17 - Fotoalbum und Schuhkarton

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Meine Eltern haben mich einmal kurz gedrückt, bevor sie gegangen sind. Meine Mutter hat mir noch was zugeflüstert.
"Es fühlt sich an, als ob wir vier eine Familie sind. Es ist schön, dass er bei uns ist."
Dann bin ich wieder mit meinem Nicht-Freund allein. Ich weiß, dass sie nun die Absagen für heute Nachmittag regeln wird. Aber zumindest im Augenblick fühlt es sich nicht bitter an, das zu denken. Eher wehmütig. Sehnsüchtig.
Wenn ich dich doch nur retten könnte!

Paul scheint eine innere Uhr zu haben, die sich sofort auf den Medikamentenrhythmus eingestellt hat. Pünktlich zur nächsten Dosis wird er wieder wach und hat nun auch Hunger. Ich piepe meine Mutter an, ob sie „zuuuuufällig" was gekocht hat. Sie lacht und bringt uns eine leichte Suppe und frisches Brot runter. Paul hält sich ganz wacker. Das Kopfschmerzmittel schlägt gut an, ohne ihn noch müder oder gar duselig zu machen. Er probiert die Suppe und strahlt meine Mutter an.
„Danke, Luisa. Du kannst toll kochen. Das schmeckt alles so gut!"
Mama wuschelt ihm kurz durch die Haare, bedankt sich für das nette Kompliment und geht wieder hoch.

Wir essen still und gemütlich vor uns hin. Mir schießt durch den Kopf, dass es eigentlich schön ist, dass wir diese Stunden nun ganz für uns und unsere Zweisamkeit haben.
Der Abschiedsschmerz und die Ängste werden uns schon früh genug wieder einholen. Aber im Moment beschenken wir uns einfach gegenseitig.
Wieder klappt Paul die Augen zu, lässt sich schnurrend von mir kraulen und schläft dabei ein.

Ganz unabhängig von dem Medikament nimmt tatsächlich sein Schlafbedürfnis immer weiter zu, aber auch diesmal wird er von alleine rechtzeitig wach.
„Es ist schon erstaunlich, dass du für sowas Ekliges wie diese Tropfen freiwillig immer wieder wach wirst. Jedes normale Wesen würde erstrecht drüber wegschlafen, um das nicht nehmen zu müssen."
Er plustert die Backen auf und schaut mich empört an.
„Heißt das, dass ich nicht normal bin???"
Ich muss kichern.
„Ach, Paul. Das heißt, dass du für mich – und übrigens auch für meine Eltern! - etwas ganz Besonderes und einfach einzigartig bist! Als du vorhin nach unserem gemeinsamen Gespräch eingeschlafen bist, hat meine Mutter gesagt:'Es fühlt sich an, als ob wir vier eine Familie sind.' Du hast uns alle im Handumdrehen verzaubert."

IHR seid in mein Leben gezaubert worden!
Ihr seid viel zu gut für mich.

Paul wird ein bisschen rot und vergräbt sein Gesicht in den Kissen. Aber ich nehme ihm die Kissen ganz schnell wieder weg.
„Und das muss dir nicht peinlich sein. Wir haben dich einfach alle sehr lieb. Du passt zu uns!"
Schnell und mit einem zufrieden-verschmitzten Grinsen schnappt sich Paul das nächste Kissen und versteckt sich dahinter.

Sowas von peinlich!
Aber ich wehre mich nicht.

Als ich ihm auch das weggenommen habe, ist sein Grinsen breiter geworden.
„Das ist mir nicht ... peinlich. Das ist das falsche Wort. Aber ich habe in der letzten Woche mit dem Modell „Familie" ziemlich gründlich abgeschlossen. Und es fühlt sich wunderbar an, jetzt doch eine Familie zu haben, die das alles gemeinsam mit mir durchsteht und mich so sehr unterstützt."
Das dritte Kissen wandert auf sein Gesicht.

Sch...  Nicht SCHON wieder ...
Ich werd hier noch zum Springbrunnen.

Da höre ich auf einmal ein ersticktes Weinen. Ich fahre einfach leise mit meinen Händen unter das Kissen und streichele ihn so.
„Paul? ...Was ist? Teil es mit mir."
Langsam lässt er das Kissen sinken. Seine Augen brennen förmlich vor Trauer.
"Ich hab mich so verraten gefühlt. Es war einfach furchtbar, ganz allein in diesem leeren Haus zu sein, als ich doch Trost und Halt gebraucht hätte. Meine Mutter hatte mir übrigens einen Brief auf den Esstisch gelegt. Den habe ich aber nicht angerührt, weil das so weh getan hat. Und den haben wir gestern wohl irgendwie übersehen."
Ich halte den Atem an.
Mama hat den Brief ja mitgebracht ...

„Aber ich will den sowieso nicht lesen. Keine Ahnung! Es spielt keine Rolle mehr, ob das schlechte Gewissen sie getrieben hat, ob sie alles auf meinen Vater geschoben hat, ob sie mich einfach um Vergebung bitten wollte, ob sie mir viel Glück bei der Suche gewünscht hat oder ob es noch einen anderen selbstsüchtigen Grund geben könnte, sich so zu verhalten – es reicht doch alles nicht ran an das, was ich seitdem erlebt, gefühlt, verstanden und entschieden habe. Nach dieser feigen Flucht kann nichts mehr meiner Wirklichkeit gerecht werden. Ihr seid meine Versöhnung mit der Wirklichkeit. Ihr seid mein Halt! Wenn ich bedenke, dass in unserer eigenen Stadt die Weltkorryphäe für Hybridenmedizin in einer vollständigen Klinik mit Hospiz und Sterbebegleitung sitzt und sie haben mich nicht dorthin gebracht – dann kann das doch nur heißen, dass sie nicht mal versucht haben, mir ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. Wie können die das NICHT gewusst haben??? Sie sind ..."
Paul fängt an zu schluchzen.
„Sie sind ... einfach feige davon gerannt! Niklas, sie sind in URLAUB gefahren!!!"

Wenn ich wenigstens wütend sein könnte.
Aber es tut einfach nur weh.

Übergroß ist der Schmerz des verletzten, im Stich gelassenen Kindes. Ich bin wahrlich kein großer Sänger vor dem Herrn. Aber nun folge ich meinem Impuls, wiege Paul in meinen Armen und singe ihm tröstende Kinderlieder, wie ich es bei meiner Schwester all die Jahre so oft getan habe, wenn sich sich weh getan oder vor etwas Angst hatte. Die Lieder tauchen ganz automatisch aus meinem Gedächtnis auf und entfalten auch bei Paul ihre beruhigende Wirkung. Schließlich gibt er sich einen Ruck.

Raus aus dem Jammertal!

„Könnten wir ... können wir versuchen, irgendwas Schönes zu machen?"
Mein Blick fällt auf den Schuhkarton.
„Magst du mir deine Schätze zeigen? Da sind wir gestern Abend nicht mehr dazu gekommen."
Seine Augen leuchten auf – ich scheine die richtige Idee gehabt zu haben. Paul richtet sich auf, wischt sich mit dem Ärmel über die Augen, greift sich den Karton und fährt fast zärtlich mit einer Hand über den verstaubten Deckel.
„Seltsam, dass diese geheimnisvollen, verbeulten Schachteln uns als Kindern die ganze Welt bedeuten. Und dann kommt klammheimlich der Tag, an dem wir sie vergessen. Ich weiß nicht mal mehr genau, was da alles drin ist."
Bevor ich ihn daran hindern kann, pustet er eine große Staubwolke in mein sauberes Wohnzimmer. Und kichert vergnügt, als ich empört aufschreie. Dann hebt er langsam den Deckel an.

Es wird ein Nachmittag voller Gelächter und Tränen. Freude und Schmerz liegen ganz dicht beieinander, als wir uns gemeinsam durch seinen Schuhkarton wühlen und über manchen Fund wirklich staunen. Ein verrostetes Taschenmesser erblickt noch einmal das Tageslicht. Eine Muschel vom Urlaub am Strand, ein gestreifter Kieselstein vom Fußweg hinterm Garten. So eine aufgerollte Papiertröte, wie sie immer bei Faschingspartys benutzt wird, um den Eltern den letzten Nerv zu rauben. Einen anderen Sinn können die Teile eigentlich nicht haben. Mit fällt jedenfalls keiner ein, denn der Lärm, den das Ding veranstaltet, zerschießt mir sofort die Ohren, als Paul herzhaft reinpustet. Zum Glück ist das Papier so morsch, dass es schnell reißt und meine Ohren wieder erlöst werden.

Ein Bild, das ihm Sammy gemalt hat, schaut er besonders lange an.

Das war an dem Tag, als dieser Vollhorst Sammy an den Ohren über den halben Schulhof geschleift hat.
Boah war ich sauer! Katzenbisse tun so richtig schön lange weh ...

Darauf sind zwei Strichmännchen, die gemeinsam einen Regenbogen runterrutschen. Das eine hat einen langen Schwanz, das andere hat Hasenohren. Sie halten sich an den Händen, und darüber ist ein krakeliges kleines Herz gemalt.
Nein, Niklas, du denkst jetzt nicht über die Symbolik des Regenbogens nach. Lass es einfach!

Es folgen ein paar Papierblätter mit gepressten Blumen, die er bei einem Besuch dort zusammen mit seiner Oma gesammelt und zwischen Zeitungen unter einem hohen Stapel Bücher gepresst hat. Er erzählt mir, wie ungeduldig er immer wieder gefragt hat, ob er nicht endlich diesen Bücherstapel wieder abbauen darf. Und wie schwierig es war, diese filigranen Gebilde dann aufzukleben, ohne dass etwas abbricht. Berührend ist die kindliche Handschrift, mit der er damals die Namen der Pflanzen daneben geschrieben hat.
„Ich hab mir bald die Finger abgebrochen beim Kleben."

Da liegt eine Postkarte, die ihm sein Vater von einer Dienstreise geschickt hat, direkt neben einem inzwischen völlig verklebten Luftballon von einem seiner Kindergeburtstage. Er hat eine ganze Sammlung von Vogelfedern angelegt. Und zu seinem eigenen Erstaunen kann er zu fast allen noch heute den Namen des Vogels sagen. Besonders schön sind die blau-weiß-schwarzen kleinen Federn vom Flügel des Eichelhähers.
„Schau mal hier, die kurze Pfauenfeder. Die hab ich mal in einem Zoo gekauft, wo immer ein paar Pfauen rumliefen. Ich fand das Glitzern so toll."

Wir finden seinen Schwimmpass, seinen ersten Schülerausweis, seine Bibliothekskarte.
„Ach, HIER ist die gelandet! Mann, das hat vielleicht ein Theater gegeben, als die verschwunden war. Meine Eltern mussten nämlich Strafe für den Verlust bezahlen."
Auf dem Boden der Kiste haben sich Kleinigkeiten angesammelt. Da liegen unter anderem ein paar ausländische Münzen von Familienurlauben.
„Lass mal sehen, ob ich rausfinde, wo ihr alles gewesen seid!"
Ich mustere die Münzen genau, versuche, die Schriften zu entziffern, und habe doch eine ziemlich hohe Trefferquote.

Uuuups! Oh neee.
Schnell weg damit!

Einen zusammengefalteten Zettel versucht er ganz schnell, vor mir zu verstecken, aber das macht mich natürlich erstrecht neugierig. Ich hypnotisiere ihn auffordernd mit provokant gerunzelter Stirn. Nachdem er einen inneren Kampf mit sich selbst ausgefochten hat, rückt er den Zettel raus. Es ist ein Liebesbriefchen von einer Mitschülerin aus der Grundschule.
„Ich war nicht in die verknallt. Aber es war cool, angehimmelt zu werden. Ein paar Tage später hat sich allerdings rausgestellt, dass sie solche Briefchen an fünf Jungs aus der Klasse gleichzeitig geschrieben hat. Keine Ahnung, warum ich den nicht weggeworfen habe."
Ich grinse ihn an.
„Soso. Du magst es also, angehimmelt zu werden."

Ich gehe auf die Knie vor ihm und flöte mit meinem romantischsten Augenaufschlag die kitschigste Liebeserklärung aller Zeiten.
"Herzallerliebster Paule mein. Du bist so süß und niedlich und entzückend und überhaupt. Darf ich dir zu Füßen liegen und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen? Darf ich dir nachts im Vollmond Lieder singen und dich mit Rosenblättern überschütten?"
Weiter komme ich nicht, weil wir beide Tränen lachen und uns die Bäuche halten. Dann verstummt er ganz kurz und haut schließlich seine Antwort raus.
„Und überhaupt."
Er zwinkert mir zu.
"Klar, kein Problem. Kannst sofort anfangen. Sonst schaffst du das nicht alles bis Morgen Nacht. Naja. Das mit dem Vollmond könnte schwierig werden bis dahin. Wenns nicht grade regnet oder schneit wie Sau, dann ist glaube ich grade abnehmender Mond ..."

Es wird ganz still im Raum. Wir sehen uns in die Augen, und unsere Blicke verhaken sich förmlich ineinander. Ich kann nur noch flüstern.
„Wenn ich könnte, würde ich dir sogar Vollmond beschaffen. Nur, um dich glücklich zu machen."
Sein Gesicht wird weich, als er zurückflüstert.
„Du machst mich doch schon glücklich. Unendlich glücklich – einfach, weil ich bei dir sein darf. Weil sich mit dir lachen und weinen und erzählen und schweigen und kuscheln und nachdenken genau richtig anfühlen. Du BIST mein Glück!"
Die Zeit steht still.

Nach dem Schuhkarton haben wir uns auch noch die zwei Fotoalben vorgeknöpft. Auch hier erzählt jede Seite, jedes Foto eine Geschichte. Und Paul ist ein wunderbarer, humorvoller Geschichtenerzähler, der sich laufend selbst beschenkt mit fröhlichen, frechen, zarten Erinnerungen an eine glückliche Kindheit, als die Sorge noch ganz weit weg war.

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18.7.2019    -    11.9.2019    -    27.9.2019

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