01 - Novembersturm

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Meine Augen brennen vom Qualm des viel zu kleinen Feuers, mein Rücken schmerzt unerträglich von der gebückten Haltung, meine Füße fühlen sich halb erfroren an. Die Kälte zieht unter der klapprigen Brettertür und durch alle Ritzen der bröckeligen Lehmflechtwand herein. Die Luft ist feucht, alles in dieser kleinen Hütte ist klamm und eiskalt. Dampfend kann ich meinen Atem vor meinem Mund sehen. Aber ich habe keine Wahl. Wenn die Kinder und ich nicht verhungern sollen in diesem Winter, muss ich die ruhigen Nachtstunden nutzen, um zu arbeiten. Also strecke ich meinen Rücken einmal durch, bevor ich erneut auf dem kleinen Hocker zusammensacke und versuche, mit feinsten Stichen an dem Hemdkragen für den Lehensverwalter eine Blütenranke zu sticken.

Es war ein schlechter Sommer, die Ernte karg. Es regnet seit drei Wochen ununterbrochen, alles versinkt im Schlamm. Der Kohl fault auf dem Acker. Die Kälte hat früh eingesetzt und frisst sich unerbittlich durch jede Hüttenwand im Land. Das Holz aus dem Wald ist nass und qualmt, und die wenigen Vorräte machen schon jetzt nicht mehr satt. Drei, viermal in jeder Nacht muss ich das Peterchen nähren, weil ich selbst so Hunger habe, dass ich ihn nie richtig satt bekomme. Täglich flehe ich zu Gott, dass ich die drei Kleinen lebend durch den Winter bekomme. Ohne meine zugewandten Nachbarn und die gute Dorfgemeinschaft wäre ich sicher verloren.

Draußen tobt der wohl heftigste Sturm dieses Herbstes. Der Regen prasselt auf das faulende Strohdach, beim Vieh hinten und über dem Tisch hier vorn tropft es so doll auf den Dachboden durch, dass es bis hier unten feucht ist, und durch die Ritzen in der Wand kann ich sehen, wie draußen die Blitze das Dunkel der Nacht zerreißen. Unmittelbar darauf dröhnt der Donner über dem Hügel hinter der Hütte.
Es wird morgen sicher in den Wald gehen, abgerissenes Totholz sammeln. Dumm nur, dass an meinem Karren die Achse gebrochen ist. So kann ich nur so viel sammeln, wie der Große und ich tragen können.

Mein Jüngster fängt an zu wimmern, und ich springe auf, damit er die anderen beiden nicht weckt. Hastig lege ich das Hemd zurück in den Kasten zusammen mit dem Stickzeug, bevor ich zur Pritsche eile und Peter aus seinem Wiegenkasten hebe. Seine Augen sind geöffnet, er hat schon beide Daumen im Mund und quietscht dabei höchst unzufrieden. Als er mich jedoch sieht, streckt er mir seine winzigen Händchen entgegen und fängt an zu schmatzen. Mit steifem Fuß schiebe ich den Schemel an die morsche Hüttenwand, damit ich mich wenigstens anlehnen kann, während ich das Kind anlege.

Meine Gedanken wandern.
Ich hatte eine gute Kindheit im Waisenhaus, habe Feinstickerin gelernt, wurde hier beim Bauern Adam als Magd gut behandelt, und nach dem Tod seiner Frau hat er mich geheiratet. Ich habe seinen großen Sohn Jakob und meine beiden Kinder von ihm. Sie sind mein Leben. Dankbar richte ich ein stummes Gebet zum Himmel.

Seufzend lege ich dann das magere Kind an der anderen Seite an, die Brust war viel zu schnell leer.
Unzufrieden schläft Peter schließlich ein auf meinem Schoß, und auch ich dämmere langsam weg. Ich bin sogar zu müde, um mich auf meine Strohpritsche zu schleppen.
Nur einen Moment noch, dann ...

Mit einem Mal knallt die Türe auf, und der Wind treibt einen Schwall Regen in die Hütte. Im Licht eines über den Himmel zuckenden Blitzes sehe ich einen Mann in der Tür stehen. Schlagartig bin ich hellwach und ziehe im Schreck mein Kind in meine Arme.
Gott im Himmel, steh uns bei!
Der Eindringling schwankt, kurz sehe ich sein schmerzverzerrtes Gesicht, bevor er sich umwendet und einem Gaul aufs Hinterteil schlägt, dass dieser wiehernd im Dunkel verschwindet. Dann wankt der tropfnasse Mann in meine Hütte, knallt die Türe zu und sackt erschöpft gegen die Hüttenwand. Ich zittere am ganzen Leib, nicht nur von der Kälte, auch von der Angst, und mustere den Fremden argwöhnisch, während der sich mit wilden Augen in meiner kleinen Kate umsieht, um Atem ringt und versucht, etwas zu sagen. Sein Wams ist an der Schulter zerrissen, er ist über und über mit Schlamm bedeckt und kann sich kaum auf den Beinen halten.
Stumm vor Schreck hocke ich auf meinem Schemel, presse den Säugling an mich und starre mit weit aufgerissenen Augen den Mann an. Da beginnt er zu stammeln.
"Überfall ... im Wald. Verstecken ... bitte!"
Meine Gedanken rasen.
Wer sagt mir, dass das kein Trick ist? Dass nicht ich hier überfallen werden soll? Und wo sollte ich in dieser kargen Hütte einen ausgewachsenen Mann verstecken?
"Bitte - schnell! ... suchen mich."
Vor lauter Müdigkeit bin ich nicht in der Lage, vernünftige Entscheidungen zu fällen. Also reagiere ich automatisch, wie ich es gewohnt bin. Da braucht ein Mensch Hilfe - ich helfe, weil ich mit meinem Wesen gar nicht anders kann.
Möge Gott uns bewahren!
Hier vorne oder beim Vieh ist keine Möglichkeit für ein Versteck. Höchstens von hinten im offenen Schuppen. Ob er es bis dahin schafft?
Die Hütte ist so klein, dass außer dieser winzigen Diele nur der schmale Stallgang mit den Verschlägen für Ziegen und Federvieh auf der linken Seite Platz hat. Rechts gegenüber vom Vieh ist bereits die Außenwand. Und dort draußen ist unter dem tief gezogenen Dach ein kleiner Schuppen für Gerätschaften eingerichtet. Es gibt auch eine winzige Tür zum Schuppen in dieser Wand, aber die ist eigentlich immer dick verhängt mit Stoffen, damit es nicht so sehr zieht. Da krieche ich normalerweise nicht durch.

"Folgt mir!"
Ich lege mein Kind zu den anderen auf der Pritsche in seinen Kasten, eile den Stallgang entlang und öffne die Hintertür. Sofort fährt mir der eiskalte Wind durchs Gewand, und Regen durchtränkt mich. Hinter mir höre ich die schlurfenden Schritte des Mannes, der sich wohl an der Wand entlang schiebt. Gleich rechts ist der offene Bereich, in dem sich der Hackklotz, allerlei Werkzeug, Gerümpel und mein kaputter Karren befinden.
Ich helfe dem Mann um die Ecke und durch die tiefe Pfütze, die sich vorm Eingang gebildet hat. Er lässt sich ganz hinten auf einen Haufen alter Säcke sinken und seufzt erschöpft. Einem Impuls folgend decke ich ihn mit zweien der Säcke zu, kippe den Karren zur Seite und stülpe ihn über den kauernden Mann.
"Haltet gut stille, man hört Euch herinnen!"
Ich eile zurück in meine Kate, verriegele die Hintertür und blockiere sie mit dem Spund, damit niemand von draußen hereinkommen kann. Dann blockiere ich auf die selbe Weise auch die Vordertür und sinke verängstigt auf meine Truhe.
Mehr kann ich nicht tun. Und wer weiß? Vielleicht suchen die Verfolger in so einer kleinen Hütte gar nicht. Meine Lage ist verzwickt. Woran soll ich bloß erkennen, dass 'die Gefahr' vorüber ist? Wann ich wieder nach nebenan kann, um mehr über den Fremden zu erfahren? Was wird jetzt mit mir und den Kindern geschehen? Himmel, hilf!
Nun ist es wieder totenstill in der Kate, und nur der trommelnde Regen ist noch zu hören. Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommen wird. Also verfällt mein übermüdetes Hirn wieder in Alltagstrott. Ich erhebe mich mühsam, wickele meinen kleinen Sohn in frische Windeln, lege ihn in seinen Wiegenkasten und decke das Herdfeuer ab, wie es Vorschrift ist. Das nasse Gewand ziehe ich aus und hänge es in die Nähe der Feuerstelle. Stattdessen ziehe ich mir alte Lumpen über.

{Dieser Riegel ist innen, aber mit Hilfe der Schnur durch die Tür durch kann man den problemlos von außen öffnen. Nur wenn man durch den Griff ein weiteres Stück Holz schiebt, das den Riegel unten hält, kann man die Tür von außen nicht aufkriegen.}

Als ich grade auf die Pritsche ins Stroh krabbeln will, um Jakob und Susanna besser zuzudecken und mir selbst ein wenig Schlaf zu holen, fliegt abermals die Türe auf. Sie muss aufgetreten worden sein, denn der Riegel reißt, ohne großen Widerstand zu leisten, einfach im Ganzen aus der Türzarge und macht dabei ein klapperndes Geräusch. Wieder treibt der Wind den Regen herein. Schlagartig sitze ich kerzengrade im Bett und starre hinaus in den Sturm. Drei abenteuerlich vermummte, völlig durchnässte Männer stehen auf meiner Schwelle und schnauzen mich an.
"Wo isser !?!"
Schemenhaft kann ich vor der Türe einen Vierten erkennen, der die Zügel mehrerer Pferde hält.
Warum um Himmels Willen reitet die halbe Welt mitten in der Nacht durch einen solchen Sturm???
Zorn bahnt sich einen Weg durch meine Müdigkeit und macht mich unvorsichtig.
„Wer seid ihr, wen sucht ihr? Und wo in dieser ärmlichen Hütte sollte ich bitte einen „er" verstecken können???"
Mit einer ausladenden Geste zeige ich durch den kleinen Raum, in dem nur mein Aussteuerkasten, die Pritsche, die offene Feuerstelle, der rohe Holztisch mit zwei wackeligen Bänken und die beiden Verschläge für Vieh Platz haben. Das war es dann auch schon. Ich habe keine Ahnung, warum ich nicht einfach auf die Wand zum Schuppen zeige und sage:"Da drüben. Nehmt ihn mit."
Rein intuitiv habe ich im Gefühl, wer hier gut und wer böse ist.
Die Soldaten des Herzogs wären bestimmt nicht vermummt und hätten außerdem eine Uniform an. Wegelagerer gibt es in unserem Teil des Landes zwar selten. Aber mit rechten Dingen geht es hier ganz bestimmt nicht zu!

Abgesandte des Herzogs hätten sich jetzt sicher als solche erklärt, aber diese Männer antworten gar nicht. Sie verständigen sich mit Blicken und fangen an, die Hütte zu durchsuchen. Der Kasten ist so leer, den knallt der erste gleich wieder zu. Die Ziegen Zick und Zack beißen wie üblich, als sich der zweite Mann nähert, da geht er vorsichtig auf Abstand. Der Dritte wühlt mit seinem Schwert durch die dünne Schicht Stroh in den Verschlägen. Und als sich der Vierte der Pritsche nähert, rutsche ich sofort vor die Kinder und herrsche ihn an.
„Fasst meine Kinder nicht an!"
Problemlos stößt er mich zur Seite, greift ins gammlige Stroh, hebt die einzige dünne Decke an, tritt wahllos unter die Pritsche, ins Leere und Dunkle, brummt unzufrieden. Noch einmal schweifen ihre Blicke durch die ärmliche Hütte, dann drehen sie sich um und verschwinden wortlos einfach wieder. Die Türe lassen sie offenstehen. Restwärme vom Herdfeuer gibt es nun endgültig keine mehr. Der Wind hat alles davongepustet. Ich werde Tage brauchen, um die Hütte wenigstens ein bisschen wieder warm zu kriegen.

Ich atme ein paarmal tief durch, um meine aufgewühlten Nerven zu beruhigen, schicke ein Dankgebet zum Himmel und eile zur Tür. Notdürftig drücke ich die verbogenen Nägel des Riegels wieder in die Zarge, damit die Tür wenigstens ein bisschen schließt. Dann halte ich mein Ohr daran und lausche in die Nacht. Ich kann die wütende Stimme meines Nachbarn Jorge Krumm durch das Unwetter schimpfen hören. Hufgetrappel entfernt sich.
Die Gefahr scheint vorüber. Da ich nicht noch einmal raus ins Unwetter will, nehme ich nun doch den gestickten Behang von der Wand zum Schuppen, öffne die dahinter verborgene Türe und schlüpfe hinüber. Unter dem Karren finde ich meinen seltsamen Gast zusammengesunken, heftig zitternd, zähneklappernd und mit geschlossenen Augen.
Dann spreche ich leise, damit mich auch ja draußen niemand hört.
"Sie sind fort."
Der Mann ist kaum ansprechbar. Ich helfe ihm auf. Mühsam erhebt er sich, wankt, stützt sich schnell an der Hüttenwand ab und verzieht sogleich schmerzhaft das Gesicht. Er ist kaum in der Lage, sich durch die schmale Tür zu schlängeln, zumal er sehr groß ist. Im Stallgang greift er sich die rechte Schulter, stöhnt.
"Das Pferd. Sie dürfen es nicht finden."
Dann macht er noch einen Schritt vorwärts - und bricht vor meinen Augen bewusstlos auf dem feuchten Lehmboden zusammen. Nun ist er nicht mal versteckt. Meine Lage wird immer bedenklicher.

Einen wichtigen Teil meiner Kate haben die wilden Männer nicht entdeckt. Diese Hütte ist klein, niedrig und marode. Aber dennoch gibt es unter dem Strohdach einen kleinen Dachboden. Dort lagert das Heu und Stroh, und dort hängen die mageren Getreidesäcke mit der Aussaat fürs Frühjahr von den Dachbalken herab, damit die Mäuse mir nicht das Getreide wegfuttern. Es gibt zwei Aufgänge, einen überm Stallgang, einen kleineren neben meiner Pritsche. Diese abgedeckten Luken haben die Männer im Dunkel und Durcheinander des Augenblicks wohl nicht erspäht.
Hier gehe ich fast nie rauf, darum ist auch die Leiter nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Sie hängt über der Schlafpritsche quer an der Wand. Ich brauche sie recht selten und nutze sie stattdessen, um daran allen Hausrat aufzuhängen. So liegt mir nichts in der Hütte rum, was die Kinder verschleppen könnten. Das Zeug an der Wand hält zusätzlich ein kleines Bisschen die Kälte von der Pritsche fern.

Nachdenklich schaue ich auf den bewusstlosen Mann zu meinen Füßen. Dann hoch zur Bodenluke überm Stallgang. Ich bin zwar dürr und kraftlos und zum Sterben müde nach diesem verrückten Abend. Aber wenn ich nicht will, dass meine Kinder lügen müssen, falls dieser Fremde noch weiter gesucht wird, dann muss ich jetzt noch einmal Kraft aufbringen.
Ich hänge also so leise wie möglich den Hausrat von der Leiter ab, nehme sie von der Wand und lege sie unter der Bodenluke schräg auf die niedrige Wand vom Geflügelverschlag. Die große Luke schiebe ich von unten her mit einem langen Stecken beiseite. Ich zerre den Mann zur Leiter und binde ihn daran fest. Dabei entdecke ich, dass durch den Matsch an seiner rechten Schulter Blut sickert.
Diese Nacht wird lang. Oder kurz - je nachdem, wie man es betrachtet...
Ich krabbele unter die Leiter und hebe sie mit meinem Rücken an, indem ich mich an der Wand hochziehe. Mit aller Macht stemme ich die Leiter immer steiler, bis ich sie an dem Rand der Dachluke anlegen kann.
Hoffentlich hält das alles!

Irgendwie schaffe ich es, lautlos an dem Fremden vorbei die Leiter hoch auf den niedrigen Boden zu steigen. Ich bin schon so erschöpft, dass ich fast wieder runterpurzele. Doch ich bin noch nicht fertig. Mit letzter Kraft ziehe ich nun die ganze Leiter mit dem Mann daran hoch auf den Dachboden. Ich schnaufe ziemlich und lausche dann einen Moment nach unten, ob die Kinder noch schlafen. Aber der Donner vom Gewitter verschluckt alle anderen Geräusche. Ich raffe Stroh in der einzigen Ecke zusammen, wo es nicht durchregnet, baue ein Lager und ziehe den Mann dort hin.

Dann lasse ich die Leiter wieder hinunter und sammele zusammen, was ich brauche. Ich fülle einen Krug mit Wasser und greife einige saubere Lappen. Ich nehme etwas Glut und bringe Holzreste in meiner Feuerschüssel zum Brennen. Ich hole den Korb mit Jakob Adams Kleidung unter der Pritsche hervor und schaue, was ich dem Fremden gleich anziehen und was ich als Lappen und Verband brauchen kann.
Dieser Mann ist groß. Aber Jacob war auch groß. Das wird passen.
Schließlich schaffe ich das alles auf den Dachboden.
In meiner Erschöpfung dauert es eine Weile, bis ich den Verletzten aus der klatschnassen, völlig verdreckten und stinkenden Kleidung geschält habe.
Das muss ich irgendwann unauffällig waschen.
Seine Stiefel auszuziehen, ist mühsam. Sie sind gut angepasst und obendrein vom Matsch völlig glitschig. Ich kann aber sehen, dass sie aus edlem Material sind und also wohl nicht ganz billig waren.
Er wird sicher ein wohlhabender Reisender sein, der sich im Sturm verirrt hat und dann im Wald ein paar Wegelagerern in die Hände fiel.

Als ich Wams, Hemd, Beinlinge, Strümpfe und Bruche endlich ausgezogen habe, bedecke ich schnell seine Mitte und beginne dann, ihn von Kopf bis Fuß zu waschen. Er zittert nun noch stärker in der Kälte, wird aber nicht wach. Im schwachen Licht meiner Feuerschale erkenne ich, dass die Wunde an der Schulter noch immer blutet. Eine weitere Wunde ist an seinem rechten Unterarm, die ist jedoch kleiner und wohl nicht gefährlich.
Mit einem Griff an seine Stirn erkenne ich, dass er trotz der Kälte bereits Fieber bekommt. Also muss ich mich nun beeilen. Sorgfältig reinige ich die Wunden und hoffe, dass sie sich nach dem Bad im Schlamm nicht allzu sehr entzünden werden. Ich verbinde seine Wunden mit Leinenstreifen und hoffe, dass die Blutung bald aufhört. Die alte Lene ist zwar kräuterkundig und absolut vertrauenswürdig. Aber je weniger Menschen wissen, dass dieser Mann hier auf meinem Dachboden vor sich hin fiebert, desto besser. Ich ziehe ihm eine frische Bruche und Beinlinge an und bekomme irgendwie auch seinen Oberkörper in Jacob Adams einziges Alltagshemd. Am rechten Ärmel trenne ich vorsichtig mit einem Messer die Naht auf, damit ich weiterhin an die Schulter heran kommen kann.

Als ich den Fremden schließlich sauber und in einige Tücher gewickelt auf das Strohlager gehievt habe, betrachte ich ihn noch ein paar Augenblicke, bevor die letzte Flamme in meiner Feuerschale erlischt. Er hat braune, kurze Locken, die sich feucht um seine Stirn kringeln, und helle, gepflegte Haut, hat sich offensichtlich am Morgen noch glatt rasiert. Seine Kleidung kann ich nicht erkennen vor lauter Schlamm, aber schon beim ersten Abwischen weiß ich, dass sein Wams dick und von guter Qualität und seine Stiefel wirklich teuer sind. Ich frage mich, warum er keinen Umhang oder wenigstens eine Gugel getragen hat bei dem Wetter. Aber vielleicht haben ihm die Wegelagerer den Mantel entwenden können.
Ich wusste schon vorher nicht, wie ich uns durch den Winter bringen soll. Nun weiß ich überhaupt nicht mehr, wie es weitergehen wird. Entweder habe ich in wenigen Tagen einen Toten auf dem Dachboden - oder noch einen kräftigen Esser mehr am Tisch. Und beides ist eigentlich nicht gut.

Ich kann nichts für den Mann tun, doch ich spüre, dass ich das muss und will. Ich greife also die Kleidung des Fremden, krabbele die Leiter hinunter und hänge die wieder an die Wand. Ich verstaue die verschmutzten Kleider im Schuppen beim Feldgerät und hänge meinen Hausrat wieder an die Streben der Leiter. Dann falte ich meine Hände zum Gebet und bringe wie so oft in diesen dunklen Tagen meine Bitte zu Gott, dass er uns und diesen Fremden bewahren möge, und dass es sich nicht als Fehler herausstellen möge, ihm geholfen zu haben.
Kaum habe ich das Amen zu Ende gedacht, meldet sich schon wieder Peter. Er wird eben einfach nicht satt. Doch inzwischen bin ich zu erschöpft, um noch zu sitzen. Darum greife ich mir meinen Jüngsten und lege mich zum Nähren einfach auf die Pritsche neben Jakob und Susanna. Und endlich finde ich etwas Schlaf.

Bereits in den frühen Morgenstunden werde ich jedoch wieder wach. Die Ziegen meckern und wollen gemolken werden. Draußen ist es noch dunkel, aber der Sturm hat nachgelassen, Blitze und Donnergetöse sind weiter gezogen. Zum ersten Mal seit Wochen hat sogar der Regen aufgehört. Während ich mir noch gähnend einen Zopf flechte und mein Tuch fester um meine Schultern ziehe, um zu Zick und Zack zu gehen, höre ich ein Schnauben direkt neben meinem Kopf.
Was war DAS denn? Außer dem Dorfvogt und zwei Bauern hat doch hier keiner ein Pferd! Und schon gar keines, das im Winter zu dieser Stunde durchs Dorf spaziert.
Eine gebrochene, schmerzverzerrte Stimme hallt durch meinen Kopf.
Das Pferd. Sie dürfen es nicht finden.
Schlagartig bin ich völlig wach, schlüpfe in meine Holzklompen und eile nach draußen. Wenn ich jetzt noch wüsste, wo ich sein Pferd verstecken kann, dann würde im gesamten Dorf niemand wissen, dass ich hier jemand auf meinem Dachboden habe.

Ich eile an die Seite der Hütte, wo an der Wand neben der Schlafpritsche tatsächlich ein großer Brauner steht. Ich sehe sofort, dass das nicht der Gaul vom Dorfvogt ist. Das Tier ist nass und erschöpft, es tropft aus der Mähne, der Sattel und die daran befestigten Taschen sind aufgeweicht. Aber ich kann auf die Schnelle doch erkennen, dass der Sattel fein gearbeitet, aufwändig geschmückt ist, das Zaumzeug mit Metallbeschlag, die Satteltaschen aus gewachstem Tuch voll und schwer. Und dieses Pferd ist ein edles Reittier. Als ich nach dem Tier greifen will, legt es die Ohren an und weicht zurück.
Wie komme ich jetzt an den Schönen ran?

Ich eile in den Verschlag und hole das verschmutzte Hemd. Wo es vom Wams bedeckt war, ist der Stoff einigermaßen sauber. Keine Ahnung, ob da von dem Fremden noch was zu riechen ist, aber ich muss es versuchen. Bald wird das Leben im Dorfe sich regen, und bis dahin muss ich das Pferd außer Sicht geschafft haben. Ganz langsam gehe ich auf den Braunen zu und halte ihm das Hemd entgegen. Misstrauisch, mit vorgestrecktem Kopf und immer noch angelegten Ohren schnuppert das Tier daran - und macht einen Schritt auf mich zu. Noch einen. Schließlich kann ich ihm in die Zügel greifen und es hinter die Kate führen. Das Tier ist groß, aber es passt so grade eben im ganzen unter das heruntergezogene Dach, wenn ich dort Platz schaffe. Schnell räume ich ein wenig auf, führe das Pferd dort hinein und schiebe den kaputten Karren so davor, dass das Tier nicht sofort zu sehen ist und auch nicht gleich wieder davon laufen kann.
Noch ein Esser mehr...
Ich sattele das Tier ab, lege ihm eine alte Decke über den Rücken und trage Sattel, Zaumzeug ganz nach hinten, wo ich alles mit den alten Säcken bedecke.
Schnell eile ich wieder ins Haus, denn nun höre ich neben dem heftigen Gemecker der Ziegen auch die dünne Morgenstimme meiner kleinen Tochter.

Peterchen schläft noch, während das gut dreijährige Sannchen nach mir jammert. Auch der fünfjährige Jakob wird nun wach, reibt sich die Augen und nimmt gleich seine kleine Schwester in die Arme. Ich kann ja gar nicht anders, und wenn ich noch so wollte. Die Kinder sind zu klein, um sie irgendwo alleine zu lassen, also muss ich sie immer mitschleppen oder dem kleinen Jakob zumuten, schon der Große im Haus zu sein, mit seinen fünf Jahren verständig zu sein, auf die Kleinen aufzupassen, mitzuarbeiten. So weiß er auch genau, dass Susanna nicht jammern darf, weil sonst der Peter wach wird. Schnell beruhigt er also seine Schwester und regelt, dass die beiden sich, so warm es eben geht, anziehen.
Ich kann derweil Zick und Zack melken und jedem der Kinder einen Becher Milch reichen. Hungrig strecken sie ihre Arme nach den Bechern aus. Jakob mit seinen tiefblauen Augen und dem strohblonden Haar und Susanna, die meine leuchtend grünen Augen und die leichten, dunkelbraunen Locken geerbt hat, schauen mich dankbar an. Mit dieser ersten Mahlzeit im Bauch schiebe ich die Kinder zur Tür hinaus.

Die Nachbarn haben sich nach Bauer Adams Tod darauf verständigt, dass sie mir umschichtig die Kinder für eine Mahlzeit am Tag abnehmen und sie beschäftigen, weil ich sonst den Frondienst nicht leisten und das Haus, den winzigen Acker, das Vieh nicht versorgen könnte.
Jakob bringt also Susanna wie jeden Morgen zur Nachbarin Irmel Krumm, die sie ein klein wenig helfen lässt, damit das Kind aus meiner kalten Hütte kommt. Und nebenbei bekommt Susanna dort jeden Tag zum Mittag eine Mahlzeit. Dann geht Jakob selbst rauf zur Müllersfamilie auf dem Hügel hier, wo er unter der Woche nach einem Morgenbrei bei kleineren Arbeiten in der Mühle oder im Haus hilft.

Die kleine Stadt Gieboldehusen mit dem Umland, ein paar Dörfer, ein Waisenhaus, ein kleines, von ein paar alten Nonnen geführtes Hospiz und natürlich der Grenzwald in den Niederungen der Rhuma gehören zum Lehen Gieboldehusen im Herzogtum Grubenhagen. Wir haben alle zu wenig Ernte gehabt, aber der Zusammenhalt in diesen Dörfern ist fast sprichwörtlich im Lande. Der habgierige, bösartige Verwalter des jungen Lehnsherrn schweißt uns zusammen, wir haben gar keine Wahl. Natürlich gibt es mal Streit mit dem Nachbarn. Aber wenns ans Überleben geht, halten wir fest zusammen. Ich weiß, wenn es irgend gehen wird, werden die anderen im Dorf mich und die Kinder mit durchfüttern.

Ich hole mir einen Hammer aus dem Schuppen und schlage die Nägel meines Türriegels fest ins Holz, damit die Türe wieder schließt. Anschließend hänge ich einen Topf mit Wasser zum Kochen über das Feuer und fache es an. Nach und nach suche ich mir zusammen, was ich für meinen verletzten Gast auf dem Dachboden brauchen könnte, und lege schon mal alles oben an den Rand der Luke. Als das Wasser kocht, steige ich mit einem Krug die Leiter hinauf und betrachte bei etwas mehr Licht den Mann auf meinem Dachboden. Es ist eisekalt und feucht hier oben. Dennoch fiebert er stark, und die Locken kleben ihm schweißnass an der Stirn. Ich kontrolliere die Wunden, die nun beide nicht mehr bluten, säubere sie nochmal etwas gründlicher und lege einen neuen Verband an. Ich mache kalte Wickel um die Waden und lege ihm einen kalten Lappen auf die Stirn. Wach wird der Mann dabei nicht, auch wenn er nicht mehr bewusstlos zu sein scheint. Ich flöße ihm etwas von dem nun lauwarmen Wasser ein, damit er mir hier oben nicht verdurstet.
Den schafft hier so schnell keiner weg. Der stirbt, bevor er aus dem Dorf raus ist.
Auf dem Weg nach unten nehme ich ein paar Hände voll Stroh und Heu für die Ziegen und das Pferd mit.
Das darf ich aber nicht zu oft machen müssen, sonst verhungern mir alle drei Tiere, bevor die Rauhnächte um sind.

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24.11.2021

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