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Schweißgebadet versuchte der Alte, eine geeignete Schlafposition in dieser schwülen Vollmondnacht im Spätherbst zu finden. Als es ihm endlich nach mehreren Fehlversuchen gelang, die ideale Position (Embryonalstellung, rechts liegend) einzunehmen, dauerte es nicht lange, bis er ins Reich der Träume gelangte. Und in seinem Traum erinnerte er sich daran, was er vor fast genau 77 Jahren erlebt hatte. Das Ende seiner Kindheit und der Moment, an dem ihm bewusst wurde, wer er eigentlich in der Welt sein will und was seine spätere Lebensaufgabe sein sollte.

Wieso hält dieser Zwerg nicht enfach mal seine nervige Klappe?', dachte der junge Winnie – mal wieder – als er gemeinsam mit seinem „Freund" Erwin Käseviel den Heimweg nach der Schule bestritt. Erwin war vier Jahre jünger als der 12-jährige Winnie. Eigentlich waren die beiden nicht wirklich miteinander befreundet. Doch ihre Eltern schon. Winnies Vater bekleidete das wichtige Amt des Dorfheilers von Märzbach und der Vater von Erwin (der selbst für einen achtjährigen zu klein war) war der Dorfhypochonder gewesen. Und somit der wichtigste Kunde von Winnies alten Herren.

„Ist das nicht die tollste Entdeckung, die jemals jemand gemacht hat?", fragte Erwin Winnie und hielt ihm dabei – mal wieder – einen kleinen Tontopf vor die Nase. Dessen Inhalt war ... Nun ja, mit dem Wort „abscheulich" kann man es gut beschreiben. Doch wenn man acht Jahre alt ist, liebt man auch abscheuliche Weichtiere.

„Kann sein. Aber sei bitte etwas leiser", bat Winnie – mal wieder – vergebens den kleinen, herumstolzierenden Jungen, „Man kann nie wissen, wer dich noch so hört... Pscht!"

Als Winnie und Erwin – Winnie hielt dabei den größtmöglichen Abstand zu Erwin ein – den Weg nahe dem Waldrand benutzen, brabbelte der kleine Erwin noch immer wie ein Wasserfall. Winnie hoffte, so schnell wie möglich wieder daheim zu sein, um seine Hausaufgaben machen zu können. In einer dicken, schwarzen Ledertasche trug er seine Schulsachen, während Erwin einen Tornister auf seinem Rücken hatte.

„Dass ich so einen tollen Schatz beim Blumenpflücken für meine Mami gefunden habe, ist soooooooo toll!"

Winnie wurde es zu bunt: „Es ist nur eine hässliche Nacktschnecke!"

„Doch sie ist orange! Hast du jemals eine orange Nacktschnecke gesehen?"

„Sie ist eher hellbraun! Dass du so etwas voller Stolz in der Schule herumzeigen musstest... Also ich weiß nicht ..."

Erwin ignorierte Winnie, den Griesgram. Was weiß der denn schon?

„Dieses... Das, was sie das auf ihrem Kopf hat, sollen das ... Haare sein?"

„Ein paar trockene Grashalme hab' ich auf ihren Kopf gelegt. Sieht doch süß aus!"

„Nein, eher nicht."

Erwin verzog das Gesicht, insbesondere die nach unten gebogene und nun leicht zuckende Unterlippe erinnerte an die obere Hälfte einer flachen Ellipse. Mit Zuckungen. Gleich würde Erwin zu weinen anfangen.

„In Ordnung, du bist der große Tierforscher! Was weiß ich unwissender Trottel denn, welche Farben diese Nacktschnecken annehmen können? Und wie man so ein Tier ordnungsgemäß dekoriert! Preiset den großen Entdecker dieser neuen Spezies, den *hust* großen Erwin Käsev-"

Erwin nahm Winnies Beschwichtigungen ernst. Und beruhigte sich wieder.

Doch dieser ruhige Moment war nur von kurzer Dauer. Hinter einem Gebüsch krochen zwei dümmlich grinsende Rowdys hervor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch die anderen beiden Mitglieder von Lutz Mückenfinders Bande auftauchen würden. Winnie drehte innerhalb von einer Nanosekunde seinen Kopf um und sah schon, wie sich die anderen beiden näherten.

Lutz und seine Kumpels waren etwa in dem Alter von Winnie – doch deutlich in der Überzahl! Obwohl Winnie und Erwin an diesem Nachmittag ausnahmsweise den alternativen Heimweg am Waldrand einschlugen, mussten diese Rowdys ihnen wie fast an jedem Tag – mal wieder – auflauern.

Mit einem Tonfall, der an einen Märchenonkel mit der Absicht, einen Zweijährigen zu erschrecken, erinnerte, ergriff Lutz das Wort – während er gleichzeitig den Kragen von Winnie ebenfalls ergriff: „So nah an den Mitternachtsforst wagt ihr euch? Hui! Wusstest ihr nicht, dass dort eine ganz böse Hexe lebt? Die Hobbithexe?"

„Lass mich Lutz, los! Äh, los, Lutz!", stammelte Winnie – während Erwin, der von einem anderen Bandenmitglied festgehalten wurde, nur herumzappeln konnte. Verzweifelt blickte er aus den Augenwinkeln zu genau diesem Wald. Die Ungeheuer, die dort hausen sollen, sind bestimmt nicht so schlimm wie Lutz ...

Es dauerte nicht lange, bis sich Erwin nicht mehr an seinen für ihn wertvollen Schatz erinnerte, irgendwann zwischen dem Hin- und Herwinden sowie dem mit den Füßen Herumstrampeln fiel sein kleiner Tontopf zu Boden, direkt auf einen der unförmigen Pflastersteine. Das Gefäß zerbrach und gab ein selbst für Nacktschneckenverhältnisse hässliches Schleimmonster frei. Doch die Aufmerksamkeit sowohl der Rowdys als auch die ihrer beiden Opfer hatte alles andere, nur nicht diese kleine Kreatur im Fokus. Wäre die orangefarbene Nacktschnecke mit den abgestorbenen Grashalmen auf dem Kopf nicht so unendlich dämlich (selbst für Nacktschneckenverhältnisse!) gewesen, dann hätte sie längst die Flucht angetreten, die Gefahr, von den Kids angetreten bzw. zertreten zu werden, war immens groß. Doch für eine Nacktschnecke zählt immer nur die Nahrungsaufnahme, sodass sie erstmal bei einem Löwenzahnblatt verweilte und es verliebt anschaute.

Man sollte meinen, dass sich Winnie inzwischen an die täglichen Überfälle von Lutz und Co. gewöhnt hätte, doch dem war nicht so.

„Gut, hier in meiner Hosentasche ist etwas Gold, das kannst du mir jetzt abnehmen und wir gehen dann alle unserer Wege, ja?"

„So einfach geht das nicht, winselnder Winnie!"

„Was möchtest du denn sonst haben? Meine Nieren?"

Lutz knurrte wie ein Hund, dem man den Fressnapf entreißen wollte. „Wie wäre es mit etwas Respekt?", zischte er, während er Winnie näher mit dem linken Arm zu sich heranzog. Mit rechts bekam er einen Hieb in die Bauchgegend. Weitere folgten sogleich.

Für Winnie waren diese Angriffe von Lutz ein tägliches Übel – und regelmäßig musste er die Route seines Heimweges verändern, in der Hoffnung, ihm zu entkommen, was ihm so gut wie nie gelang. Und immer, wenn ihn Erwin Käseviel begleitete, bekam er ebenfalls etwas Kloppe, allerdings waren die Kids wenigstens ihm gegenüber so „anständig" gewesen, es nur bei ein paar leichten Tritten zu belassen. Welpenschutz sozusagen.

Doch dieses Mal war irgendetwas anders gewesen. Mit jedem weiteren Hieb bekam Winnie – dessen Wut sich mit ebenfalls mit jedem weiteren Hieb steigerte – Hitzewallungen an einer für ihn ungewöhnlichen Körperstelle. Und er konnte keine Verbindung zwischen den Schmerzen im Unterleib und den warmen, ja inzwischen sogar kochend heißen Handflächen finden, besonders die rechte Hand fühlte sie heiß an. Doch wieso war dieses Gefühl angenehm für Winnie?

„Huuuuuuuaaaaaaaaah!" – Ein seltsamer Laut unterbrach die Prügelei, es hörte sich so an, als würde jemand mit den Saiten einer Geige eine Banshee malträtieren. Ein riesenhafter, tiefschwarzer Schatten kam hinter den Bäumen des Waldrandes hervor und verhieß nichts Gutes.

Sofort unterbrachen Lutz und seine Freunde ihren täglichen Winnie-Angriff. Alle Kids blickten zu dem Ursprungsort dieser ungewöhnlichen Laute. Und sie sahen, dass sich am Ende dieses Schattens eine kleine, an einem Stock humpelnde Gestalt befand, die auf sie zukam. Dafür, dass sie gehbehindert war, erreichte sie die Kids in Windeseile. Es war Blogunde, die Hobbithexe! Klein, schwarz bekleidet, wuschelköpfig – aber abgrundtief böse! Das sagten zumindest die Leute im Dorf!

Die wenigsten Dorfbewohner hatten die alte Blogunde jemals zu Gesicht bekommen. Dennoch besaß sie einen großen Kundenstamm im Dorf, ihre Schadzauber und Unheilsflüche, die man bei ihr käuflich erwerben konnte, waren überaus beliebt gewesen, jeder hatte irgendwem, dem man Übles wünscht. Und für den Transport ihrer Hexenbeutel und Voodoopuppen hatte sie die Hilfe ihrer großen Sippschaft. Man kannte sie, vermied aber jedweden Kontakt mit ihr. Und sie blieb meistens in ihrer Hexenhütte und verfeinerte ihre Magie.

„Verschwindet, ihr Rotzbengel! Was soll dieser Lärm, man kann euch bis zu meiner Hütte hören!" Die letzte Aussage besaß recht wenig Wahrheitsgehalt, Blogundes Hütte befand sich tief im Wald und nicht einmal einen Vulkanausbruch würde sie von dort aus mitbekommen. Vielleicht hatte sie Lutz und seine Bande beim Kräutersammeln nahe dem Waldrand gehört, nahm Winnie an.

Lutz, der oberste Rotzbengel, hatte jetzt ein Problem: Würde er seiner Angst vor der Hexe nachgeben, müsste er Winnie loslassen und wegrennen, doch was würden die anderen Gangmitglieder von ihm halten? Also behielt er Winnie noch eine Weile bei sich, verharrte aber regungslos, bis sich die wuschelköpfige Hexe, der man nachsagte, dass sie mit sämtlichen Dämonen (sehr, sehr eng) befreundet ist, hoffentlich bald verzogen hat. Und Winnie? Aus unerfindlichen Gründen bereitete ihm die Alte weniger Sorgen als die Jungen um ihn herum...

Schon längst hatten die Jungen, die Erwin festhielten, ihn auf den Boden geschleudert, wo er zusammengekrümmt bitterlich weinte. Langsam, rückwärts gehend, immer die Alte im Blick behaltend, entfernten sich die drei vorsichtig von dem Kleinen, fast so wie jemand, der eine Bombe scharfgemacht hatte, die jeden Moment explodieren würde.

Die Hitze in Winnies Handflächen war – was ihn völlig verwunderte – nicht unbedingt unangenehm für ihn gewesen, auch wenn er sich darüber wunderte, dass sich noch nicht sein Ärmel entzündet hatte. Es fühlte sich so an, als ob er eine heiße Flamme bändigen würde. Als ob sich seine Wut in seinen Händen niedergelassen und dort komprimiert hätte. Doch er traute sich nicht, nachzusehen, was mit seinen Händen geschah, sein Blick wechselte von Lutz zu Blogunde und wieder zurück zu Lutz, der seinen festen Griff weiter gelöst hat. Die kleinen Stichflämmchen, die sich tatsächlich immer wieder auf Winnies Handflächen bildeten und sofort wieder verschwanden, bemerkte weder er noch Lutz. Nur Blugunde spürte die Magie. Manchmal verweilten diese Flämmchen etwas länger, vielleicht wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich zu einer Kugel formen würden? Zumindest versuchten sie immer verzweifelt, diese Form anzunehmen ... Vielleicht gelingt es einer ja?

Nun trennten wenige Meter Blogunde von Lutz und seinem Opfer. Sie wedelte nur mit ihren Armen, so als wolle sie Mücken vertreiben. Lutz konnte es nicht riskieren, von ihr in ein Ungeheuer verwandelt zu werden, er ließ Winnie los und rannte fort. Fragend schaute Winnie ihm hinterher und bemerkte dabei nicht, dass genau in diesem für ihn verwirrten Moment von irgendwoher aus seiner Nähe ein „Wusch" zu hören war, gefolgt von einer unförmigen Feuerkugel, die Lutz am Rücken traf. Der von ihr dermaßen erschrocken gewesen war, dass er stolperte. Sein Hemd brannte und instinktiv wälzte er sich im Gras, um die Flammen zu löschen. Schnell stand er schon wieder auf und rannte wie ein geölter Blitz davon, seine Kumpels waren schon längst verschwunden.

So einen großen Feuerball habe ich noch nie bei einem so jungen Menschen gesehen', murmelte Blogunde, die Winnie genauer unter die Lupe nahm – doch Winnie war in Gedanken völlig abwesend. Wieso sind meine Handflächen wieder erkaltet? Hat mein Zorn sie so heiß gemacht? Winnie hatte keine Ahnung davon gehabt, dass er soeben seinen ersten Feuerball geschleudert hatte – im Laufe der nächsten Jahrzehnte sollten noch unzählige hinzukommen. Er bemerkte einfach nicht, wie eine Feuerkugel seine rechte Hand verließ, vom Boden abprallte und magisch den Weg zu Lutz' Rücken suchte. Nur das Feuer sah er. Das Licht blendete ihn – doch irgendwie fühlte es sich gut und richtig an!

Blogunde entschied sich dafür, diesen bestimmten – im Augenblick ziemlich verwirrten – jungen Mann weiter zu beobachten. Nun allerdings wollte sie nur noch zurück in ihre Hütte, um an ihren hölzernen Voodoopuppen weiterzuschnitzen. Blöde Gören! Sie rief den Kindern noch hinterher „Geht ab sofort woanders spielen!", drehte sich um und humpelte mit ihrem Gehstock zurück in den Wald.

Dabei fiel ihr nicht auf, dass eine orangebraune Nacktschnecke an ihrem Hexenkleid festhing und unbemerkt von ihr zu ihrer Hütte im Wald transportiert wurde. Diese spezielle Nacktschnecke war nicht besonders wählerisch, doch als sie in die Nähe von Blogundes Komposthaufen gelangte, schleimte sie sich fort von ihrem Fortbewegungsmittel in Gestalt einer Hobbithexe. Obwohl Blogundes Verwandtschaft ihr immer dazu geraten hatte, niemals magischen Abfall im Kompost zu entsorgen, lud sie immer in ihrer Bequemlichkeit die Überbleibsel ihrer Experimente dort ab. Für die meisten Kreaturen wäre dieser Abfall ungenießbar gewesen, doch für diese spezielle Nacktschnecke glich der Abfall einem kalten Buffet. Und sie fraß, und fraß, und fraß. Und wurde im Laufe der Jahre immer größer, bis sie irgendwann die Größe eines Schäferhundes erreichte und begann, woanders weiterzufressen. In all den Jahren unbemerkt von Blogunde, die sich nicht einmal im Entferntesten dafür interessiert hatte, was in ihrem Kompost so vor sich ging.

Doch kommen wir kurz zurück zu Winnie und Erwin, die sich inzwischen den Sand und das Gras aus ihren Klamotten weggeschüttelt hatten und wieder den Nachhauseweg antraten. Winnie dachte noch immer an diesen komischen Feuerball, der anscheinend von der Alten stammte. Dass sie in den nächsten Jahren zu seiner magischen Mentorin und besten, weil einzigen, Freundin werden sollte, konnte er zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal ansatzweise ahnen. Erwin hatte den Verlust der Schnecke aus dem zerbrochenen Tongefäß längst verwunden, sein Stolz darüber, einer der wenigen im Dorf zu sein, der diese Hobbithexe zu Gesicht bekommen hat, überwog den Kummer über die verlorengegangene Nacktschnecke bei Weitem.

„Winnie, diese Magie ist schon 'was Tolles! Ich hab' gehört, dass Versuche unternommen wurden, unliebsame Menschen in etwas weniger widerspenstige Dämonenimps zu verwandeln, sie nennen sie ‚dienstbare Imps'. Leider ist es noch keinem gelungen, die Verwandlung für längere Zeit aufrechtzuerhalten ..."

„Bestimmt findet jemand mal einen Weg ..."

Der alte Weeno – sein eigentlicher Name war Winfried gewesen, als Kind nannte man ihn nur „Winnie" – grinste (soweit es dem Griesgram möglich war), als er im Bett an diese Begebenheit aus seiner frühen Jugend denken musste. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Blogunde wurde zu seiner Kumpeline, die ihn viele Jahre lang erfolglos zu der dunklen Seite der Magie hinüberziehen wollte. Letztendlich bedauerte er, dass er diesen Weg viel zu spät in seinem Leben einschlug.

Gut, für ihn hatte die Magie immer viel zu bieten gehabt: Das Gold seiner Kunden! Und da jeder Mensch früher oder später Wehwehchen hat, fand er es leichter, dem Beispiel seines Vaters zu folgen und Heiler zu werden. Ja, er war der Stolz der Familie gewesen. Sein Vater schaffte es nur zum Heiler, doch Winfried gehörte zu den „Auserwählten", die Magie mit Heilkunst verbinden konnten. Ein Heilmagier zu sein, war schon ein lukratives Gewerbe gewesen – und Winfried war einer der besten! (Und er hoffte inständig, dass niemals ein Chronist, der irgendwann seine Geschichte aufschreibt, behaupten möge, dass Menschenfreundlichkeit sein Beweggrund für diese Berufswahl sei! Möge derjenige mit lebenslanger Erfolglosigkeit gestraft sein!)

***

Magisch begabte Personen, egal welcher Spezies, haben die Begabung, Träume in allen Einzelheiten wahrnehmen zu können, einschließlich Farbe und Raumklang. Zauberer konnten mit ihren Träumen Zeitreisen machen und fremde wie bekannte Welten entdecken. Gut, das können Normalsterbliche fast genausogut, wenn sie nur wollten. Doch ihre begrenzten Gehirne konnten sich keine Details merken und hatten keine Kontrolle über ihre Träume - Traumwichtel hatten bei ihnen immer besonders viel zu tun, Magier mieden sie und diese brauchten nicht wirklich ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen...

Unweit des Magierturms des alten Träumers im „Mitternachtsforst" träumte seine beste Freundin in ihrem halb zerfallenen Hexenhobbitbau. Auch sie musste sich an ein vergangenes Ereignis erinnern, in der Hoffnung, eine Inspiration für ihr gegenwärtiges Problem zu finden. Sie blickte betrübt 14 Jahre in die Vergangenheit...

„Ohhh, ja, der kleine Holgi ist ja großgeworden? Und er ist ja schon so klug, nicht wahr?"

Diese Bemerkung seiner Tante Vulnavia brachte den fast dreijährigen Holgi Krähenlärm zum Lächeln, doch sie stimmte vollkommen. Gut, kleine Hobbits sind in dem Alter ihren menschlichen Altersgenossen weit überlegen – dennoch erfüllte der kleine Junge die ganze Familie mit Stolz. Man feierte an diesem Winterabend das „Fest der Geselligkeit", obwohl eigentlich alle hobbittischen Feierlichkeiten nur so vor Geselligkeit strotzten ...

Derartige Feste zum Jahresabschluss gab es bei allen Völkern aller Rassen. Orks schlachteten ein beliebiges Tier und feierten ein Grillfest. Menschen sangen langweilige Lieder vor geschmückten Bäumen. Elfen versammelten sich, um mit ihren traditionellen Ritualen die Dunkelheit zu vertreiben. Und Zwerge verprügelten einander mit einem anschließenden Saufgelage. Ihre Geselligkeit war mit der von den Hobbits durchaus vergleichbar, doch Hobbits perfektionierten sogar die Gemütlichkeit.

Unmengen von Heißgetränken und Gebäck wurde von den anwesenden Hobbits verschlungen, wie es an diesem Feiertag üblich war, saßen alle gemütlich vor dem Kamin, erzählten sich gegenseitig, wie sie ihr Jahr erlebt haben - doch am wichtigsten war es für sie, den Hobbitkindern eine schöne Zeit zu bereiten. Es war schon sehr gemütlich im Wohnzimmer der alten Blogunde gewesen.

Hexen hassen es normalerweise, wenn mehr als drei Personen mit ihnen einen Raum teilen mussten. Selbst wenn es sich um riesige Ballsäle handeln würde – andere Leute bedeuteten pausenloses Gerede – oder besser ausgedrückt: Geschnatter. Und Hobbits redeten laut, überaus gerne und viel. Doch auch bei Hobbithexen wie Blogunde (viele von dieser Sorte gab es nicht – Hobbits hatten für gewöhnlich Angst vor Hexerei und allem Magischen) war es genetisch fest verankert gewesen: Hobbits brauchen andere Hobbits um sich herum!

Sie als oberste Matriarchin der Familie saß gemütlich in einem Sessel, ihr hölzerner Rollstuhl, auf den sie seit Jahren angewiesen war, stand in einer Ecke. Alles, was sie an dem Abend benötigte, reichte ihr ihre Schwiegertochter Wofunda. Ihr Gatte Gontor, der auch gleichzeitig Blogundes Erstgeborener war, schwatzte mit seiner Schwester Gnepel, der Mutter von Holgi.

Die andere Hexe in dem Raum war Isipisi, die jüngste Tochter von Blogunde. Eigentlich sollte sie Blogundes größter Stolz sein, doch zwischen ausgebildeten Hexen entstand früher oder später immer so etwas wie eine Rivalität. Sie war ihr einfach zu ähnlich geworden und der Dämonengott, den sie anbetete, vertrug sich nicht wirklich mit dem von Blogunde ... Doch es war ihre Tochter! Was soll man da machen?

Die Kinder von Wofunda und Gontor, die Zwillinge Arno und Nori wiederum, versuchten gemeinsam, die letzten Geselligkeitsgurken aus den Tiefen ihrer Fässchen zu fischen, eine der vielen Hobbittraditionen an diesem Tag.

Holgi war längst damit fertig und durfte sich einen Dankbarkeitskeks nehmen, an dem er fröhlich knabberte. Wehmütig schaute seine Mutter zu ihm hin - sie vermisste seinen Vater, einer der wenigen Hobbits, die gerne und oft verreisten, in der Hoffnung, Gold oder andere Schätze in der weiten Welt zu finden. Ein Träumer. Sie hoffte inständig, dass Holgi nicht so wird wie er.

Der kleine Holgi hatte inzwischen seinen Keks verspeist und watschelte zu seiner Mami, in der Hoffnung, von ihr eine weitere Leckerei zu bekommen. Doch sie wurde abgelenkt von dem Streit, der zwischen Gontor und Gnepel ausbrach, sie konnten sich nicht einigen, wer von beiden den letzten Prachtpudding bekäme.

Irgendwie konnte Holgi keinen Erwachsenen finden, der sich mit ihm beschäftigen wollte - und die Zwillinge waren mit dem traditionellen Krapfenwerfen beschäftigt. So musste er woanders jemanden oder etwas zum Spielen finden.

Unweit des Wohnzimmers befand sich die Küche. Obwohl er eigentlich ein wohlerzogenes Bürschlein war, konnte er wie die meisten Kinder nicht den Speisen, die für später vorgesehen waren, nicht widerstehen und kostete von dem Tomatensalat, der Zwiebelsuppe und nahm noch einen Happen von dem Brathuhn. Doch ein beißender Geruch beleidigte seine kleine Nase. Wo kam er nur her?

Der Kleine bemerkte einen Kessel auf der Feuerstelle. Kein kupferner wie die meisten, die er bisher bei seiner Omi gesehen hatte, sondern einer aus einem ziemlich dunklen Metall. Er näherte sich neugierig dem Objekt und schaute hinein – eine violett leuchtende Flüssigkeit dampfte in ihm vor sich hin!

Also so etwas Ekliges kann man den Gästen doch nicht vorsetzen! Holgi versuchte, das stinkende Ding vom Feuer zu bewegen, doch es gelang ihm nicht! Der Kessel war halb so groß wie er, aber doppelt so schwer! Er versuchte, ihn mit aller Kraft vom Haken zu ziehen...

Zur gleichen Zeit bemerkte die alte Blogunde als Erste das Verschwinden ihres Lieblingsenkels. Insgeheim hatte sie immer die Hoffnung gehegt, ihn auf die dunkle Seite der Magie zu ziehen. Vielleicht hatte er ja auch diese Begabung, die nicht alle, aber viele Mitglieder ihrer Familie besaßen. Und er wäre sicherlich ein besserer Schüler für sie als es ihre Tochter Isipisi, diese verdammten, fehlgeleitete Angeberin!

Doch erst als alle Anwesenden einen markerschütternden, lauten - aber dennoch kurzen Schrei aus der Küche hörten, rannten sie dorthin. Blogunde wurde allerdings von ihrer Schwiegertochter zunächst vom Sessel in den Rollstuhl gebracht - und insgeheim ahnte Blogunde, was der Grund für diesen Schrei sein könnte.

„Was ist mit Holgi los? Warum zuckt er so? Bitte! Bitte tut doch etwas! Holgi!" - die Stimme von Holgis Mutter bestätigte Blogundes Vorahnung. Warum musste sie mit diesem Zeug auch ausgerechnet an diesem Tag experimentieren? Die Antwort darauf kannte nur Blogunde.

Als sie in die Küche geschoben wurde, sah sie bereits, wie der zuckende, am Boden liegende Holgi von ihrem neuesten Zaubertrank befreit wurde, die letzten Reste wurden von Gnepel vorsichtig mit einem Geschirrtuch abgewischt. Und der Kessel, aus dem die Flüssigkeit kam, hatte Gontor in eine Ecke hingestellt und mit einem Tischtuch abgedeckt.

Hätten nicht alle Hobbits in der Küche wie aufgeschreckte Hühner herumgegackert, wäre Blogunde vielleicht eingefallen, dass sie mittels einer Gedankenlesung vielleicht herausfinden könnte, was im Inneren ihres Enkels vor sich ging – und hätte ihm rechtzeitig helfen können ...

Doch Holgi litt, denn die Substanz, mit der er unfreiwillig in Kontakt kam, nannte sich „ungeschminkte Wahrheit". Und hätte er mehr von ihr in sich aufgenommen, egal ob durch die Haut oder einer seiner kleinen Körperöffnungen, dann hätte sich die Wirkung vielleicht etwas abgemildert – wenn sich die Wahrheit über ihn voll entfaltet hätte. Doch so konnte sich die schreckliche Wahrheit in dem noch nicht ausgebildeten Geist eines Dreijährigen ausbreiten. Ihn plagten Visionen, mit denen er nichts anfangen konnte, doch die sich ihm einprägten und von nun an sein ganzes Wesen beherrschen sollten.

Er sah sich als Fünfjährigen, instinktiv spürte das Kleinkind, dessen Wahrnehmung des „Ichs" noch nicht richtig ausgebildet war, wer dieses Kind war, das von allen verspottet wurde. Warum zeigten sie alle auf ihn und nannten ihn „Hogro"?

Er sah, wie er hilflos in der Hütte seiner Mutter herumlief. Ihre Vasen umstieß. Wie sie mit ihm schimpfte. Wie er bitterlich weinte und ihr sagen wollte, wie sehr es ihm leidtut. Dass er es nicht besser wusste! Dass sein Körper nicht mehr das machte, was ihm sein Geist befahl! Doch er konnte nur das eine Wort herausbekommen. Hogro. Bitte Mutter, sei für mich da! Ich bin es! Holgi! Dein Holgi!

Er sah, wie seine verzweifelte Mutter ihn an der Tür ihrer Hobbithexenhütte seiner Omi, die er über alles geliebt hatte, abgegeben hatte. Doch die Tränen in ihren Augen bemerkte er nicht. Stattdessen kam er sich so vor, als sei er nur eine Sache, etwas, das man weiterverschenkt, wenn man es nicht braucht. Und er sah wie seine Mutter an diesem Tag in seiner Zukunft ihn zum letzten Mal in ihren Armen hielt und sich nur mit den Worten „Es ist besser so, Hogro!" verabschiedete.

Er sah, wie seine Omi keinerlei Versuche unternahm, aus ihm wieder Holgi zu machen! War er so unwichtig für sie? Ständig musste der Siebenjährige ihr in der Hütte helfen, ihr alles bringen, was sie für ihre Magie benötigte. Doch wer brachte ihm mal etwas? „Hogro, hol der Großmutter ihr Schnitzmesser!"

„Hogro hole der Großmutter dies!"

„Hogro, bringe der Großmutter das!"

„Hogro – Großmutter!"

„Hogro!"

Er sah sich im Wald, wie er dieses Kraut mit den zackigen Blättern pflücken musste. Blätter, die ihn pikten, die er aber dennoch sammeln musste. Für die Großmutter und diesen Alten. Ein dünner, großer Zauberer mit langem grauen Bart, der Omi regelmäßig in ihrer Hütte besuchte und mit der er das Kraut genüsslich im Wohnzimmer rauchte. Beide schwatzten, lachen und haben Spaß, wenn sie gemeinsam in ihren Sesseln in ihren Pfeifen pafften. Warum durfte er nicht mitmachen? Hogro!

Er sah sich als 12-jährigen, der zusammen mit einem fröhlichen kleinen Menschenmädchen durch den Wald lief. Sie kam ihm immer aus dem Magierturm ihres Großvaters entgegen und brachte ihm etwas! Doch das waren nie Geschenke! Nur Käfige mit kleinen Kreaturen, die er tragen musste. Sie machten ihm Angst! Doch er konnte niemanden von seiner Angst berichten. Nur „Hogro" konnte er sagen! War das etwa sein Name? Die Käfige mit den kleinen, gefangenen Monstern trug er mit dem Mädchen durch den Wald zu den Dorfbewohnern, wo das Mädchen Goldstücke für sie bekam. Auf dem Heimweg durch den Wald hüpften und lachten die Kinder! Doch auch für das Mädchen war er kein vollwertiges Kind, niemand, den man ernstnimmt. Nur ein Hogro!

Er sah sich als 16-Jährigen zusammen mit einem anderen, sehr hübschen Mädchen. Auch ein Menschenmädchen. Doch sie sah so aus, als ob sie gezwungen sei, mit ihm zusammenzusein. Es war keine aufrichtige Liebe, die Großmutter hatte nur mit ihrer Magie ein Dorfmädchen an ihn gebunden, damit er nicht so allein sei. Hogro!

Er sah sich als 19-jährigen. Der Zauber der Großmutter verlor ihre Wirkung und diese Verbundenheit, die keine war, verblasste allmählich. Hogro war wieder allein. Hogro!

Ein dreijähriges Kind, das den Schmerz eines ganzen Lebens bereits in sich trägt, lag nun auf dem Küchenboden der alten Blogunde. Es zuckte und rief nur dieses eine Wort, ständig rief es: „Hogro! Hogro! Hogro!"

Fragend schauten alle anwesenden Hobbits zu Blogunde und sie bemerkte: „Ihm kann jetzt nur noch eine Sache helfen..."

Mit zittriger Stimme – die Antwort auf diese Frage ahnte sie bereits – fragte Holgis Mutter: „Und die wäre?"

„Magie."

Und so wurde aus dem kleinen, begabten Holgi der zurückgebliebene Einfallspinsel namens „Hogro".

Hexen kennen so etwas wie Bedauern nicht. Hätte Blogunde nur etwas genauer gewusst, was diese ungefilterte, ungeschminkte und unverfälschte Wahrheit bei ihrem Enkel ausgelöst hatte, dann hätte sie vielleicht besser diese sich selbst erfüllende Prophezeiung bekämpfen können. Niemand sollte zu früh erfahren, wer er einmal sein wird!


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