht. Wie oft hat er sich diese Frage gestellt, seit Nena geboren war, seit nach und nach klar wurde, dass sich auch für sie die Frage nach dem GEGENÜBER stellen würde, weil sie so sehr Katze und so wenig Mensch war. Je älter sie wurde, desto verzweifelter hat er nach einer Antwort gesucht. Vergeblich. Oder zumindest – für Nena nicht schnell genug.

„Ich habe mich jahrelang mit dieser Frage rumgequält, aber bisher habe ich nur Vermutungen. Die selben Vermutungen haben unabhängig voneinander noch weitere Ärzte weltweit geäußert. Aber es sind viel zu viele Fragen offen, viel zu viele Wenn's in der Gedankenkette, um diese Theorie einer breiten Öffentlichkeit zur Diskussion stellen zu können. Wir haben es uns im Netzwerk zur Auflage gemacht, dass wir keine entwürdigenden oder gefährlichen Experimente machen. Das hat aber zur Folge, dass ich keinerlei Blutwerte oder Hirnaktivitäten-Aufzeichnungen oder ganz schräge Ergebnisse habe. Es ist stochern im Nebel, wenn ich dir jetzt antworte, sei dir dessen bitte bewusst."
Paul nickt einfach.

„Gut. Meine Vermutung geht dahin, dass irgendwelche Hormone im Spiel sind. Bei Menschen ist es ja so, dass bestimmte körperliche Zustände, Gefühlslagen, Ernährung und andere Faktoren zur Folge haben, dass unser Körper irgendein Hormon ausschüttet, was wiederum etwas anderes bewirkt, weshalb dann ... u.s.w. Auch Hybriden haben natürlich so einen fein austarierten Hormonhaushalt. Es könnte also sein, dass die Vitalfunktionen daran gekoppelt sind, dass bei dem Kuss zahlreiche Hormone ausgeschüttet werden, darunter Serotonin, Dopamin, Oxytocin, Adrenalin und die Glückshormone Endorphine. Das Stresshormon Cortisol dagegen wird ausgeschaltet. Und dieser Hormonstatus ist dann irgendwie nötig, damit der erwachsene Hybrid leben kann. Das klingt so ins Blaue formuliert ziemlich plausibel."
Papa sieht in diesem Moment unendlich müde aus.

"Aber es bleiben tausend Fragen offen. Woher weiß dein Körper, dass es DER EINE ist, der dich grade geküsst hat? Woher weiß dein Körper, dass übermorgen dein Geburtstag ist? Wieso muss dieses Ereignis genau bis zu diesem Tag geschehen sein? Biologisches Erwachsenwerden ist doch bei keinen zwei Lebewesen gleich. Also ist dieser Stichtag völlig kontraproduktiv. Warum passiert das nur bei Hybriden ab einem bestimmten Grad? Warum nicht beim Menschen? Und auch nicht bei reinen Tieren! Warum reicht es nicht, wenn irgendjemand, den du magst, dich küsst? Warum muss das ein ganz Bestimmter sein, in den du dich dann auch noch unter Garantie verlieben wirst, wie auch immer das funktionieren soll. Ist es Zufall, ob es überhaupt ein passendes GEGENÜBER für dich gibt, oder kann die Natur – wie auch immer – dafür sorgen, dass jedem Wesen auch sein GEGENÜBER geboren wird? Und erreichbar ist! Und woher kommen diese grausamen Gerüchte, dass ein Kuss von der falschen Person einen baldigen schmerzhaften Tod herbei führt? Und dass man die zueinander passenden GEGENÜBER nichtmal darauf aufmerksam machen darf? Dass sie das selbst merken MÜSSEN? Das macht die ganze Suche unglaublich schwierig und mit Angst beladen. So sollte 'sich verlieben' eigentlich wirklich nicht sein!"
Mir wird ganz schwindlig bei der Aufzählung. Das ist so gnadenlos.

Wie furchtbar muss es für Jan gewesen sein, seiner eigenen Tochter nicht helfen zu können?
Zwanzig Jahre Forschung – und relevante Antworten gleich – null.

Ohne jeden Sarkasmus macht Paul die einzig richtige Bemerkung dazu.
„Kurzfassung: keine Ahnung! Danke, Jan, dass du es versucht hast. Bitte lass nicht locker, bis an dein Lebensende, damit eines Tages dieser entsetzliche Druck von allen betroffenen Wesen genommen werden kann."

Wieder schweigen wir gemeinsam, und irgendwann schläft Paul in meinen Armen ein. Ich streiche sanft über seinen Rücken und staune mal wieder, wie klar und ruhig Paul ist, wie selbstverständlich er sein Schicksal annimmt und, so gut es geht, bewusst selbst steuert. Ich kann sein liebevolles Kompliment nur zurück geben: außer meinen Eltern und meiner wunderbaren kleinen Schwester Nena ist Paul das Beste, das MIR jemals begegnet ist.

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17.7.2019    -    27.9.2019

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