47 - Krönung und Vasalleneid

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SO. 15.4. a.d. 1571

Natürlich habe ich Ludo dann doch beim Fahneneid begleitet gestern. Ich habe das Bedürfnis, ihn zu erleben bei dem, was er tut, ihm nahe zu sein, solange ich noch kann. Da er nun schon seit Monaten die Regierungsgeschäfte führt, ist er im Grunde in alles eingearbeitet.

Gegen Mittag haben wir gemeinsam unsere Vettern, die Herzöge von Braunschweig und Lüneburg, in Empfang genommen. Sie haben mir nach dem Abendessen ein bisschen auf den Zahn gefühlt, aber ich hatte den Eindruck, dass sie einfach verstehen wollten, was mich zu dem Schritt bewogen hat. Da Ludo und ich uns so einig sind mit allem, haben sie gerne noch einmal mündlich ihr Einverständnis zum Rollentausch bekräftigt.

Der Ostermorgen dämmert frisch herauf. Sicher können wir in den Tagen nach Ostern noch viel Zeit miteinander verbringen und uns ein bisschen auf meine Belange konzentrieren. Aber hier und heute ist Ludos Tag. Seine Krönung zum Herzog von Grubenhagen.
Als ich früh zum gemeinsamen Mahl zu Ludos Gemächern gehe, finde ich ihn sehr schweigsam und in sich gekehrt, während sein Kammerdiener ihn sorgfältig einkleidet. Weiße Strümpfe und Schuhe, ein weißgoldenes Wams und Pluderhose lassen ihn sehr feierlich, streng und edel aussehen. Kurz schaut er mir in die Augen, bevor er sich wieder auf die Falten seines Spitzenkragens konzentriert.

„Und? Aufgeregt?"
„Doch, schon. Aber es wäre wohl auch seltsam, wenn ich diesen Tag kalt und gefühllos wie ein Fisch einfach hinter mich bringen würde."
Sein Kammerdiener zuppelt nochmal hier und da eine Falte aus dem Gewand, verbeugt sich dann und lässt uns allein. Wir setzen uns zu Tisch.
„Sei einfach an meiner Seite, Hannes. Dann werden wir gemeinsam alles schaffen, was in Gottes Namen menschenmöglich ist. Auch wenn du drei Tagesritte weit weg bist. In meinem Herzen wirst du immer bei mir sein."

Schweigend essen wir zu Ende. Schweigend gehen wir durch das Schloss, vorbei an endlosen Reihen sich verbeugender Diener, treten in den großen Schlosshof und schreiten über den roten Teppich auf die offene Kutsche zu, die uns zur Stadtkirche bringen wird. Selbst über die hohen Mauern des Hofes sind das Geschnatter und die Hochrufe von den Straßen zu hören. Eskortiert von Reitern in Prachtuniformen rollen wir aus dem Tor. Der Jubel der Menschen ist ohrenbetäubend. Lächelnd schauen wir nach links und rechts, winken und fangen die Blumen auf, die uns in den Wagen geworfen werden. Schier unübersehbar ist die Menge an hochgereckten Köpfen und winkenden Händen, als wir vor der Stadtkirche anhalten.

Nun lasse ich Ludo den Vortritt. Karl tritt herzu, und wir reihen uns hinter Ludo ein, der feierlich langsam über den roten Teppich die Stufen hinauf und in die Kirche schreitet. Bis in den letzten Winkel ist die Kirche besetzt mit den geladenen Gästen aus nah und fern, und alle erheben sich bei Ludos Einzug. Die erhabenen Klänge der von Mutter in Auftrag gegebenen Scherer-Orgel erfüllen das Gewölbe. Vorne angekommen setzen wir uns zu dritt vor Bischof Ansgar am Altar. Er ist eigens zur Krönung aus Hildesheim angereist. Der festliche Gottesdienst beginnt mit Gesängen und Gebeten, bis der Bischof schließlich mit einer Handbewegung für Stille sorgt.

Ludo holt tief Luft, erhebt sich, tritt vor den Altar, kniet nieder und neigt das Haupt. Der Bischof spricht einen Psalm, dann nimmt er vom Altar ein Döschen mit Salböl und macht auf Ludos Stirn das Kreuzzeichen. Ich empfinde tiefe Demut vor Ludo, vor seiner inneren Haltung, vor seiner bereitwilligen Annahme dieser verantwortungsvollen Aufgabe. Möge Gott ihm gnädig und weise zur Seite stehen! Nun kniet Ludo nieder und neigt erneut das Haupt. Es ist totenstill in der Kirche, als der Bischof ihm nach einem Gebet die Krone aufs Haupt setzt. Feierliche Orgelmusik sorgt für einen Moment Innehalten, bevor sich Ludo von den Knien erhebt, sich wieder zwischen Karl und mich setzt und der Bischof den Gottesdienst mit Liedern und Gebeten beendet.

Wiederum erheben sich alle, als wir durch die Stadtkirche zum Ausgang schreiten. Vor dem Portal empfängt uns ein so unbeschreiblicher Lärm, wie ich ihn nach dem Geschrei auf dem Hinweg nicht mehr für möglich gehalten hätte. Während wir mit unserer berittenen Eskorte nun auf einem anderen, längeren Weg zurück zum Schloss rollen und wegen der wartenden, schiebenden Menge immer wieder anhalten müssen, streben die anwesenden Adeligen aus der Kirche zu ihren Kutschen, um auf direktem Wege zum Schloss zu eilen. Ich bewundere die ausgeklügelte Organisation dieses Tages.
Was bin ich froh, dass ICH das nicht organisieren musste! Da ist mir ja mein zugiger Dachboden bei Anna noch lieber!
Ich bin ehrlich dankbar, dass ich einfach nur lächeln und winken muss.

Je näher wir dem Schloss kommen, desto dichter ist das Gedränge, aber schließlich rollen wir doch in den Schlosshof. Ludo, mit Karl und mir im Gefolge, schreitet die breite Treppe empor. Dort reihen sich die Minister und Räte hinter uns ein und folgen uns zum Thronsaal. An der weit geöffneten Eingangstür bekommt Ludo den Herzogenmantel umgehängt, man legt ihm mehrere schwere Ketten mit Orden um den Hals, auf einem roten Samtkissen werden ihm Zepter und Reichsapfel als Insignien seiner Macht gereicht. So ausgestattet schreitet er in den Thronsaal, wo sich wiederum alle vor ihm verbeugen.

In aller Ruhe hält er einen Moment inne, schließt die Augen, atmet tief, bevor er sich die Stufen hinauf zum Thron begibt, sich umdreht und sich setzt. An seiner rechten Seite sitzt Bischof Ansgar, zu seiner linken lassen sich nun die Vettern aus Braunschweig und Lüneburg nieder. Es ist jetzt bereits Mittag, mir knurrt der Magen und mir graut davor, dass jetzt noch drei Stunden lang alle Edlen unseres Landes aufmarschieren werden, um ihren Vasalleneid zu erneuern. Doch zum Glück hat Ludo vorgesorgt. Nachdem er feierlich als Herzog den Thron eingenommen und alle Anwesenden mit den alten, vorgeschriebenen Worten als seine Untertanen begrüßt hat, kommen auf einmal unzählige Bedienstete mit Tabletts voller kleiner Speisen und Getränke in den Saal. Sie verteilen sich in Windeseile und sorgen dafür, dass niemand vor Hunger oder Durst umfällt.

Ludo hat wirklich an alles gedacht. DAS stand bestimmt nicht im traditionellen Protokoll! Aber ich beschwere mich nicht. Und ich sehe auch an den anderen Gesichtern, dass niemand böse ist über diese eigenwillige Veränderung der überlieferten Abläufe.
Irgendwann entsteht Geplauder im Raum, und die Gäste greifen kaum noch zu bei den gereichten Köstlichkeiten. Ludo hat dies sofort aufmerksam beobachtet und spricht nun die Anwesenden erneut an. Und so beginnt der Reigen. Fahne grüßen, niederknien, Schwertknauf küssen, vor dem Siegelring verbeugen und den Eid aufsagen. Einer nach dem anderen. Immer wieder.

In einem Punkt haben Ludo und ich uns im Vorfeld beinah gestritten. Denn als Lehnsmann im Herzogtum Grubenhagen bin natürlich auch ich verpflichtet, meinem Herzog den Vasalleneid zu leisten. Ludo wollte das aber auf keinen Fall annehmen. Auch auf die Einwürfe unserer Rechtsgelehrten wollte er nicht hören. Erst, als der alte Pagenstecher ihn beiseite genommen und mit ihm seinen inneren Widerstand besprochen und gelöst hatte, konnte Ludo annehmen, dass sein verehrter älterer Bruder vor ihm knien und ihm huldigen wird.
In aller Gelassenheit spult er wieder und wieder dieselben Handlungen und denselben Eid ab und schenkt jedem einzelnen seiner Vasallen einen Moment Aufmerksamkeit. Als ich als Letzter vor den Thron trete, überläuft ihn ein kleines Zittern. Er hat zugestimmt, aber er fühlt sich sichtbar nicht wohl.
Ich sollte an seiner Stelle dort sitzen. Hat er nun doch Zweifel? Ich hab das doch gewollt!
Bevor ich niederknie, sehe ich ihm einen Moment lang direkt in die Augen und lächele ihn an. Ganz leise mache ich ihm Mut.
"Ich bin stolz auf dich, kleiner Bruder!"
Nur die drei, die neben ihm stehen, können das gehört haben. Und es hilft. Ludo entspannt sich und lächelt zurück.

Er nickt mir zu, und ich knie vor ihm nieder. Ich leiste wie alle anderen den Vasalleneid und schwöre unserem neuen Herzog treue Gefolgschaft. Ich grüße die Fahne, ich küsse das Schwert, ich verbeuge mich vor dem Siegelring an seiner Hand. Es fühlt sich richtig an. Ich bin genau da, wo ich sein will und hingehöre.

Noch etwas hat Ludo entschieden, das eigentlich nicht zum Protokoll gehört. Da nun alle Adligen seines Landes sowieso anwesend sind, hat er schon vorher verlauten lassen, dass die folgenden Stunden dazu dienen sollen, dass jeder hier seine Angelegenheiten vor ihm darlegen darf, sofern es seine Hilfe dazu braucht. Also löst sich die Versammlung in lockere Grüppchen auf, während Ludo in einem Nebenraum die vorher angemeldeten Gespräche führt, Streitigkeiten schlichtet, Fragen beantwortet. Seine Berater stehen ihm zur Seite, und so kann mancher von diesem Wochenende hinterher nach Hause fahren mit dem guten Gefühl, gehört worden zu sein. Erst gegen Abend leert sich allmählich der Thronsaal, nachdem Ludo noch einmal auf dem Thron Platz genommen und kurz zu den Anwesenden geredet hat. Er spricht nochmal seine Einladung zum Ball am Montag Abend und zum Turnier am Dienstag aus und verabschiedet die Anwesenden. Auch seine Berater und die Verwandten ziehen sich nun zurück.

Stille senkt sich auf den großen Raum. Schließlich stehen nur noch Vater und Sohn Pagenstecher und ich vor dem Thron. Langsam fällt die Anspannung von uns ab. Schweigend sehen wir uns an. Dann lächelt Ludo leise.
„Sind alle weg?"
Wir anderen nicken. Da steht er auf, steigt vom Podest, tüddelt sich den Mantel vom Hals, wirft ihn achtlos hinter sich auf den Thron, lässt die Krone hinterher wandern und nimmt Karl und mich einmal fest in die Arme.
„Danke, Hannes, dass Du darauf bestanden hast. In dem Moment, wo du mich angelächelt hast, habe ich gemerkt, dass es mir gut tut, so ganz offiziell zu wissen, dass du immer zu mir stehen wirst. Ich weiß es ja auch so. Aber in dem Moment habe ich es gefühlt."

Dann richtet er seinen Blick auf den alten von Pagenstecher.
„Und Ihr, treuer Freund unseres Vaters, werdet nun auch mir treu zur Seite stehen. Ihr ahnt nicht, wieviel mir das bedeutet, denn Ihr seid mein Bindeglied zur Vergangenheit, mein Garant für einen guten Übergang in die Zukunft. Eure Weisheit und Erfahrung werden mich leiten."
Der alte von Pagenstecher hat Tränen in den Augen, als er sich vor Ludo verbeugt.
„Es ist mir eine Ehre, Hoheit. Ich habe Euch aufwachsen sehen, und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als Euch nun auch zu dienen."
„Dann lasst uns gemeinsam zu Abend speisen. In den nächsten beiden Tagen haben wir noch Trubel genug. Heute darf es ruhig sein."
Ludo lädt uns mit einer Handbewegung ein, und wir gehen gemeinsam in den Speisesaal, wo wohltuende Leere und Stille herrscht. Nur ein paar leise herumhuschende Diener warten uns auf. Wir lassen uns Zeit, speisen genüsslich, unterhalten uns dabei locker und genießen die Vertrautheit. Bis wir schließlich entspannt in unsere Betten gehen.

MO. 16.4. a.d. 1571

Ein neuer Tag beginnt. Ich erwache als der Bruder des Herzogs von Grubenhagen. Und es fühlt sich wunderbar an. Während gestern der festliche Gottesdienst zur Krönung von Ludo war und anschließend alle Adligen unseres Landes in endloser Folge ihren Vasalleneid geleistet haben, wird es heute vor der Stadt Geschenke fürs Volk geben.

Wir fahren mit einer Kutsche zum großen Paradeplatz vor der Stadtmauer. Zahllose Menschen haben sich versammelt, manche haben sicher schon seit Stunden gewartet, um einen guten Platz zu bekommen. Bei zwei Scheunen am Rande des Platzes warten Musikanten, um später zum Tanz aufzuspielen, vor und in den Scheunen sind lange Tafeln mit Bänken für all die hungrigen Mäuler aufgestellt. Überall brennen Feuer, auf denen ganze Ochsen gebraten werden, Brot steht zur Verteilung bereit. Aber der Platz ist großräumig abgesperrt. Ludo hat lange überlegt. Er wollte die eigens mit seinem Bildnis geprägten Groschen nicht einfach in die Menge werfen, wie es eigentlich üblich ist. Er wollte, dass es gerecht zugeht, dass jede Familie, egal wie groß sie ist, sein Geschenk wirklich spüren kann.

Wir fahren mit der Kutsche an den Eingang der Absperrung. Ludo und ich stehen jeweils auf einer Seite der Kutsche. Auf einen Fanfarenstoß hin wird es deutlich stiller in der Menge, und Ludo kann ein paar Worte sagen, die wie Lauffeuer durch die Reihen bis ganz nach hinten weitergesagt werden. Jubel brandet auf, als er den Menschen sagt, dass er sich Frieden für sein Land wünscht, dass er Hunger und Elend mildern will. Schließlich erklärt er, wie er nun das Geld verteilen will, und bittet darum, dass niemand drängeln und schieben möge, damit keines der Kinder dabei erdrückt würde.

Dann lassen die Männer der Stadtwache die Wartenden an beiden Seiten unserer Kutsche entlang auf den Platz laufen. Zum Erstaunen aller verteilen wir nun an jeden – Mann, Frau, Kind, alt wie jung – zwei Groschen. So bekommt eine große Familie genauso genug für jeden wie eine kleine Familie. Wir drücken runzlige Hände, streicheln kleine Köpfe, sagen gute Worte.

Schnell verläuft sich die Menge auf dem gesamten Platz, die Tische in den Scheunen werden besetzt, überall um die Feuer lagern sich Menschen. Als wir schließlich mit dem Verteilen fertig sind, gehen wir zu Fuß durch die Menge. Ludo schneidet den ersten Ochsen an und heißt den Braumeister, das erste Fass Bier anzustechen. Die Stimmung steigt, das Bier fließt in Strömen.

Als dann die Musiker zum Tanz aufspielen, verabschieden wir uns winkend, gehen zurück zur Kutsche und fahren nach Hause. Die Stille in den leer gefegten Straßen ist eine reine Wohltat.

Am Abend findet ein weiteres Festbanket mit Ball statt. Allmählich macht sich die Anstrengung der bedeutsamen Tage auch bei Ludo bemerkbar. Aber er hat für heute noch eine wundervolle Ankündigung, und als alle Gäste im Ballsaal eingetroffen sind, nickt er der Familie von Pagenstecher zu. Der Vater und seine beiden Kinder Karl und Clara setzen sich in Bewegung. Dann verschafft sich Ludo Gehör.
„Sehr verehrte Gäste! Mit dem gestrigen Tag habe ich die Nachfolge meines Vaters angetreten. Es beruhigt und es ehrt mich, dass ich in Euch allen treue, vertrauensvolle Gefolgsleute an meiner Seite weiß. Aber wir haben heute noch etwas zu feiern."
Ludo macht eine kleine Kunstpause und lächelt in den Saal. Dann schaut er Clara an.
„Denn ich habe die Ehre, diesen Ball zu eröffnen mit der Frau, die an meiner Seite Eure Herzogin sein wird."
Clara sinkt in einen tiefen Knicks, Ludo tritt auf sie zu und küsst ihre Hand, und im Saal brandet Jubel und Applaus auf. Über Claras Gesicht legt sich ein leicht verlegener Schimmer, doch dann strahlen die beiden einander an, während Ludo seine Braut in die Mitte führt.

Sie nehmen Tanzaufstellung ein. Innerhalb kürzester Zeit haben sich im Saal viele weitere Paare gebildet, die sich für eine italienische Branle* aufstellen. Die Musik setzt ein, und die Tänzer drehen, schreiten und springen zu der schwungvollen Musik.

Während sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die Paare in der Mitte richtet, stellen sich leise Karl und Gunther von Thaden an meine Seiten.
„Wirst du es vermissen?"
„Das hier? Für mich als jungem Burschen war es ein Vergnügen, ganz unverbindlich und mit keiner Dame am Abend zweimal das Tanzbein zu schwingen. Aber das hier – nein, das werde ich nicht vermissen. ... Wie steht es mit Euch, von Thaden?"
Von Thaden schüttelt lächelnd den Kopf.
„Ganz bestimmt nicht, Herr. Ich bekäme sofort einen Knoten in die Füße und würde zum Gespött der Versammlung. Da ginge ich lieber zu einem fröhlichen Bauernreigen."
Ich grinse.
„Das könnt Ihr haben. Ich nehme Euch beim Wort!"
Karl lacht nur und mischt sich nun auch unter die Tanzenden.
So habe ich dann am Rande Zeit, noch einmal mit meinem zukünftigen Verwalter zu beraten und ihm Mut für sein „Ausreißen" von zu Hause zu machen. Ich selbst werde erst wieder in etwa zwei Wochen in Gieboldehusen sein. Darum muss auch er sich nicht hetzen. Stattdessen sehe ich mich im Raum um.

Ich will grade zu einem Bekannten hinsteuern, als ein Paar auf mich zutritt und sich verbeugt. Vergeblich suche ich in meinem Hinterkopf nach den Namen. Zum Glück stellt der Herr sich und seine Gattin gleich selbst vor.
„Von Bottlenberg-Schirp, Hoheit. Es ist uns eine Ehre."
Ich grüße das Paar herzlich und bin gespannt, ob sie ein bestimmtes Anliegen an mich haben. Da meldet sich die Dame zu Wort.
„Hoheit, es mag Euch seltsam erscheinen ... Ich bin eine Botin. Ein kleiner Junge hat mich beauftragt, Euch einen Brief zu bringen. Wenn Ihr denn der Hannes seid, von dem er glaubt, dass er der Bruder des neuen Herzogs sei."
Abwartend sieht sie mich an, und auch im Gesicht ihres Mannes kann ich erkennen, dass er unsicher ist, was ich von diesem seltsamen Ansinnen wohl halte.
Ich hingegen durchforste mein Hirn, welcher kleine Junge mich als Hannes kennen und mir einen Brief schreiben und auch noch den Schneid haben kann, Adlige anzusprechen und sie zu bitten, den Brief zu mir zu bringen.

Das kann doch eigentlich nur Jakob sein. Aber dass Anna ihn das hat machen lassen!

„Es gibt einen Jungen, der mich Hannes nennt und weiß, dass ich der Bruder des neuen Herzogs bin. Es ist der kleine Jakob in Lütgenhusen. Hat Euch Euer Weg auf der Anreise durch das Dorf geführt?"
Die Dame nickt.
„Ja, Hoheit. Wir mussten einen Schmied aufsuchen, weil eines der Kutschpferde ein Hufeisen verloren hatte. Während wir gewartet haben, kam der Kleine mutig zu uns und hat seine Bitte ausgesprochen. Ob er das wirklich selbst geschrieben hat, wage ich nicht zu beurteilen, aber hier ist sein Brief."
Sie greift in die Falten ihres Rockes, zieht ein einfaches, zusammengelegtes Blatt Papier hervor und reicht es mir.
Ein aufgeregtes Kribbeln erfasst mich. Jakob hat mir einen richtigen Brief geschrieben! Ich muss mich sehr beherrschen, ihn nicht sofort zu lesen.
„Habt Dank, dass Ihr Jakob so viel Freundlichkeit erwiesen habt. Er ist ein tapferer, kleiner Kerl mit einem ganz sonnigen Wesen. Er wird glücklich gewesen sein, dass Ihr seiner Bitte nachgekommen seid."
Die Dame lächelt.
„Oh ja, Euer Hoheit. Als wir wieder abfuhren, kam er noch einmal an die Kutsche gesprungen und rief mir zu:'Sagt dem Hannes, dass ich ihn lieb habe!' Ein zauberhaftes Kind."

Nun meldet sich auch ihr Gatte zu Wort.
„Ich habe es nicht glauben wollen. Ich dachte erst, er spricht von einem Stallburschen oder Diener namens Hannes und wollte schon mit ihm ob seiner Respektlosigkeit schimpfen. Aber nun sehe ich, dass Ihr, Hoheit, in der Tat die Liebe Eures Volkes besitzt. Mit Verlaub – Ihr solltet den kleinen Mann bald besuchen. Es hat so viel Sehnsucht aus seiner Stimme gesprochen!"
Wir plaudern noch etwas, und kurz danach entfernen sich die von Bottlenberg-Schirps wieder. Wie versteinert stehe ich da, mit von Thaden an meiner Seite, stumm in mich hineinhorchend, mit dem Brief in der Hand. Brennende Sehnsucht nach Anna und den Kindern erfasst mich und wirft mich fast aus der Bahn.
„Herr?"
Leise spricht Gunther von Thaden mich an.
„Wollt Ihr Euch für einen Moment zurückziehen und allein sein? Wenn nicht, dann steckt den Brief weg, damit es Euch leichter fällt zu warten."
Ich hole tief Luft und stecke den Brief ein.
„Danke. Gunther."

Mit glühender Ungeduld überstehe ich den Rest des Abends. Ich kann das auch nicht ganz verbergen, denn Karl spricht mich darauf an, was mit mir los sei. Ich ziehe nur kurz den Brief hervor.
„Von Jakob. Selbst geschrieben. Überbracht von dort durchgereisten Adeligen."
Scharf zieht Karl die Luft ein.
„Verstehe. Das ist jetzt schwer. Aber sooo lange kann es nicht mehr dauern. Eigentlich sind doch alle längst des Feierns müde. Das schaffst du!"
Eine Stunde später ist der letzte Gast gegangen, ich sage Karl und Ludo gute Nacht. Und dann renne ich fast zu meinen Gemächern. Mit zitternden Händen entfalte ich das Papier und sehe gleich die mühevoll gemalten, vielen, vielen Buchstaben. Die Sehnsucht nach diesem wunderbaren Kind und der ganzen Familie reißt mich fast um.

Lieber Hannes!

Mutter hat mir erlaubt, Dir einen Brief zu schreiben. Pastor Crüger hat mir dabei geholfen. Ich bin so traurig, dass mein Knecht Hannes nicht wiederkommen wird. Du fehlst mir! Ich kann jetzt alle Buchstaben lesen und schreiben. Und wir haben ein kleines Zicklein und ganz viele kleine Küken. Susanna trägt die Küken immerzu in ihrer Schürze mit sich herum, weil sie sie warm halten will. Das Peterchen will jetzt laufen. Mutter muss viel hinter ihm herspringen, weil er nur Unsinn macht. Die Müllerin hat ein kleines Mädchen vom Osterhasen bekommen. Aber ich habe nicht verstanden, wie der Osterhas das gemacht hat. Ich vermisse Dich so sehr, Hannes. Bitte komm bald wieder. Dein Jakob

Und unten drunter steht klein in Annas Schrift: „Bitte nimm es ihm nicht übel. Er versteht es nicht besser."

Ach Anna. Ich verstehe ja deine Angst, aber ich nehme höchstens dir übel, dass du deinem Sohn und mir und deinem gütigen Gott so wenig zutraust. Jakob hat mit seinem Herzen so viel verstanden und mir seine ganze Sehnsucht anvertraut. Und der Junge ist einfach auch zu schlau für das Leben in dieser ärmlichen Kate. Er sollte zur Schule gehen können.
Aber ich fürchte, das wird Anna nie einsehen. Langsam falte ich den Brief wieder zusammen. Erst jetzt merke ich, dass mir die Tränen gekommen sind.

Ja, Jakob. Ich komme. Fest versprochen!

Nur langsam lässt meine Anspannung nach, ich kann noch lange nicht schlafen. Ich weiß inzwischen, wer Frau von Lenthe war. Aber wahrscheinlich kann nur ein Fund im Christophorus-Haus aufdecken, wer Anna sein könnte. Ich muss hoffen, dass Jochen Hannover dort mehr Erfolg hat als ich hier.
Wer Jakob ist, ist völlig klar. Aber was dieses Kind braucht, um seinen Platz im Leben zu finden, dass weiß ich wiederum nicht. Ist es richtig, ihn seiner Herkunft gemäß dort zu lassen, wo er ist? Oder ist es richtiger, ihn nach Kräften zu fördern, ihm damit neue Wege zu öffnen, aber unter Umständen den Weg zurück zu verbauen? Das ist das, was Anna fürchtet. Aber wer sagt, dass er zurück will, wenn er gebildet ist und ihm alle Türen offenstehen? Wer sagt, dass er zurück gehört?
Ich weiß die Lösung nicht. Ich weiß nur: Anna soll sich nicht mehr so plagen müssen. Während meine Gedanken schon wieder in der kleinen Kate hängen bleiben, schlafe ich schließlich doch ein.

Tjost Hannes


DI. 17.4. a.d. 1571

Vier Tage lang dauern die Festlichkeiten zur Krönung von Herzog Ludwig IV. Vier Tage lang lächeln, zuhören, lächeln, antworten, Rangordnungen beachten, Namen und Titel auswendig können, Reden halten, lächeln, lächeln, lächeln. Ich stehe fest an Ludos Seite und kann ihm manches abnehmen. Aber gleichzeitig bewundere ich ihn dafür, mit wie viel Herzblut er sich seiner Aufgabe widmet, wie gelassen und konzentriert und zufrieden er dabei ist.

Heute, am vierten Tage der Feierlichkeiten, wird es noch ein Ritterturnier geben, eine Tjost*. Eine der beliebtesten Belustigungen fürs Volk und ein wahrer Heiratsmarkt für edle Damen und Herren.
Der Festplatz vor der Stadt wurde dafür über Nacht völlig verwandelt. An zwei gegenüber liegenden Seiten wurden lange Tribünen aufgebaut, eine offene für das Volk, eine überdachte für die adligen Gäste. In der Mitte wurden Pflöcke für den Tilt* in den Boden gerammt. Auf der Seite des Volkes haben sich Händler mit warmen und kalten Speisen und Getränken aufgebaut. Und der Platz ist gesäumt von den Zelten der teilnehmenden Ritter. Schon früh am Morgen wird geflüstert und gebrüllt, Pferde wiehern, Kommandos schallen über den Platz und in den Logen für die Ehrengäste werden die letzten Sitze für die Damen aufgestellt.

Das Wetter lässt uns auch heute nicht im Stich, und so windet sich am Vormittag eine endlose Schlange von Kutschen und Fußgängern aus der Stadt zum Festplatz, nach und nach werden die Logen besetzt, Pferde werden gesattelt, Ritter und manche Söhne der adligen Gäste werden in ihre Rüstungen gesteckt. Die Stadtwache kontrolliert die Lanzen der Ritter, ob sie auch wirklich stumpfe Enden und eine Sollbruchstelle haben. Die Ränge auf den Tribünen fürs Volk füllen sich schnell, und entsprechend steigt auch das Gemurmel an.

Wir machen es uns in einer gemeinsamen Loge mit der Familie von Pagenstecher bequem. Auch die Vettern sitzen bei uns. Dann endlich ertönen die Fanfaren. Ein Herold ruft noch einmal die Regeln des Turniers aus. Die Kämpfer reiten in einer langen Reihe am Tilt entlang und stellen sich nebeneinander auf. Sie grüßen den Herzog. Und manch einer zwinkert einer der Damen zu oder bekommt sogar ein feines Tuch als Pfand und Glücksbringer an die Lanze geknotet. Längst sind diese Art Turniere keine Wehrübungen mehr sondern zu einem Sport geworden, bei dem die jungen Leute ihre Kräfte messen. Nun reiten die Kämpfer wieder vom Platz und stellen sich bei ihren Knappen und Lanzen auf.

Die Menge jubelt, die Ritter reiten gegeneinander an, die Herolde blasen in die Fanfaren, Händler laufen vor den Tribünen auf und ab und bieten Speisen und Getränke feil. Viele Schilde und Helme bekommen Beulen ab, manch einer geht auch zu Boden unter der Wucht des Aufpralls. Ich bin jedes mal erleichtert, wenn keiner der beiden Kontrahenten verletzt wird. Es ist nur noch ein Sport, aber ein gefährlicher Sport. Da bleiben nicht immer alle Knochen heil, wenn einer vom Gegner vom Pferd gestoßen wird, und mancher Kampf ist an Spannung kaum zu überbieten. Das Volk fiebert mit und johlt bei jedem Treffer. Manch edle Dame dagegen hält sich die Augen zu, wenn ihr Günstling zum Tilt reitet, weil sie es nicht mit ansehen kann.

Das ganze Turnier ist gut organisiert, und so steht vier Stunden später der Sieger fest, der sich von der Menge feiern lässt. Dann reitet er vor unsere Loge, verbeugt sich und holt sich von Ludo persönlich sein Preisgeld ab. Und nun reitet er zwei Logen weiter und stiehlt sich unter Gejohle der versammelten Menge von seiner Herzensdame einen Kuss, bevor ihre Eltern einschreiten können. Wir müssen uns das Lachen verkneifen. So eifrig sie an die Balustrade geflitzt war, damit sie niemand dran hindern kann, so verschämt wird sie nun rot wie eine Mohnblume und verkriecht sich hinter ihrer Mutter.

Während das Volk einfach da weiter macht, wo es gestern Abend aufgehört hat, und fröhlich feiert, grüßen wir noch einmal und fahren dann zurück in die Stadt. Nach einer Verschnaufpause kommt der letzte Programmpunkt. In einem der größeren Empfangszimmer halten wir uns bereit, es werden Erfrischungen angeboten und alle Gäste der Krönungsfeierlichkeiten können noch einmal zwanglos erscheinen und mit Ludo oder mir sprechen. Wir verabschieden die Gäste, wünschen Gottes Segen für die Heimreise, verbeugen uns, sind höflich. Und ich bete im Stillen, dass es nun wirklich bald ein Ende nehmen möge.

Gunther von Thaden kommt noch einmal auf mich zu mit einer Frage.
„Herr, ich ... habe einen Freund auf dem Gut meines Bruders. Wir sind zusammen aufgewachsen, und heute ist er meine rechte Hand. Ich ..."
Er traut sich nicht weiter, aber mir ist schon klar, worum er bitten möchte.
„Gunther, ich kann Eurem Bruder nicht alle seine Bediensteten ausspannen. Ein Mann, mit dem Ihr gut zusammenarbeitet, ist sicher zu brauchen und immer willkommen. Ich muss es aber Euch überlassen, wie Ihr es anstellen wollt, ihn ebenfalls loszueisen. Es könnte sein, dass Euer Bruder ihn grade nicht gehen lassen wird, damit er Euch ersetzen kann."
Ein Aufleuchten geht über sein Gesicht.
„Danke, Herr! Das dürfte kein Problem werden. Mein Bruder hasst ihn, der ganzen Familie ist es ein Dorn im Auge, dass ich mit ihm so gut bin. Sie werden froh sein, wenn ich ihn mitnehme. Und er wird froh sein, wenn er in der Fremde ohne Vorurteile einfach ein treuer Mann sein und gute Arbeit leisten kann."

Wohlwollend nicke ich ihm zu, wir verabschieden uns bis in zwei Wochen in Gieboldehusen und er geht beschwingt davon. Ein bisschen nachdenklich hat mich das allerdings schon gemacht. "... wenn er in der Fremde ohne Vorurteile ..." Warum sollte bei uns jemand Vorurteile gegenüber einem völlig Fremden haben? Gibt er denn Anlass dazu? Das ist seltsam.
Aber ich lasse die Frage bald wieder los, denn sie wird sich doch erst beantworten lassen, wenn die beiden bei mir eingetroffen sind.
Gegen Abend dann – endlich, endlich – ist der letzte Gruß gesprochen, der letzte Gast verabschiedet, die letzte Fanfare verklungen, die letzte Kutsche aus dem Hof gerollt. Auch die Famillie Pagenstecher verabschiedet sich. Wir speisen noch mit den Vettern zu Abend, weil diese erst morgen abreisen werden, und verabschieden uns zur guten Nacht.

Nach tagelangem Reden, Funktionieren und Lächeln ist uns beiden nun nicht nach Reden zumute. Schweigend gehen wir in das Schloss. Schweigend dirigiere ich Ludo in mein Zimmer. Schweigend trete ich an die Wandvertäfelung, öffne die Tür zum Geheimgang, entzünde eine Lampe und gehe voraus. Denn es gibt noch einen Gang, den wir als Kinder benutzt haben. Er führt auf das Dach des Schlosses, wo zwischen zwei Giebeln eine ebene Fläche ist, die von keiner Seite zu sehen ist. Hier hatten wir uns eine Hütte gebaut und eingerichtet. Aber wir waren seit Mutters Tod nicht mehr oben gewesen. Und nun wollte ich einmal nachsehen, wie es jetzt aussieht.

Als wir neben dem Schornstein des Hauptkamins auf das Dach treten, tauchen wir ein in die Welt unserer Kindheit. Die Bretterhütte, die sich an den einen Giebel geschmiegt hatte, ist längst eingestürzt. Die Kissen, die wir hier heraufgeschmuggelt hatten, sind verrottet und zu Mäusenestern verkommen. Aber ich stelle fest, dass das gar nicht weh tut. Es war eine wichtige, eine schöne Zeit. Eine Zeit, die mit Vaters Tod, meiner Reise und Ludos Krönung endgültig der Vergangenheit angehört.
Nur eine Sache gibt es noch, nach der wir beide automatisch anfangen zu suchen. Wir heben die morschen Bretter beiseite und schieben die Reste der Kissen auseinander. Und da liegt sie. Eine Metalldose, die Wind und Wetter standgehalten hat und uns rostig und verheißungsvoll entgegenblickt. Wir stapeln die Bretter zu einer wackeligen Sitzbank und nehmen die Dose in die Hände.

„Weißt du noch, was da drinnen ist?"
Ludo schüttelt den Kopf.
„Mir fiel nur schlagartig ein, dass sie da ist, als ich den Bretterhaufen sah." -
„Was könnte denn drin sein?"
Wir sehen uns an. Plötzlich wird Ludo knallrot. Dann zerrt er ungeduldig den Deckel von der Dose und greift nach den Papieren, die darin stecken. Sie sind etwas morsch und klamm, haben Stockflecken und irgendein Insekt hat wohl eine Geschmacksprobe genommen. Aber sie lassen sich problemlos auseinanderfalten und zeigen uns unsere noch kindlichen Handschriften. Es sieht aus wie einzelne Erinnerungen oder Wünsche oder Träume oder so etwas.

Sofort greifen wir beide nach den Zetteln mit jeweils unserer eigenen Handschrift. Von Ludo sind es drei, von mir zwei Zettel. Still lesen wir die in kindlich einfacher Schrift festgehaltenen Worte. Dann zeigen wir uns die Zettel gegenseitig. Ludos erster Zettel ist offensichtlich im Unterricht entstanden, denn er hat eine peinlich genaue Auflistung aller möglichen Adelstitel, nach Rang geordnet, untereinander geschrieben.

Mein erster Zettel erzählt einen Traum, den ich wohl hatte. Und ich bin wirklich verblüfft. Ich habe mich in Lütgenhusen ja dran gewöhnt, dass meine Träume eine Bedeutung haben. Aber dass ich als Zehnjähriger bereits geträumt habe, dass ich mal von Tieren umgeben sein würde, beeindruckt mich zutiefst. In meinem Traum waren Hühner und Enten, ein Schwein, ein Ochse vor einem Pflug, ein Esel, ein braunes Pferd. Und ich habe aufgeschrieben, dass ich bald meine eigenes Pferd bekommen und es Hurtig nennen will.

Ludo zögert bei seinem nächsten Brief etwas. Aber dann liest er ihn doch vor. Er erzählt, was er sich wünscht, wenn er mal erwachsen ist. Und es ist alles dabei von „jeden Tag Kuchen" über „Ich will so schlau, weise und gütig wie Vater sein" bis hin zu „und dann heirate ich Clara. Clara ist lieb." Stumm starrt Ludo auf das Papier. Ich streiche ihm leicht über den Arm.
„Ob Du jeden Tag Kuchen essen wirst, weiß ich nicht. Aber der Rest – das ist dir alles schon geschenkt worden. Ich freu mich für dich!"
Ludo nickt, und ein Strahlen geht über sein Gesicht.

„Was steht auf deinem zweiten Zettel?"
Den hatte ich noch gar nicht angeschaut, weil ich so mit meinem Traum auf dem ersten Zettel beschäftigt war. Ich falte ihn auseinander, werfe einen Blick darauf. Und fange schlagartig an zu heulen. Ludo nimmt mich erschrocken in die Arme und zieht mir den Zettel aus den Fingern. Ich brauche eine ganze Weile, bis ich mich wieder gefangen habe. Dann lese ich stockend den Brief vor, den ich geschrieben habe. Es ist eine Liebeserklärung an unsere Mutter.

Für den letzten Zettel von Ludo ist es inzwischen zu dunkel. Außerdem ist es nun auch empfindlich kalt. Also legen wir die Zettel wieder in die Dose und steigen durch den geheimen Gang zurück in mein Zimmer. Dort setzen wir uns vor den Kamin, und Ludo liest mir vor, was er als Achtjähriger aufgeschrieben hat.
„Gesetze, die ich mache, wenn ich Herzog bin."
Irritiert sehen wir uns an. Ich habe meinen Humor wiedergefunden.
„Aha! Du hast schon als Zwerg den Umsturz geplant! Na, da bin ich ja durch meine Abdankung nochmal mit dem Leben davongekommen."
Nun liest Ludo vor, was er ändern wollte, als er grade erst anfing zu verstehen, was unser Vater da tut. Es ist spannend. Gradezu umstürzlerisch. Ludo wollte, dass niemand in unserem Land hungert, Angst hat, Steuern zahlen muss, vom Teufel geholt oder vom Lehrer geschlagen wird. Und er will, dass es nie wieder Krieg gibt.
„Ich weiß noch, warum ich das geschrieben habe. Wir hatten in der Stadt ein paar bettelnde Männer ohne Beine gesehen. Erinnerst du dich? Der Magister hatte uns dann sehr ausführlich vom Markgrafenkrieg ein Jahr zuvor erzählt, als Moritz von Sachsen und Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel gegen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach gekämpft und gesiegt hatten. In meiner Phantasie habe ich die Männer und Pferde gegeneinander rennen sehen. Und das wollte ich dann per Gesetz verbieten."

Ich nicke bloß. Aus dem kleinen Ausflug in die Kindheit ist eine sehr intensive Lehrstunde über kindliche Wünsche und den Lauf des Lebens geworden.
„Weißt du was, Ludo? Ich bin jetzt reif fürs Bett."
Und so verabschieden wir uns und gehen beide schlafen. Auch wenn bei mir der Schlaf noch lange nicht kommen will.

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28.1.2022

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