60 - ein neues Leben

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Mo. 21.5. a.d. 1571

Ich konnte lange nicht einschlafen gestern Abend. Durchs offene Fenster dringt die frische Morgenluft. Ich werde von dem kühlen Hauch wach.
Ein Traum wird wahr. Ich werde Hannes Frau sein.
Ich habe keine Angst mehr davor. Ich weiß mich und meine Kinder von ganzem Herzen geliebt – alle, auch Jakob.
Vater hat so recht! Es ist doch völlig egal, wer in Zukunft in der kleinen Kate wohnt und wer diesen Acker bewirtschaftet. Das muss nicht Jakob sein. Er kann Hannes zwar nicht beerben. Aber er kann hier geliebt und gefördert werden und in Ruhe und Sicherheit in SEIN Leben hineinwachsen. Auch für Susanna steht nun der Weg offen, ein Leben zu wählen, dem sie gerecht werden kann. Und mein lebhafter Peter soll meinetwegen Kapitän werden, damit er immer Wasser um sich hat! Solange er glücklich ist.
Ich muss ein wenig lachen bei dem Gedanken. Es ist ja noch gar nicht abzusehen, was für ein Mensch Peter einmal sein wird. Aber dass er nun nicht der Knecht seines eigenen Bruders werden muss sondern seinen eigenen Weg gehen kann, ist ein wunderbares Geschenk Gottes.

Ich betrachte meine schlafenden Kinder. Mir wird bewusst, wie sehr ich meine Angst um die Kinder vorgeschoben habe, um meine eigenen Ängste zu übertönen. Wenn Hannes nicht so hartnäckig daran festgehalten hätte, meine Vergangenheit zu entdecken, hätte ich meinen Vater nie kennengelernt. Und ich glaube, letzten Endes ist es das, was mich sicherer und freier gemacht hat und mir den Mut gegeben hat, nun endlich ja zu sagen. Es ist nicht einfach Hannes, der sich in mich verliebt hat, weil er mir sein Leben verdankt. Ich habe einen Vater, der mich und meine Vergangenheit und alle meine Kinder vorbehaltlos liebt. Er gibt mir ein „Dach" über dem Kopf, unter das ich schlüpfen kann. Armut und Not haben auf jeden Fall ein Ende, hier oder dort in Brabeck. Und weil das so ist, habe ich die Freiheit, mich für Hannes zu entscheiden, der mich wirklich liebt. Es ist keine Flucht aus dem Elend. Es ist keine Gier nach Reichtum. Es ist nicht Berechnung, die auf Sicherheit aus ist. Hannes und ich sind im Geiste und im Herzen einander so nah, dass wir beide fühlen und wissen: es findet zusammen, was zueinander gehört.

Die Sonne ist gerade erst über den Horizont gekrochen, es ist immer noch sehr früh. Aber ich verspüre den dringenden Wunsch, Gott ganz nah zu sein. Also richte ich meine Haare, greife mir passende Kleidung für einen Spaziergang in die Stadt und schleiche mich ins Spielzimmer. Dort ziehe ich mich an für den Tag, husche die Hintertreppe im Kinderanbau hinunter und zu „meiner" Tür in den Hof hinaus.
Ich erinnere mich, wie ich am Tag von Brudenhusens Verhaftung von Hannes aus diesem Fenster gehoben und von Karl von Pagenstecher in Empfang genommen wurde. Dann sind wir diese Treppe hinuntergeschlichen, Hannes hat mich bei der Hand genommen, und wir sind durch die schlafende Stadt zu dem Gasthof gelaufen, wo ich abwarten sollte, bis alles vorbei ist.
Hannes hat einfach meine Hand gehalten, und ich habe mich so sicher und geborgen und geliebt gefühlt!

Erste Hähne krähen, Mägde schütten Bettpfannen aus dem Fenster auf die Gassen aus, irgendwo höre ich einen Pferdekarren übers Kopfsteinpflaster rattern. Ich bin auf dem Weg zur Kirche und hoffe, dass sie bereits geöffnet ist. Ich habe Glück. Der Kirchendiener fegt die Stufen vorm Portal und lässt mich gleich hinein. Ich tauche ein in die dämmrige Stille vor Gottes Angesicht und setze mich auf die unterste Stufe vorm Altar.
Es sieht mich ja keiner.
Mein Herz ist so voll, ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll mit Lob und Dank. Da taucht ein Lied auf aus meiner Seele. Und wie immer, wenn mein Herz übervoll ist, beginne ich zu singen.

In dir ist Freude

1) In dir ist Freude in allem Leide,
o du süßer Jesu Christ!
Durch dich wir haben himmlische Gaben,
du der wahre Heiland bist;
hilfest von Schanden, rettest von Banden.
Wer dir vertrauet, hat wohl gebauet,
wird ewig bleiben. Halleluja.
Zu deiner Güte steht unser G'müte,
an dir wir kleben im Tod und Leben;
nichts kann uns scheiden. Halleluja.

2) Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden
Teufel, Welt, Sünd oder Tod;
du hast's in Händen, kannst alles wenden,
wie nur heißen mag die Not.
Drum wir dich ehren, dein Lob vermehren
mit hellem Schalle, freuen uns alle
zu dieser Stunde. Halleluja.
Wir jubilieren und triumphieren,
lieben und loben dein Macht dort droben
mit Herz und Munde. Halleluja.

Wenn ich bedenke, wie viel Einsamkeit, Not und Gefahr mein kurzes Leben schon gebracht hat. Aufgewachsen im Waisenhaus, ohne Eltern – aber meine Mutter hat doch über mich gewacht.
Aus der Geborgenheit gerissen, in eine bettelarme Familie gesteckt, mit 14 musste ich einen mir unbekannten Haushalt allein führen – aber das ganze Dorf hat mir geholfen, und die Adams waren freundlich und geduldig mit mir.
Plötzlich mit 15 Mutter eines Neugeborenen, weil die echte Mutter starb. Und wieder haben alle geholfen, damit dieses Kind seinen Weg in ein behütetes Leben findet.
Beladen mit großer Verantwortung, geheiratet von einem gütigen, gerechten Mann. Zwei Kinder hat der Herr mir geschenkt.
Ich blieb allein zurück, verschuldet und guter Hoffnung, als mein Mann ermordet wurde – auch diesmal hat das ganze Dorf für uns gesorgt.
Unfähig, von diesem kleinen Acker meine Steuern zu bezahlen – aber durch meine Stickkunst konnte ich mich und die Kinder erhalten.

Ein fremder, schwer verwundeter Mann stolpert in meine Kate. Er ringt mit dem Tode, hat sein Gedächtnis verloren, ist in Gefahr und weiß nicht, durch wen, das ausgehungerte Dorf muss ihn und sein Pferd auch noch durchfüttern – aber er lebt, er ist geheilt, er hat so viel Gutes getan für das Dorf, er hat sein Gedächtnis wieder, hat Freunde gefunden im Dorf, hat die ganze Liebe meiner drei Kinder gewonnen – und sich bei all dem verändert. Er hat das Elend seiner Untertanen beendet. Er hat meine Einsamkeit und meine Not beendet. Er hat das Geheimnis meiner Herkunft gelüftet und meinen Vater gefunden.
Aus tiefster Not ist größtes Glück geworden. Niemand könnte dankbarer sein als ich an diesem Morgen, als ich die Kirche mit meinem Gesang fülle. Immer mehr Lieder steigen aus meiner Seele auf und wollen gesungen werden. Ich vergesse völlig die Zeit in der Gegenwart Gottes.

Allein Gott in der Höh sei Ehr
und Dank für seine Gnade,
darum dass nun und nimmermehr
uns rühren kann kein Schade.
Ein Wohlgefalln Gott an uns hat;
nun ist groß Fried ohn Unterlass,
all Fehd hat nun ein Ende.

Wir loben, preisn, anbeten dich;
für deine Ehr wir danken,
dass du, Gott Vater, ewiglich
regierst ohn alles Wanken.
Ganz ungemessn ist deine Macht,
allzeit geschieht, was du bedacht.
Wohl uns solch eines Herren!

O Jesu Christ, Sohn eingeborn
des allerhöchsten Vaters,
Versöhner derer, die verlorn,
du Stiller unsres Haders,
Lamm Gottes, heilger Herr und Gott:
nimm an die Bitt aus unsrer Not,
erbarm dich unser aller.

O Heilger Geist, du höchstes Gut,
du allerheilsamst' Tröster:
vor Teufels G'walt fortan behüt,
die Jesus Christ erlöset
durch große Mart'r und bittern Tod;
abwend all unsern Jamm'r und Not!
Darauf wir uns verlassen.

Ich halte noch einen Augenblick dankbarer Stille, bevor ich mich endlich wieder erhebe und zum Portal wende. Ich trete nach draußen in den hellen Sonnenschein und bleibe verblüfft stehen. Die ganze Stadt ist erfüllt mit Leben, es ist hellichter Vormittag. Um Himmels Willen! Sie werden mich suchen. Ich muss mich sputen!!!

So schnell ich kann, eile ich auf dem kürzesten Wege zum Schloss zurück, wo mir schon an der Allee ein Berittener entgegenkommt. Es ist Joseph.
„Gott sei's gedankt. Der Herr is schon ganz in Sorge!"
Mit diesen Worten wendet er sein Pferd und galoppiert zurück zum Schloss.
Owei, ich habe wirklich zu wenig nachgedacht. Nicht, dass Hannes jetzt denkt, ich sei vor ihm davongelaufen!
In diesem Augenblick kommen Jakob, Susanna und sogar das Peterle um die Ecke in die Allee geschossen. Sie werden verfolgt von Linde und sehr schnell überholt von Hannes, der als erster bei mir eintrifft. Stürmisch reißt er mich in seine Arme und ist ganz atemlos.
„Tu mir das bitte nie wieder an. Und deinen Kindern auch nicht. Wo um Himmels Willen warst Du?" Er hat Tränen in den Augen.
In diesem Moment umklammert etwas meine Beine. Jakob ist angekommen. Kurz darauf hängt auch Susanna an mir, und schließlich folgt Linde mit dem Peterle auf dem Arm.
„Es tut mir so leid. Ich schäme mich ganz furchtbar, dass ich euch alle so in Unruhe gestürzt habe. Ich bin sehr früh wach geworden, und mir war nach einem stillen Gebet in der Kirche. Dort habe ich dann die Zeit vergessen. Bitte vergebt mir den Schrecken, den ich euch bereitet habe."
Alle drücken mich noch einmal feste, bevor wir gemeinsam Hand in Hand zurück zum Schloss laufen, wo uns Bader, Barkhausen und Jansen mit sehr erleichterten Gesichtern von der Treppe entgegensehen.

Hochzeitspläne Anna

DO. 24.5. a.d. 1571

In den folgenden Tagen genießen wir weiter die freie Zeit und schmieden Hochzeitspläne. Wann, wo, mit wem und wie möchten wir heiraten? Vater, Hannes und ich verbringen vergnügliche Stunden, in denen wir mal ernsthaft, mal überaus albern die verrücktesten Ideen entwickeln, wie wir alle Wünsche und alle Gäste unterschiedlichen Standes zusammen bekommen können, ohne dass sich jemand unwohl fühlen wird. Lütgenhusen als Ort und Pastor Johann Crüger als der, der uns trauen wird, stehen schnell fest. Das ganze Dorf und all unsere Verbündeten wie zum Beispiel Bauer Freese möchten wir gerne dabeihaben. Aber wie geht das zusammen mit einem Herzog?

Am Ende einigen wir uns darauf, dass die Trauung in Lütgenhusen sein wird für unsere einfachen Freunde. Dorthin laden wir nur Hannes Bruder Ludo und Karl von Pagenstecher ein und natürlich meinen Vater ein, für die ein geeignetes Quartier geschaffen werden kann. Am nächsten Tage werden wir nur von Klaas begleitet und dann in Gieboldehusen einige vornehme Gäste aus dem Lehen und die Stadthonoratioren zu einem fürstlichen Fest empfangen. Hier werden wir dann den Wirt zur Mithilfe heranziehen, der uns im Winter seine Kutsche anvertraut hat. Und dabei sollen uns am Nachmittag auch die Kinder des Christophorushauses besuchen.

Aber vor allem müssen wir die Hochzeit von Herzog Ludwig und seiner Clara abwarten. Ich hatte immer gesagt: ich passe nicht an einen Fürstenhof. Aber nun bin ich eine Grafentochter. Ich werde sicherlich kurz vorher furchtbar nervös werden. Aber ich werde an der Seite von Hannes dort sein. Linde werden wir bitten, nun auf Dauer für meine Kinder als Kindermädchen zu arbeiten. Nur das Problem, dass wir in Salzderhelden nicht einfach in die Kirche und zum Fest gehen können ohne Anstandsdame, das bereitet uns noch ein wenig Kopfzerbrechen. Für Vater wäre die Reise zu weit und zu anstrengend.

Hannes lässt sich von Bader eine Listen aller Adligen in seinem und den Nachbarlehen aufstellen. Diese gehen wir dann gemeinsam durch. Hannes kennt diese Menschen kaum, hat ein paar davon bei Ludos Krönung vorgestellt bekommen und liest stirnrunzelnd die Liste durch. Plötzlich stutzt er.
„Ha! Der Name. Das ist das Paar, das mir beim Krönungsfest den Brief von Jakob gegeben hat! Von Bottlenberg-Schirp. Die können wir bitten, dich unter ihre Fittiche zu nehmen. Du bist ihr Schützling und meine Verlobte, und damit werden alle zufrieden sein."
Sogleich bin ich weniger aufgeregt.
„Die freundliche Dame, die so gütig zu Jakob war? Das ist eine gute Idee. Ach, weißt du was, Hannes? Das habe ich dir glaube ich noch gar nicht erzählt."
Schnell berichte ich ihm und meinem Vater von der zweiten Begegnung mit dem großzügigen Paar. „Und dann hat sie ganz spontan beschlossen, mir ein Angebot zu machen. Sie möchte für unseren so schlauen Jakob die Unterbringung und das Schulgeld zahlen, damit er auf deine Schule gehen kann."
Wir müssen alle drei lächeln, denn das ist ja nun überhaupt nicht mehr nötig. Aber es rückt uns diese Menschen noch ein gutes Stück näher.

Hannes wird also einen Brief an seinen Bruder schreiben und ihn bitten, dieses Paar einzuladen. Und sobald dann die Einladungen bei uns angekommen sind, hoffentlich mit einer Bestätigung für unseren Wunsch, können wir den von Bottlenberg-Schirps schreiben und sie bitten, meine Begleitung anzunehmen und mich unter ihren Schutz zu stellen.
„Die werden Augen machen, wenn sie mich erkennen!"
Aber Hannes schüttelt den Kopf.
„Das sollten wir ihnen schon vorher erklären in unserem Brief. Sonst könnten sie sich seltsam fühlen. Aber ich bin mir sicher, dass sie unserer Bitte mit Freuden entsprechen werden."
So ist also auch das geregelt.

Vater hat mir in der Zwischenzeit ein genaueres Bild von Schloss Brabeck und den dazu gehörenden Ländereien gemalt und mir erzählt, was davon nicht zum Fidei Commis gehört. Er möchte für jedes meiner Kinder ein Erbteil einsetzen und mich selbst sehr gut versorgt wissen. Er wird sich nun auch darum kümmern und herausfinden, welcher seiner zahllosen entfernten Verwandten derzeit eigentlich sein Erbe ist. Und er wird bei den dortigen Behörden meine Existenz als seine rechtmäßige Tochter melden. Sollte sein Erbe ein sympathischer Mensch sein, kann er ihn auch zu unserer Hochzeit einladen, damit wir einander kennenlernen können.

Als die Woche sich dem Ende zuneigt, beginnt Vater, Heimweh nach seinem Zuhause zu haben. Und so bereiten wir seine Rückreise für Anfang nächster Woche vor. Die beiden Wachmänner, die er selbst zur Begleitung mitgebracht hatte, werden ihn sicher nach Hause bringen. Der Abschied ist herzlich und durchzogen von Wehmut, aber so Gott will und Vater dann immer noch bei guter Gesundheit ist, werden wir uns schon bei unserer Hochzeit wiedersehen. Und er ist schon sehr neugierig auf unser Dorf, dass er bei dieser Gelegenheit dann kennenlernen wird.

Bald darauf setzen wir uns mit Bader, Barkhausen, dem Koch und Frau Jansen zusammen. Ich brauche in Zukunft eine Zofe, die Räume im oberen Stock müssen so umgeräumt und umgebaut werden, dass dort tatsächlich ein Graf, seine Gräfin und deren Kinder in geeigneten Räumen leben können. Die Gästezimmer müssen in Angriff genommen werden. Der noch mit kostbaren Scheußlichkeiten vollgestopfte Saal muss bis dahin ein stilvoller, einladender Saal für das Fest werden.

Als nächstes gehe ich mal wieder in die Gerbergasse zu Frau Bünte. Sie freut sich sehr mit mir über all die Neuigkeiten und beginnt sogleich, mit mir eine Liste der für mich notwendigen Garderobe aufzustellen. An den ersten Kleidern konnte sie sehen, wie ich es gerne habe. Und ihre Vorschläge, wie meine schlichten Wünsche sich auf Herzogenhochzeit-taugliche Festgewänder übertragen lassen, zeigen, dass sie mich verstanden hat. Ich werde mich wohlfühlen, egal wo ich hinkomme.Auch für meine Kinder sind inzwischen einige Kleider in Auftrag gegeben worden, die zu den Herrschaften im Schloss passen, die Kinder aber nicht einengen und sie dazu verdonnern, nur noch brav auf der Bank zu sitzen. Sie sollen sich bewegen und neugierig die Welt erkunden können, wie sie es gewohnt sind. Währenddessen dürfen die Kinder im Christophorushaus spielen, und Linde begleitet mich, damit auch für sie mehrere Kleider bestellt werden können, mit denen sie im Schloss als Kindermädchen und Zofe arbeiten kann. Sie ist erst scheu, lässt dann vorsichtig die gezeigten Stoffe durch ihre Finger gleiten und strahlt am Ende über all das Unerwartete und Wundervolle, dass im Moment mit ihr geschieht.

Hannes schickt sofort einen langen Brief an seinen Bruder mit einem Boten los, um zu berichten, was sich hier alles getan hat und dass es in diesem Sommer nun zwei Hochzeiten geben wird. Schon nach einer Woche kommt Benjamin zurück mit Ludos Antwort. Die Hochzeit dort wird in sechs Wochen sein. Die von Bottlenberg-Schirps sind sowieso auf der Gästeliste. Und Ludo freut sich ungemein, dass das Geheimnis meiner Herkunft sich gelichtet hat und Hannes nun endlich sein Ja von mir bekommen hat. Er lässt mich ausdrücklich von ihm und Carl grüßen und ausrichten, dass er sich sehr darauf freut, mich schon vor seiner Hochzeit am Samstag, den 7. Juli im Schloss begrüßen zu dürfen. Nun können auch wir weiter planen. Und Hannes schickt sofort den nächsten Brief in die andere Richtung, damit er mir meine Begleitung für Ludos Hochzeit sichern kann.

Und so nimmt der Frühsommer seinen Lauf. Während die Handwerker in Gieboldehusen am und im Schloss fleißig werkeln, reisen die Kinder, Linde und ich zurück nach Lütgenhusen. Noch einmal schlüpfe ich in das einfache Kleid der Kätnerin Anna, noch einmal helfe ich bei der Heumaad, noch einmal erlebe ich Schlachttag und Backtag, treibe Vieh auf die Allmende und schlafe mit meinen drei Kindern neben mir zufrieden-erschöpft auf meiner einfachen Pritsche ein.
Linde genießt den letzten Sommer im Dorf auch sehr. Ihre Eltern sind einverstanden und sehr stolz, dass ihre Tochter nun in Stellung im Schloss des Lehnsherren geht, dass ihr sogar der Schulbesuch ermöglicht werden wird. Der Vogt und Pastor Crüger platzen beinahe vor stolz, dass sie bald eine fürstliche Hochzeit ausrichten und einen echten Grafen trauen dürfen. Und Klaas bekommt mit schöner Regelmäßigkeit bei unseren Planungsrunden leichte Panikattacken, dass er – außer mir, der Braut – der einzige aus unserem Dorf sein wird, der zu dem fürstlichen Ball in der Stadt eingeladen werden wird. Aber er ist wild entschlossen, sich das nicht nehmen zu lassen. Wir verabreden, dass er mich und meine Kinder mit dem Elias vom Vogt nach Gieboldehusen fahren soll, wenn es zur Hochzeit nach Salzderhelden geht. Und bevor er wieder nach Hause fährt, wird ihm passende Kleidung für unsere Hochzeit angemessen werden.

Die Aufregung schon Monate vorher im Dorf ist unbeschreiblich. Unsere Hochzeit soll gegen Ende der Erntezeit sein, aber nicht so spät, dass das Wetter schon wieder allzu herbstlich ist. Immer wieder werde ich von meinen Verbündeten ausgelacht, dass ich so lange gezweifelt und gehadert habe. Aber Irmel verteidigt mich jedes Mal.
„Hört doch auf. Annas Leben is völlig op' n Kopp gestellt word' n. Sie brauchte Tied, dat reifen zu lass' n. Un so is nu ihr Ja zu Hannes een sicheres, überzeugtes, durchdachtes un ehrlich gefühltes Ja geword' n. Dat is genau richtig so!"
Ich bin unendlich glücklich, dass ich in diesem Dorf zu Hause sein darf.

Sommer auf dem Lande

Fr. 2.6. a.d. 1571

Eine Sache ist mir noch ganz wichtig. Ich will schon jetzt meine Kate verändern und mich auf das Leben danach vorbereiten. Ich habe ja in der Schatulle ganz viel Geld bekommen. Und das werde ich zu einem Teil dafür nutzen. Also berate ich mich mit Vogt Drebber, Klaas, Jorge, Irmel und Ferz und erzähle ihnen von meinen Ideen.
„Ich werde immer eure Anna bleiben. Und ich werde sicherlich immer wieder Sehnsucht nach Lütgenhusen haben. Und ich will, dass alle meine Kinder es kennen, in Gottes schöner Natur zu leben. Ich will, dass auch Hannes Kinder erleben sollen, wie die einfachen Menschen für ihr täglich Brot arbeiten. Darum möchte ich gerne die Kate ausbauen, damit wir als Familie jederzeit hier zu Besuch sein können. Dafür brauche ich Handwerker, und ich werde alle, die daran mitbauen, und alles Material bezahlen."
Meine Freunde schauen sich mit großen Augen an. Dann starren sie mich an. Klaas fasst sich als erster.
„Na sowas. Aus der schüchtern'n Maus is eene stolze Dame geword'n, mit Plän'n und mit Geld."
Flugs bekommt er von Irmel einen Klaps auf den Hinterkopf und grinst breit.

„Wenn du die Kate umbau'n willst, is sie aber nich mehr bewohnbar, weder für dich un die Kinners noch für dein Vieh. Vertell mal, wie dat sien soll."
„Ich möchte jetzt schon unser Vieh verschenken an euch. Dann ist der Stall schon mal leer. Wenn es tatsächlich mit der Bauerei losgeht, kann mein weniger Hausrat sicher zu Klaas in eine Kammer gebracht werden. Und wir selbst kommen hoffentlich im Dorf unter. Aber wir sind ja zwischendurch noch auf der Herzogenhochzeit, da sind wir sowieso nicht im Weg. Und dann möchte ich den Gemüsegarten hinten behalten, aber die Seite mit dem Unterstand und dem Hühnerauslauf will ich überbauen. Das heißt, dass die Grundfläche des Hauses viel größer wird, Platz für richtige Kamine und mehrere Kammern bietet. Und dass der Dachboden größer und das Dach dadurch höher werden. Dort können ein paar Kammern für Bedienstete entstehen. Das Leitergekrabbel wird durch eine Stiege ersetzt. Aber die alte Küche soll immernoch Küche sein, natürlich etwas geräumiger und mit einem größeren Herd an der Seite, zwei Tischen, einer mit Bänken, einer mit richtigen Stühlen. Wenn ich Handwerker finde, die das über den Sommer machen, dann kann das schon zu unserer Hochzeit fertig sein und den Herzog und Carl von Pagenstecher nebst Familien beherrbergen. Was haltet ihr davon?"

Alle nicken, noch völlig verblüfft von meinen Plänen.
„Das einzige Problem ist, dass die Handwerker in Gieboldehusen alle mit dem Umbau des Schlosses beschäftigt sind. Und wir brauchen doch mindestens einen Zimmermann. Hinters Haus soll dann noch ein Pferdestall mit Dachboden und vielleicht einer Wagenremise sein, damit wir alles unterkriegen."
Klaas grinst schon wieder.
„Du kannst dir sicher sien, dat du dat nich alles in eenem Sommer schaffst. Aber wenn ihr zu Gast im Dorf seid, dann is für diese Zwecke mein Stall sicher groß genug. Un – wir hab'n schon eenen Zimmermann."
Fragend schauen wir ihn alle an.
„Wieso? Woher denn?"
„Na, der Bruder von unserm Pastor in Duderstadt is doch Zimmermannsmeester. Er wird sicher mit all'n ander'n Handwerkern inner Stadt bekannt sien. Er soll uns eene Truppe zusamm'ntromm'ln un über'n Sommer hierher schick'n. Am best'n kommt er gleich selbst mit, damit er mal sein'n Bruder besuch'n kann. Die werd'n mit dir dein neues Haus entwerf'n un dann losleg'n. Wenn wir ihm schon etwaige Vorstellung'n nenn'n könn'n, kann er auch gleich Material mitbring'n."

Susanna begreift noch nicht, dass sie sich in wenigen Wochen von ihren Freundinnen wird trennen müssen. Jakob hingegen beschäftigt das schon sehr. Er ist sehr viel draußen, hilft den Bauern bei ihrer Arbeit oder spielt vergnügt mit Cristoph, geht ab und zu wieder in die Mühle zum Helfen und fragt mich immer wieder, ob wir denn nach der Hochzeit auch noch mal nach Lütgenhusen kommen werden.
„Aber natürlich, Jakob. Glaubst du denn, die Dörfler werden ihre eigene Neugierde aushalten, wie es uns dort geht? Ich bin sicher, dass in Zukunft niemand von ihnen in die Stadt oder zum Markt kommen wird, ohne seine Kinder zu uns zu bringen und wenigstens kurz selbst vorbeizuschauen. Keine Angst! Deine Freunde werden dich nicht vergessen."

Eine Woche später bekomme ich von Hannes eine Nachricht, dass die von Bottlenberg-Schirps geantwortet haben. Sie freuen sich außerordentlich, dass wir an sie gedacht haben für diese ehrenvolle Aufgabe, drücken ihr Erstaunen darüber aus, dass die Bäuerin mit ihrem pfiffigen Sohn nun auf einmal adlig ist, und kündigen sich an, zehn Tage vor -der Hochzeit in Gieboldehusen einzutreffen. Somit ist auch klar, dass ich dann mit den Kindern dort hinreisen werde. Wir werden uns dort auch nicht lange aufhalten sondern nach ein wenig Zeit zum Kennenlernen in die Hauptstadt reisen, damit Hannes vor der Hochzeit ein paar Tage Zeit für Ludo hat. Und damit ich nicht ganz so ins kalte Wasser geschubst werde, weil ich Zeit habe, mich an die anwachsende Schar adliger Gäste zu gewöhnen.

Nach drei Wochen im Dorf ist eine Nachricht von Siegurd Crüger aus Duderstadt da, dass er sich gerne meiner Baupläne annehmen will. Er hat durch einen Boten einen Brief mit Ideen und einigen Zeichnungen vom Zustand der Kate  und den Wünschen für den Umbau bekommen, verspricht nun, alles zu planen und dann nach Ludos Hochzeit mit einem Trupp Handwerkern nebst Material hier im Dorf einzutreffen und anzufangen. Außerdem kündigt er an, dass er in Begleitung von drei Stadtwachen sein wird, die zu Hannes nach Gieboldehusen umsiedeln wollen.
Da wird sich Hannes aber sehr freuen! Und der eine bringt sogar seine kleine Familie mit.
Also beginne ich, meinen Hausstand zu verpacken, Kaputtes wegzuwerfen, die Tiere und einiges anderes zu verschenken und die gepackten Bündel zu Klaas zu schaffen. Jetzt beginne ich so richtig zu spüren, dass diese Zeit hier zu Ende geht und eine völlig neue Zeit anbrechen wird. Als schließlich Konrad mit der Kutsche vor der Tür steht und Linde mit den Kindern dort hineinklettert, stehe ich alleine in meiner Diele und lasse den Blick wandern. Hier habe ich sieben Jahre gelebt, gearbeitet, geweint, gelacht und gebetet. Hier sind meine Kinder geboren. Hier ist Hannes zur Tür hereingestolpert. Hier hat sich mein Leben völlig gewendet. Und es ist jetzt gut so. Ohne Wehmut oder Reue gehe ich nach draußen, ziehe die Tür hinter mir zu und steige ebenfalls in die Kutsche.

Als wir in Gieboldehusen eintreffen, gewöhnen wir uns schnell wieder an die Abläufe dort und fügen uns ein. Gleich am ersten Abend gesellt sich Hannes zu mir und bringt ein großes altes Buch mit.
„Schau mal, Anna. Das möchte ich dir zeigen."
Ehrfürchtig betrachte ich das Buch, klappe es auf und blättere durch die vielen, vielen handbeschriebenen Seiten.
„Wer hat das geschrieben?"
„Meine Mutter. Als wir noch ganz klein waren, hat sie begonnen, dieses Buch zu füllen mit allem, was ihr und unser Leben ausgemacht hat. Als ich sechs war, hat sie es mir gezeigt und mir erklärt, dass sie das für uns Söhne aufschreibt, damit wir wissen, woher wir kommen, und selbst entscheiden können, wohin wir in der Zukunft gehen wollen. Ich habe es in den Tagen vor der Krönung gefunden und verschlungen. Ich habe es nun von den Brüdern Weise abschreiben lassen, damit ich dieses Original zurück zu Ludo bringen kann. Aber vorher mag ich dir daraus das ein oder andere vorlesen. Willst du es hören?"
„Von Herzen gern, Hannes. So lerne ich deine Mutter und dich und deinen Bruder als Kinder kennen. Das ist eine wunderbare Idee."
Bis tief in die Nacht sitzen wir über das Buch gebeugt und tauchen ein in Hannes Kindheit, in die Führung des Herzogtums und in die ganz persönlichen Gedanken einer bemerkenswerten Frau. Ich fühle mich unendlich beschenkt, dass Hannes mich daran teilhaben lässt.
„Und das haben die Weises in den letzten Wochen ganz abgeschrieben?"
„Abwechselnd, in ein eigenes großes Buch. Ich finde es so wichtig, dass ich wollte, dass es zweimal existiert."

Im Schloss hat sich seit unserem Besuch wieder viel verändert. Viele fleißige Handwerker haben die unteren Räume schlicht und elegant neu gestaltet, den Saal geleert, die Zimmer oben neu eingeteilt und eingerichtet. Auch in den Hofgebäuden und Ställen hat sich wieder viel getan. Die Verwalter, die Lehrer, die Hannovers arbeiten fleißig, bauen überall Vertrauen auf und sorgen für Ordnung und Zufriedenheit.

Zwei Tage später treffen die von Bottlenberg-Schirps ein. Es ist ein wenig seltsam, aber die edle Dame ist wie immer ganz freimütig und begrüßt mich ohne Scheu. Als wir am nächsten Morgen gemeinsam einen Spaziergang durch den Park machen, erzähle ich ihr meine Geschichte.
„Nein, wie wundervoll, meine Liebe! Und nun seid Ihr auf einmal die Tochter eines Grafen. Dann wundert mich auch nicht mehr, dass der Knabe so gescheit ist. Das liegt in der Familie."
Ich stutze einen Moment und frage mich, wieviel ich erzählen will. Aber ich mag Jakobs Herkunft nicht verleugnen. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass Hannes das nicht von mir verlangen wird.
„Nun, der gescheite Knabe ist eine Waise, wie ich es war. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt, und ich als blutjunge Magd habe ihn sozusagen geerbt. Als dann auch der Vater starb, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, dass er nicht mein Sohn sein könnte. Er kennt nur mich als seine Mutter. Und das soll auch immer so bleiben."
„Ja, ist denn der Graf damit einverstanden, dass seine Tochter ... nun, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ..."
„Sowohl Johann von Grubenhagen als auch Caspar von Brabeck lieben Jakob und haben bereits jetzt Vorkehrungen getroffen, dass diese drei nichtadligen Kinder immer versorgt sein werden. Die Kleinen können Johann nicht beerben, aber sie können sich immer als Teil seiner Familie fühlen. Johann von Grubenhagen hat über drei Monate lang in unseren Schuhen gesteckt. Das hat all das festgemauerte Oben und Unten in seinem Kopf gründlich ins Wanken gebracht. Sie werden auch mit zur Hochzeit des Herzogs kommen, weil ich die Kleinen noch nicht so lange allein lassen möchte."

Ich bin sehr froh, dass diese Dame nun nicht innerlich die Nase rümpft und ihre Zusage zu meiner Begleitung bereut. Wir plaudern angeregt, und ich kann mich ehrlich auf die Fahrt in die Hauptstadt freuen. Als wir zwei Tage später gemeinsam aufbrechen, sitzt Linde mit den Kindern und Lina in Hannes großer Kutsche, ich sitze bei den von Bottlenberg-Schirps und Hannes auf Hurtig reitet zusammen mit Konrad, Joseph, Benjamin und Ruven nebenher. Die Mädchen haben alle Hände voll zu tun, die drei Kinder während der langen Fahrzeiten zu beschäftigen, aber sie sind stolz und genauso wie ich ungeheuer neugierig, wie es in der Hauptstadt und im Schloss eines richtigen Herzogs wohl sein wird.

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15.2.2022

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