12. Kapitel - Cora

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Es war fast Zwölf, als ich aus dem Schlaf gerissen wurde. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass ich nicht einmal eine Stunde geschlafen haben musste. Doch anstatt mich darüber aufzuregen, warf ich die Decke von mir und schlurfte zur Tür. Hoffentlich hielt man mich äußerlich nicht für einen Zombie – auch wenn ich mich wie einer fühlte.

Wer kam überhaupt noch um diese Uhrzeit auf den Gedanken, hier her zu kommen? War es wieder Darius? Oder Carlos? Wollten sie sich wieder vergewissern, dass das verletzte Schäfchen ihrer Herde es über die Runden schaffte? Ich wusste nicht, wie ich mich diesbezüglich fühlen sollte, aber wenn sie um diese Uhrzeit hier aufliefen, dann reichte es auch meiner Wenigkeit langsam aber sicher. Ganz gleich, wie nett sie waren, es gab Grenzen.

Schließlich war ich bei der Haustür angekommen und riss sie förmlich auf. Bereit, mich Carlos zu stellen, den ich am ehesten erwartet hatte, hielt mich glücklicherweise jedoch zurück. Überrascht zog ich die Luft ein und wagte es kaum zu Sprechen oder gar zu Atmen.

„Kann – kann ich reinkommen?", fragte er lediglich, hob weder seinen Blick, noch machte er irgendeine Anstalt für eine Erklärung. Tatsächlich benötigte ich diese nicht, ließ ihn eintreten und beäugte ihn dabei genaustens. Was war los? Wieso schlug er Nachts an meiner Türschwelle auf? Es war stockdunkel, weil unser Licht vorne bei der Einfahrt vor ein paar Monaten durchgebrannt war, weshalb ich ihn überhaupt nur schemenhaft im dunklen Flur neben mir erkennen konnte.

„Möchtest du was trinken?" Ich wollte ihn nicht bedrängen, also arbeitete ich mich langsam und stetig an die Sache heran. Wobei mir erst jetzt auffiel, dass er sich seinen Kopf hielt und zu Weinen schien.

Panisch preschte ich zu ihm herüber, um ihn zu stützen. Allerdings gingen wir bei diesem Versuch zu Boden, weil ich ihn natürlich kaum Halt geben konnte bei unserem Größenunterschied.

Nein, er weinte gar nicht.

„Komm mit zum Tisch, ja?", bat ich ihn mit möglichst fester Stimme und richtete mich mit ihm gemeinsam auf, damit ich ihn zum Esszimmertisch in einem Teil des Wohnzimmers navigieren konnte. „Warte kurz."

Es waren keine Tränen, sondern Blut.

Rasch waren die nötigsten Vorkehrungen getroffen und ich versorgte die Platzwunde an seinem Hinterkopf und an seiner Stirn, um die Blutung zu stoppen. Anbei reichte ich ihm ein nasses Handtuch, damit er seine Hände und sein Gesicht reinigen konnte.

„Was ist passiert?" Nachdem ich die Wunden desinfiziert hatte, verband ich sie so gut es eben ging. Wieso war er verletzt? Und noch viel wichtiger war, weshalb kam er zu mir? Weil ich die Tochter eines Arztes war und ihm am Besten helfen konnte von all seinen Bekanntschaften?
Kurz wurde ich etwas zornig, besann mich dann jedoch eines Besseren und wartete auf seine Erklärung, bevor ich voreilige Schlüsse ziehen und ihn verurteilen würde.

„Es gab ein kleines Problem zu Hause", begann er zögerlich, „und es ist ziemlich ausgeartet, würde ich sagen." Das sah ich.

„War das dein Vater?" Hatte der Gamma ihn geschlagen und so zugerichtet? Warum tat er seinem Sohn so etwas an? Wieso wurde er handgreiflich? Und was war der Grund dafür? Es gab keinen nennenswerten Grund, der es ihm bescheinigen oder erlauben würde, Jonas zu verprügeln. Aber was hatte ihn so erzürnt, dass er so weit ging? Zutrauen würde ich ihm ja alles.

„Nein." Er wusste, dass ich mich mit solch einer Antwort niemals zufrieden geben würde und dennoch schwieg er. Verraten würde er es mir dann wohl nicht, wie ich annahm?

„Ich hole etwas zum Kühlen", erklärte ich in die entstandene Stille und wandte mich von ihm ab. „Warte eben." Damit begab ich mich zum Eisfach, um nach einem Kühlpack zu suchen. Dieses fand ich schneller als erhofft, da die Fächer erstaunlich leer waren. Vermutlich war das bei meinem geringen Ausgang die letzten Tage kein Wunder. Wenn man sich gefühlt nur von Tiefkühlkost ernährte, blieb der Nachschub irgendwann aus und ich müsste früher oder später wohl doch wieder einkaufen gehen. Aber ich hasste einkaufen.

Kopfschüttelnd schloss ich die Tür und lief zurück zum schweigenden Blondhaarigen, der seinen Kopf auf seine Arme stützte und die Augen fest zusammenpresste, als würden ihm die Verletzungen immer noch große Schmerzen bereiten.

Ich hoffte nur, dass es seinen Kopf nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen hatte, egal, was er Auslöser war. Eine Gehirnerschütterung oder Schlimmeres konnte ich nicht mit Desinfektionsmittel und Verbänden oder Pflastern abwenden.

„Möchtest du Schmerzmittel haben?" Vielleicht würden sie helfen. Wir hatten immer welche Daheim für den Notfall.

„Geht schon", meinte er nur und sah mir endlich und zum ersten Mal heute ins Gesicht. „Es tut mir Leid, dass ich dir so spät noch Probleme bereite, aber", er brach ab und schluckte, ehe er nach einem langgezogenen Seufzen weitersprach, „aber ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte." Wie es aussah, konnte er zu Hause wohl nicht mehr bleiben. Es war offensichtlich gefährlich.

Belog er mich, um Isaac in Schutz zu nehmen? Und wenn nicht, wer hatte ihn so zugerichtet?

„Passt schon." Es stimmte, mir bereitete es vermutlich am wenigsten Probleme. Aus dem einfachen Grund, dass ich alleine wohnte, Morgen nirgendwo hin ging und der Schlaf sowieso immerzu fern blieb. Es war nicht so, als würde er stören. Rein theoretisch konnte man mich nicht stören – außer Carlos vielleicht oder der Gedanke daran, dass ich das Haus zum Lebensmitteleinkauf verlassen müsste.

Das gedimmte Licht der Hängelampe über dem Esstisch wurde schwächer, als ich den Schalter drehte, bis es schließlich einfach erlosch.

„Ist bestimmt angenehmer, wenn wir uns nicht davon blenden lassen müssen." Er sah so angestrengt aus, wenn er ins Licht sah und mir verschlafenem Zombie tat das ebenfalls nicht gut. Es war sowieso besser, so musste er mich nicht ansehen.

„Kann ich noch auf das Angebot mit dem Schmerzmittel zurückkommen?" Es war also doch schlimmer, was? Natürlich bejahte ich leise und reichte ihm ein Glas mit Leitungswasser und die kleine weiße Pille, die ihm in absehbarer Zeit hoffentlich Einiges an Schmerzen abnehmen würde. „Danke."

„Kein Problem." Wenn mir Mal eine Tablette die Schmerzen nehmen könnte, wäre ich wirklich genauso dankbar darüber. Allerdings gab es keine Mittel gegen Einsamkeit, Selbsthass oder dem beschissenen Gefühl von niemals endender Trauer. Hörte ich mir eigentlich selbst noch zu? Es klang so egoistisch und überzogen. Vielleicht war es das auch, aber so fühlte ich mich nun Mal.

„Wie geht es dir?"

„Fragt der Richtige", konterte ich kalt, bevor ich mich auf ein Gespräch dieser Art mit ihm einließ. „Den Umständen entsprechend."

„Willst du wirklich wissen, was passiert ist?" Plötzlich war er ernst, hatte kein Lächeln mehr aufgesetzt oder verzog sein Gesicht vor Schmerzen. Jegliche Emotionen waren aus seinen Zügen gewichen, als wären sie nie dort zu finden gewesen.

„Wieso fragst du? Ich hätte wohl nicht danach gefragt, wenn es mich nicht interessieren würde." Wobei es mir ein klein wenig vor der Antwort graute. Entweder war es ihm sichtlich unangenehm darüber zu sprechen oder es würde mich wirklich verstören. Ich wusste nicht, welche der beiden Optionen mir lieber wäre, aber als er erneut seufzte, vermutete ich sogar, dass Beides zutraf.

„War es Isaac? Du kannst ehrlich zu mir sein." Ich war mir darüber im Klaren, dass er seinen Vater verachtete und er wusste, dass mir seine Aktionen und Worte genauso zuwider waren. Hatte er irgendwelche Sorgen oder Ängste, die ihn am Sprechen hinderten? Würde ihm Ärger blühen, wenn er mit mir darüber sprach?

„Nein, mein Vater war es wirklich nicht", verneinte er ein weiteres Mal. „Er ist zwar der größte Arsch unseres Rudels, aber er ist noch nie handgreiflich geworden. Weder mir, noch Eve oder unserer Mutter gegenüber."

Darüber war ich - zugegebenermaßen – sehr überrascht, denn ich hätte es ihm tatsächlich zugetraut. Aber ein wenig verbesserte dies meinen Blick auf den Gamma des Rudels. Jonas hatte Recht, er war ein Arschloch, keine Frage, aber ich war froh, dass sich meine Vorurteile ihm gegenüber zumindest nicht alle bewahrheitet hatten. Immerhin war er kein Vater, der seine Kinder schlug. Es hätte vermutlich alle seine bisherigen Untaten redlich gesprengt.

„Versprich bitte, es Niemanden zu erzählen." Auf einmal erschien er so verschlossen, wie ein mehrfach und Bestens gesichertes Hochsicherheitsgefängnis. Es war erschreckend, wie hoch seine Mauern errichtet worden waren.

„Ich verspreche es."

„Das war meine Mutter." Und seine meterhohen Wände stürzten ein. „Sie hatte wieder eine von ihren Phasen."

„W-Wie?" Fassungslos umfasste ich meine inzwischen angewinkelten Beine mit beiden Armen. „Das passiert häufiger?" Mit weit aufgerissenen Augen wartete ich darauf, dass er weitersprechen würde, doch bis auf ein Nicken blieb er vorerst andächtig still.

„Das ist schwierig zu erklären, aber es geht ihr nicht so gut." Das klang tatsächlich schwierig, wenn er keine vernünftigen Worte dafür wählte – vielleicht fehlten sie ihm genauso wie mir selbst im Augenblick.

„Ist sie krank?"

„Ja. An manchen Tagen ist es nur schlimmer als an Anderen. Heute war wieder einer davon." Davon wäre ich jetzt auch selbst ausgegangen. Ich hoffte doch sehr, dass sie ihn nicht ständig so zurichtete. „Es hatte sich schon angebahnt, ich hätte damit rechnen müssen."

Mein geschockter Blick, den ich auf den Boden richtete, war ihm wohl Anlass genug, seine Erzählung fortzusetzen.

„Sie hatte sich mit meinem Vater in den Haaren – ich weiß nicht mal, was vorgefallen ist oder weshalb sie so wütend war. Aber in ihrer Wut schien sie mich entweder vollkommen ausgeblendet oder für ihn gehalten zu haben. Ich habe nur die Haustür aufgeschlossen und in die Küche geschaut, als ich Geräusche gehört habe. Es sind beim Abwasch ein paar Teller geflogen und ja, das Ergebnis hast du gesehen."

„Aber wieso?"

„Weil sie ihre Medikamente nicht genommen hat, schätze ich. Passiert nicht das erste Mal, würde mich nicht wundern, wenn es daran liegen würde." Das klang gefährlich. Seine Mutter war eine Gefahr für ihn und die Menschen in ihrem Umfeld. „Aber sie war nicht immer so, sie kann auch unglaublich lieb sein. Du glaubst nicht, wie oft sie sich schon gegen ihn gestellt und uns beschützt hat."

Er redete augenscheinlich von Isaac – und er klang so dankbar und berührt, dass ich meine nächsten Worte nur schwer hervorbrachte: „Vielleicht ist es besser, wenn ihr sie zu einem Arzt bringt?" Er sagte eben zwar uns, aber ich wusste, dass Eve es nicht annähernd so schlimm ergehen musste, wie ihm, wenn es um ihren Vater ging. Allerdings konnte der Zustand seiner Mutter kein Regelfall sein oder werden, es war nicht richtig, wenn sie Menschen verletzte. Auch wenn dies nicht absichtlich oder bewusst geschah.

„Sie ist erst seit zwei Wochen aus der Therapie zurück – kaum vorstellbar, was sie mit ihr anstellen, wenn wir sie direkt wieder hinschicken müssten. Das können wir ihr nicht antun – oder ich zumindest nicht." Kurz schnaufte er. „Deshalb sagte ich ja, dass es kompliziert ist."
Das war es offensichtlich. Ich konnte und wollte keine Widerworte geben.

„Ich weiß nicht mal, warum ich das jetzt überhaupt erzählt habe", er hielt inne, sichtlich schockiert über seine Offenheit, „tut mir Leid, dass ich dich damit rein gezogen habe."

„Muss es nicht." Wenn er nicht hergekommen wäre, dann hätte ich seine Wunden nicht versorgen können. Und wenn er keinerlei anderen Ort hatte an dem er Willkommen wäre, dann war es ein gutes Gefühl, ihm helfen zu können. Gerade, weil ich mir selbst nicht helfen konnte.

„Meine Mum ist die Beste – also, wenn sie nicht gerade drauf ist, wie heute, meine ich." Er schien sich zu rechtfertigen, obwohl dies gar nicht von Nöten gewesen wäre. Es war seine Entscheidung, wie er seine Mutter sah und ich glaubte ihm, dass er ihr dankbar war.

Man sah es ihm nicht nur an, sondern konnte es an seiner Wortwahl und seiner Stimme vernehmen. Als würde es in jedem seiner Atemzüge mitschwingen, wenn er von ihr sprach. „Sie hat sich schon so oft zwischen mich und meinen Vater gestellt, wenn er wütend auf mich war. Wahrscheinlich kannst du es dir vorstellen, wie scheiße es wohl ist, wenn mein Vater wütend ist – aber verdoppele diese Vorstellung nochmal, dann kommen wir vermutlich fast dran. Er war schon wegen solch vieler und auch unnötiger Dinge sauer."

Es klang ein wenig danach, als wäre der Gamma immerzu aggressiv. Allerdings hatte Jonas mir beteuert, dass er niemals handgreiflich geworden war und dies glaubte ich ihm. Nicht nur, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, denn er hatte keinerlei Grund mich anzulügen. Nachdem er mir die Angelegenheit bezüglich seiner Mutter anvertraut hatte, war sein Vater wohl eher eine offensichtliche Nebensache, wie es schien.

„Zum Beispiel, als ich das erste Mal sitzen geblieben war. Oder beim zweiten Mal." Er lachte bitter. „Als Eve so wegen", er brach ab, offensichtlich wollte er den Namen der Person nicht aussprechen, die die Lücke in seinem Satz gefüllt hätte, „Jemandem so abgegangen ist. Sie hat einen Korb bekommen und war super schlecht drauf – meinen Vater hat das mehr gestört, als man denken mag. Obwohl es nicht Mal seine Angelegenheit war." Einen Korb zu bekommen war nie schön. Egal, ob als Mädchen oder als Junge, eine unerwiderte Liebe war eines der schlimmsten Dinge denen man im Laufe des Lebens entgegensehen musste.

„Oh, hätte ich beinahe vergessen. Ich habe zwei Mal sein Auto geschrottet, zwar nur leicht, aber er liebt seinen blöden Wagen vermutlich mehr als seine eigenen Kinder. Einmal leicht angetrunken gegen einen Baum und einmal habe ich eine Laterne in der Spielstraße von einem Kumpel mitgenommen. Bei Letzterem hatte ich aber Nichts intus, das war einfach nur ein blöder Unfall, weil ich einer Katze ausweichen wollte. Scheiß auf den Wagen, aber ich wollte Blacky nicht über den Haufen fahren."

„Blacky?", fragte ich möglichst beiläufig, um ihn in seinem Redeschwall nicht auszubremsen. Unser Gespräch driftete in eine lustige und unterhaltsame Richtung und diese wollte ich nicht verlieren. Es klang albern, aber ich hatte Angst davor, dass er womöglich gehen würde.

„Das ist der Name von der Katze", teilte er mir lächelnd mit. „Ein echt unkreativer Name für eine schwarze Katze, aber ein kleines Mädchen aus der Straße hat ihn ihr gegeben. Sie ist sieben und hat gerade die Farben im Englisch-Unterricht gelernt – deshalb auch der passende Name für das Kätzchen."

„Süß", grinste ich. „Als ich klein war, war ich unkreativer. Ich habe meinen Teddy Bruno genannt." Er wusste, wie ordinär dieser Name für Bären war und deshalb musste er sich ein Lachen verkneifen.

„Zu dieser Art von Mädchen gehörst du also", spaßte er, „unkreativ, hm?"

„Wie man es nimmt", lenkte ich mit erhobenem Finger ein. „Mit Stofftieren hatte ich es nie, aber dafür habe ich in der Grundschule einen Kunstwettbewerb gewonnen."

„Was hast du eingereicht? Einen Haufen Ton, der ein Tier darstellen sollte?"

„Sehr witzig", lachte ich gekünstelt, „es war ein Bild mit einer Blumenvase drauf. Das hängt sogar im Haus."

„Hast du den ersten Platz gemacht?" Neugierig rekelte er den Hals, um in der schummrigen Dunkelheit vielleicht die Umrisse eines Bilderrahmens ausfindig zu machen und einen Blick zu erhaschen.

„Nein, den Dritten, aber meinen Vater hat das gefreut." Und das tat jetzt weh, wenn ich darauf zu sprechen kam. Autsch.

„Du musst mir das Bild irgendwann Mal zeigen. Wo hängt das?"

„Sag ich dir doch nicht, nachdem du dich über mich lustig gemacht hast", brummte ich gespielt beleidigt und erhob mich auf die Beine. „Willst du heute hier übernachten?"

„Wenn es für dich okay wäre." Er druckste herum und verlor augenscheinlich sein Selbstbewusstsein. Mal ehrlich, bei dem Typen wusste man ja nie woran man war.

Natürlich stimmte er meinem Angebot zu, nachdem ich ihm ausdrücklich erklärt hatte, dass es für mich in Ordnung war. Sonst hätte ich wohl nicht gefragt, oder?

„Ich sollte dann Mal schlafen, wenn ich morgen zur Schule muss, was?" Nachdem ich eine Matte, Decke und ein Kopfkissen beschafft und im Wohnzimmer aufgebaut hatte, stand er nur neben mir und kratzte sich im Nacken.

„Du willst morgen wirklich zur Schule gehen?" Ein wenig fassungslos war ich darüber. „Meinst du echt, dass geht mit deinen Verletzungen?"

„Wird schon. Bis jetzt ist es immer relativ schnell verheilt, weil wir ja Werwölfe sind. Außerdem kann ich es mir leider nicht wirklich erlauben, in der Schule zu fehlen. Könnte Probleme verursachen, wenn sie glauben, dass ich wieder das Schwänzen anfange. Und die Abschlussprüfungen stehen bald an."

„So so", murmelte ich provokativ und hob eine Augenbraue an. Er seufzte ergeben.

„Ich schwänze seit diesem Jahr kaum mehr, hab mich da wirklich gebessert, aber sie sind noch nachtragend von den vielen Jahren davor." Vermutlich hat er sich zu der Zeit viel zu viele Freiheiten genommen und sich selbst krank geschrieben, weshalb sie ihm jetzt kein Stück mehr über den Weg trauten. War überhaupt nicht unlogisch, wobei er dies auch nicht behauptete. Er wusste Bescheid.

„Alles gut, nicht das ich das kontrollieren würde oder so", gab ich schulterzuckend zurück, „aber ist doch gut."

„Ich muss das Abitur jetzt endlich schaffen, ich habe es mir selbst geschworen und einem Freund versprochen." Von wem war plötzlich wieder die Rede? Wem hatte er es versprochen?

„Dann gute Nacht." Ich würde ihn nicht auf das Thema ansprechen, da es mich eigentlich Nichts anging. Für diese Nacht hatten wir bestimmt schon genug Geheimnisse und Geschichten erzählt. „Wann stehst du morgen auf?"

„Muss um Acht Uhr da sein", überlegte er laut, „also so um Sieben, denke ich. Dann kann ich noch schnell zu Hause vorbeischauen, um meinen Rucksack zu holen und um mir was Neues anzuziehen. Warum? Möchtest du wissen, wann ich verschwinde?"

„Nein, ich stehe mit dir auf", merkte ich an. „Ist doch logisch." Und doch schien er überrascht, aber dankbar.

Als ich in Richtung Treppe verschwand, konnte ich hinter mir ein leises Flüstern vernehmen: „Gute Nacht."


Der nächste Morgen begann für mich früh – als es Draußen vor meinem Fenster noch nicht einmal dämmerte. Mir war übel und meine Innereien schienen Karussell zu fahren. Jedenfalls war es kaum auszuhalten und am Ende landete ich würgend über der Toilette.

Na, immerhin hatte ich noch abschließen können. Vielleicht hatte ich so den Besuch unten im Wohnzimmer nicht unnötig durch meine Geräuschkulisse geweckt? Es wäre äußerst unangenehm.

Irgendwann lehnte ich mich zurück, da anscheinend erst Mal nicht mehr genügend Mageninhalt vorhanden war. Diese ganze Prozedur war schlimmer, als eine Verwandlung im verletzten Zustand, dachte ich zähneknirschend, während ich die Spülung betätigte. Wahrscheinlich würde ich dennoch noch eine Weile an der Toilettenschüssel hängen. Ich wollte kein Risiko eingehen.

„Cora?" Und ich hatte ihn wohl doch aufgeweckt. Scheiße. „Alles klar?"

„Ja, geht schon. Alles gut", sprach ich möglichst ohne Zittern in der Stimme. „Sorry, dass ich dich geweckt habe."

„Hast du nicht, ich konnte nicht schlafen", gestand er und lehnte sich dabei scheinbar an die Außenseite der geschlossenen Badezimmertür. „Was ist los?"

„Mir ist schlecht, aber wird schon nichts Weltbewegendes sein", erklärte ich widerwillig und warf den Kopf in den Nacken. Dieses Gespräch hatte ich vermeiden wollen, denn es war übermäßig peinlich für mich. Ich war nicht gut in so was – und ich wollte nicht bemitleidet werden.

„Willst du nicht die Tür aufmachen?", fragte er und ich wusste, dass er in diesem Augenblick mit seiner Hand vorsichtig über die Türklinke strich. Das leise Rauschen bei einer Bewegung des Metalls würde ich niemals überhören, so viel war sicher. Außerdem sah ich, wie sich die Klinke auf meiner Seite leicht beugte, jedoch ausnahmslos geschlossen blieb. Zum Glück.

„Nein, auf keinen Fall", beharrte ich, „das will ich dir echt nicht antun."

„Soll ich dir dann etwas holen? Ein Glas Wasser? Einen Tee oder Medikamente?" Er ließ nicht locker und seine Stimmlage wurde durch meine gereizten Worte von zuvor schließlich deutlich ruhiger. Wieso war er so nett zu mir? Ja, ich hatte ihm geholfen und er durfte hier eine Nacht schlafen, aber das hieß noch lange nicht, dass er sich um mich kümmern müsste? Wollte er das etwa? „Also, nur wenn ich an die Sachen gehen darf."

„Ein Tee wäre super", gab ich mich geschlagen. „Irgendeinen Früchtetee, ist ganz egal welche Sorte." Medikamente würde ich ganz bestimmt nicht nehmen, wenn ich nur etwas Schlechtes gegessen hatte oder krank wurde. Eigentlich war es leider gar nicht verwerflich, dass mein Körper so auf die letzten Wochen reagierte. Entweder aß ich Tiefkühlkost oder kaum etwas und das hätte mir zu Denken geben müssen – wenn es mich interessiert hätte. Das tat es erst jetzt so richtig, wenn ich hier im Badezimmer vor der Toilette hockte und jetzt auch Jonas überaus ungewollt in diesen ganzen Mist involviert wurde. Sonst hatte ich keinen wirklich schwachen Magen, aber vielleicht sollte ich von nun an wieder etwas mehr auf mich achten. Zumindest so weit, dass ich nicht krank wurde und mich im schlimmsten Fall, wie gerade, von anderen bemuttern lassen musste.

Als ich das Piepen des Wasserkochers vernahm, stützte ich mich ab und putzte zwei Mal meine Zähne, um den Geschmack von Erbrochenem loszuwerden. Außerdem wäre ich sonst noch weniger mental in der Lage gewesen, Jonas im Anschluss die Tür zu öffnen und mit ihm ins Wohnzimmer zu gehen. Bis ich auf dem Sofa Platz genommen hatte, hatte er jede meiner Bewegungen genaustens verfolgt und war sehr dicht bei mir gelaufen. Bereitete ihm mein Zustand solche Sorgen?

„Danke", hauchte ich, als er mir eine Tasse mit dampfendem Tee reichte. Anhand des Geruchs konnte ich feststellen, dass es sich um Apfeltee handelte. Mir war in diesem Moment alles recht und deshalb trank ich den Tee, nachdem er etwas weiter abgekühlt war.

„Kein Problem, ehrlich", wank er ab und schenkte mir ein kleines Lächeln, das mich tatsächlich etwas aufmunterte. „Geht es dir wieder etwas besser?"

„Ja, um einiges besser." Schwach lächelte ich zurück, dann wollte ich endlich so schnell wie möglich das Thema wechseln. „Und du konntest nicht schlafen?"

„Nicht wirklich viel." Zögerlich suchte er den Blickkontakt mit mir. „Liegt aber nicht an dir. Ich glaube, dass ganze Geschehene hat mich einfach zu sehr aufgeregt." Da war ich ein wenig erleichtert, wenn ich so recht darüber nachdachte.

„Ist ja auch nicht ganz Ohne gewesen." Seine Verbände und Pflaster waren nicht durchgeweicht, sodass ich davon ausging, dass die Blutung vollständig gestoppt sein musste. Das war eine gute Nachricht.

„Normalerweise wäre ich jetzt bei ihr." Bei seiner Mutter? Es ging um sie, ganz bestimmt. „Wenn sie mich nicht erwischt hätte, meine ich. Meistens geht es ihr nach Gefühlsausbrüchen immer beschissen. Vor allem, wenn sie wirklich ihre Medikamente nicht genommen hat. Das lässt mir einfach keine Ruhe."

„Wäre es dann nicht besser, wenn du zurück", begann ich, aber wurde durch sein Kopfschütteln unterbrochen.

„Wahrscheinlich ist es besser für mich, wenn ich Mal nicht zu Hause bin", widersprach er mir und ich sah, wie schwer ihm dies fiel. Es waren wohl auch keine leeren oder einfachen Worte, wenn man darüber sprach, Jemanden für das eigene Wohl zurückzulassen. Doch ich glaubte ebenfalls, dass es für ihn das Beste war, wenn er nicht den Held und Retter spielen musste. Er war verletzt, vielleicht nicht das erste Mal. „Tut mir Leid, es ist sicher nicht einfach, wenn du überhaupt nichts Richtiges dazu sagen kannst."

„Ist okay." Ich nippte an meinem Tee und wurde erneut von der wohligen Wärme eingeschlossen. Obwohl es mir bis eben wirklich nicht gut ging, war davon inzwischen kaum noch etwas zu spüren. Es war wirklich schön, dass Jemand hier war. Alleine in der Einsamkeit, in diesem für eine Person viel zu großem Haus, war es beängstigend. Dank Jonas war es erheblich belebter in diesen vier Wänden und insgeheim war ich ihm dafür ungemein dankbar.

„Bist du müde?" Er schien seine Frage ernst zu meinen und war sichtlich erleichtert, als ich sofort den Kopf schüttelte. Tatsächlich war ich ziemlich munter, schlafen war aktuell sowieso nicht gerade meine liebste Beschäftigung. „Okay, dann halte ich dich wenigstens nicht unnötig wach."

„Ich schlafe im Moment eh nicht ganz so viel", öffnete ich mich ihm, „ist nicht ganz so einfach für mich, wenn ich jetzt ganz alleine hier wohne."

„Das kann ich mir vorstellen." Und obwohl ich sonst zornig wurde, weil Niemand meine Launen verstehen konnte, glaubte ich es ihm. Er hatte schon Einiges durchgemacht, wie es aussah. Zwar definitiv Anderes, als ich, aber er wusste wohl um den Schmerz, der sich in mir ausgebreitet hatte. „Darf ich dich etwas fragen? Ist wahrscheinlich eine ziemlich unangebrachte Frage, deshalb kannst du gerne ablehnen." Es war mir egal, also wies ich ihm, sie zu stellen. Nachdem er mir von seiner Mutter erzählt hatte, wollte ich mich auch ihm gegenüber öffnen. Er verdiente Antworten, weil er bereit dazu war, mich an seiner Welt teilhaben zu lassen. „Ich habe gehört, dass deine Mutter früh verstorben ist" - er hielt inne, um zu sehen, ob es mir doch zu weit ging - „aber darf ich fragen, was passiert ist?"

„Sicher." Zuerst wollte ich ihm zeigen, dass er meine volle Zustimmung zu diesem Gespräch hatte. Meine Mutter war schon lange verstorben, da war es etwas anderes, als bei meinem Vater. Zeit heilte zwar keine Wunden, aber die Narben trug ich schon länger mit mir herum und war schon häufiger drauf angesprochen worden, als mir eigentlich lieb war. Eine tote Mutter ließ einen schneller zum Gesprächsthema werden, als man wollte. „Es ist eigentlich keine große Geschichte, meinen Vater hat es wohl schlimmer getroffen, als mich. Er hat nie gerne davon gesprochen, weil ich meine Mutter nie richtig kennengelernt habe. Sie ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Die Ärzte haben gesagt, dass sie die Geburt dermaßen geschwächt hatte. Sie hatte Blut verloren, zu viel Blut verloren. Es ist ihnen zu spät aufgefallen."

„Also ist sie aufgrund ihres Fehlers gestorben?" Er klang fassungslos und er sah wütend aus.

„Ich weiß es nicht, aber da mein Vater Arzt war, hat ihn das ziemlich fertig gemacht. Er hätte es besser wissen müssen, laut seiner eigenen Aussage. Jedenfalls ist meine Mutter nicht die einzige Frau, die bei der Entbindung gestorben ist. Jährlich sterben etwa fünfzig Mütter bei der Geburt in unserem Land."

„Das ist – was ist das für eine Aussage? Das ist wirklich schrecklich." Es schien ihn mehr mitzunehmen, als mich. „Tut mir Leid, es ist albern, dass ich mich so sehr darüber aufrege, dazu habe ich eigentlich kein Recht."

„Nein, das ist schon in Ordnung für mich. Eine Zeit lang hat es mich mehr mitgenommen, als es das mittlerweile tut, aber diese Zeit ist schon lange vorbei. Damals war es wirklich gut, dass mein Vater für mich da war. Er hat alles gut mich getan, war immer für mich da und – und", weiter kam ich nicht, die Gefühle nahmen die Überhand. Beschämt schlug ich die Arme vor mein Gesicht, um die Tränen mit dem Ärmel meines Pullovers aufzufangen.

„Tut mir Leid, ich wollte nicht", er brach ebenfalls ab, da er bemerkte, dass er sich damit nur im Kreis drehen würde.

Ich war etwas überrascht, als er sehr zaghaft andeutete, mich in den Arm nehmen zu wollen. Er war zu mir gerutscht und hatte seine Arme vorsichtig um meine Schultern gelegt.

Bevor er sich zurückziehen würde, lehnte ich mich gegen sein Schlüsselbein und schlang meine Arme um seinen Torso. Ich wollte nicht allein sein. Nicht jetzt. Nie wieder.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich an seiner Brust weinte, aber als ich mich ein wenig beruhigt hatte, richtete ich mich langsam auf, hielt meinen Kopf dabei weiterhin gesenkt. Meinen mitleiderregenden Anblick würde ich ihm verwehren, so weit dies eben möglich war.

„Sorry, ich habe dir gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn du danach fragst", entschuldigte ich mich flüsternd und merkte, wie er seine Hände von meinem Rücken zu meinen Schultern wanderten, damit er schlussendlich die Umarmung beenden konnte.

„Ich hätte damit nicht jetzt ankommen sollen, ist irgendwie kein Thema über das man mit Jedem reden kann."

„Sonst kann ich mit Niemandem darüber reden", fügte ich kleinlaut hinzu, „du bist der Erste, der richtig mit mir redet. Über meinen Vater habe ich sonst mit Keinem bisher gesprochen."

„Kommt sonst Keiner vorbei außer mir?" Er schien entsetzt, aber hielt sich kurz darauf zurück.

„Carlos und Darius vielleicht. Meine alten Schulfreunde habe ich in den Wind geschossen, weil sie Menschen sind. Das ist ja nicht gerne gesehen bei uns im Rudel und dann hätte es alles nur komplizierter gemacht." Erklärungen mochte ich noch nie. Weder bei Freunden, noch bei Anführern. Ich rechtfertigte mich nicht gerne, ließ es entweder schweigend über mich ergehen oder ließ es gar nicht erst zu einem Gespräch dieser Art kommen.

„Dann rede mit mir darüber, wenn dir danach ist. Wir wissen schon mehr voneinander, als die meisten anderen im Rudel." Er erhob sich mit einem entschuldigenden Blick. „Ich lass dir meine Nummer da, dann kannst du mir jeder Zeit schreiben, ja? Ich muss jetzt leider los, sonst schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig zur Schule." Es tat ihm wirklich Leid und ich sah ihm an, dass er mich nur schweren Herzens weinend allein ließ, weshalb ich die Tränen mit meinen Ärmeln trocknete und ihm zur Tür begleitete.

„Danke, dass ich bei dir pennen durfte. Ich muss wirklich los, aber melde dich, okay?" Er war bereits einige Meter entfernt von unserer Haustür, aber er nahm sich die Zeit, sich umzudrehen und zu warten, bis ich ihm geantwortet hatte.

„Ich werde mich melden", versicherte ich ihm und sah anschließend, wie er die Straße entlang joggte und mir nochmals wank, bevor er in einen schmalen Fußweg einbog und aus meinem Blickfeld verschwand.


*****

Hallo zusammen! Ja, ich lebe noch und melde mich aus einer längeren Abwesenheit zurück. Ich hatte in den letzten Wochen nicht die Kraft und Inspiration zum Schreiben, aber vor einer Weile ist sie zurückkehrt.
Es tut mir Leid, dass ich lange ausgesetzt habe, vor allem für die Leser, die beim Lesen damals immer aktuell dabei waren. Da ich etwas vorgeschrieben habe, werde ich ab jetzt jede Woche ein Kapitel hochladen.
Danke fürs Lesen, das war es auch schon :)

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