Kapitel 5.1 - Im Auge des Sturms

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Zum Wochenende hin hatte Papa sich wieder beruhigt – er war tagelang stocksauer gewesen, weil wir so spät nach Hause gekommen waren. Dabei wusste er noch nicht einmal was von der Irrlichtsache. Ich hatte nämlich weder Papa, noch Epoh, noch irgendjemand sonst davon erzählt. Und nachdem ich Zac förmlich angefleht hatte, schwieg auch er nach wie vor beharrlich, insbesondere auf jegliche Nachfragen zu den Kratzern an seinem Hals. („Der Gentleman genießt und schweigt" war in den unterschiedlichsten Abwandlungen die Kernaussage jeder seiner Antworten.) Es tat mir leid, dass er sich dadurch einen gewissen Ärger zuzog, doch das nahm ich in Kauf.

Ich wollte einfach nicht, dass mich alle wieder so wie damals behandelten – wie eine Todgeweihte. Auch wenn ich das vielleicht sogar war, aber andererseits: Waren wir das nicht alle? Manche nur eben früher als andere.

Mit einem Seufzten schob ich all diese deprimierenden Gedanken bei Seite und versuchte mich wieder auf das Buch in meiner Hand zu konzentrieren. Es war der letzte Abend der Woche und da wollte ich nicht Trübsal blasen, auch wenn es morgen früh wieder mit Arbeit losgehen und Giselle mich ein weiteres Mal drangsalieren würde – seit neuestem mit Fragen über Zac.)

Denn nachher war wieder unser traditioneller, wöchentlicher Geschichtsabend – und ich freute mich jede Woche aufs Neue darauf. Papa sagte immer, dass diese Gepflogenheit aus der Zeit kam, als noch keiner ein Radio und nur wenige eine Zeitung hatten. Damals traf man sich, um Neuigkeiten auszutauschen. Heute war das nicht mehr notwendig, aber in unserer Familie dennoch geblieben. Nur eben, dass wir keine Neuigkeiten mehr austauschten, sondern Geschichten, die man gehört, gelesen oder erlebt hatte – und immer wechselnde Gesellen garantierten immer wechselnde Erzählungen. Ich liebte es einfach – denn wer konnte zu einer guten Geschichte schon „nein" sagen?

Also konnte ich mir ein breites Grinsen nicht verkneifen, als es schließlich klingelte und ich mein Buch beiseite legte und zur Tür rannte. Hannah und Epoh kamen wie fast immer, um sich unserer kleinen Runde anzuschließen. Voller guter Laune öffnete ich die Tür. „Ihr kommt genau richtig! Zac und Trell sind gerade fertig mit kochen..."

„Sie- was?", fragte Hannah mit hochgezogenen Augenbrauen, offensichtlich leicht besorgt um ihre Küche, während sie instinktiv die große Schüssel in ihren Händen noch etwas fester hielt.

„Doch, doch... Papa hat den Zweien gesagt, sie seien auch mal dran – er will etwas Fischiges, typisch flussländisches, kommen ja beide daher – und nun haben sie sich seit drei Stunden in der Küche verschanzt...."

Hannah sah noch immer zweifelnd aus. „Deshalb meinte Marcus, ich solle den Nachtisch mitbringen.... Wie läuft es denn?"

„Sie sind jetzt wohl fertig, wollen aber niemanden „aufs Schlachtfeld" lassen – Zacs Worte, nicht meine. Aber ehrlich? Zwischendurch hab ich Trell brüllen hören, dass Zac noch den Fisch ruinieren würde.... Man hat es im ganzen Haus gehört.... Ich bin ja so was von gespannt!"

Epoh und Hannah lachten, während sie spekulierende Blicke zur Decke warfen, als könnten sie so direkt in die Küche über ihnen gucken.

„Nie hat jemand behauptet, Kochen sei was für schwache Nerven...", hörte ich Papa witzeln, als er den Kopf durch die Tür der Werkstatt steckte und direkt zu uns kam, um Hannah ihre Schüssel abzunehmen. „Gib mir das, ich bring das schon mal rauf in die Stube."

„Danke, Marcus – wie versprochen: Rote Grütze."

Papas Augen leuchteten auf, während er sehnsüchtig auf die Schüssel in seinen Händen blickte. Er liebte rote Grütze. Zufrieden schlich er damit die Treppe hinauf, als würde er einen Piratenschatz tragen und keine Schüssel voller Obstgrütze. Einen Moment lang blickte Hannah ihm schmunzelnd hinterher, dann sah sie zu Epoh und mir. „So.... – jetzt lasst uns mal schauen, was die Jungs da angerichtet haben...", sagte sie und ging todesmutig die Treppe zur Küche hinauf, um dort einen Blick hinein zu werfen. Epoh und ich folgten ihr, doch bevor wir die Treppe ganz nach oben gegangen waren, hielt mich Epoh noch einmal am Arm fest und musterte mich besorgt. „Alles gut, Senga? Ich mein... wegen Trell...?"

Ich warf ihr einen langen Blick zu und nickte knapp. „Alles gut..."

Das stimmte sogar mehr oder weniger. Trell hatte sich die letzten Tage morgens nicht mehr vor meiner Tür blicken lassen, doch seit ich mit Zac nach Hause gekommen war, hatte er die Angewohnheit entwickelt, mir unter irgendwelchen Ausreden zu folgen, wenn ich den Raum verließ. Aber vielleicht bildete ich mir das auch ein. Vielleicht wurde ich auch langsam wahnsinnig. Gott sei Dank war es bald vorbei, seine Tage hier waren gezählt. Kurz nach Frühlingsanfang in etwa drei Wochen würde er traditionsgemäß weiterziehen müssen. Endlich.

Epoh schnitt eine Grimasse, die deutlich machte, dass sie mir nicht so wirklich glaubte, doch da hörten wir von oben Hannahs schwachen, verzweifelten Seufzer.

„Oh mein...."

Anscheinend hatte sie die Küche erreicht. Einen Moment später standen wir links und rechts neben ihr – und seufzten ebenfalls. Zac hatte wirklich nicht übertrieben: Es war ein Schlachtfeld. Jede Ablage, inklusive des Bodens war irgendwie belegt und zugestellt, oft auch mehrlagig. In der Spüle stapelten sich die Töpfe und in der Luft hing dicker Wasserdampf, der alles mit Feuchtigkeit überzog. Tatsächlich waren es eher dicke Nebelschwaden, bei denen man dachte, man könne sie mit einem Messer zerschneiden. Nur in der Mitte dieses Chaos, im Auge des Sturms, herrschte Ruhe. Dort am Küchentisch saßen die beiden Gesellen des Hauses einträchtig zusammen, jeder ein Bier in der Hand und mit dem rechtschaffenen Gesichtsausdruck jener, die eine schwere Aufgabe gemeistert hatten. Daran konnte auch Hannahs anklagender Blick nichts ändern. Im Gegenteil: Zac grinste uns dreien entgegen und schaute mir dann direkt in die Augen, um mir kurz verschwörerisch zuzublinzeln. Sofort erhob sich ein Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch und ich schaute rasch und mit glühenden Wangen beiseite. Das tat er in letzter Zeit oft, ganz so als hätten wir ein großes Geheimnis, das nur wir zwei teilten.

„Ich hoffe, ihr mögt Fischsuppe."


Nachdem sich Zac und Trell noch einmal kurz zurückgezogen hatten, um ihre neue Hemden anzuziehen, konnte unser Sonntagabendessen beginnen. Überraschenderweise schmeckte die Suppe wirklich gut – aber nicht so gut, wie Hannahs Rote Grütze. Nachdem wir alle gegessen und wieder abgeräumt hatten (wobei wir den Zustand der Küche fürs Erste getrost ignorierten), begann der eigentlich spannende Teil des Abends. Wie jede Woche wurde er damit eingeleitet, dass Papa zur Schublade ging, um die Streichhölzer hervorzuziehen, während er einen fragenden Blick in die Runde warf. „Wer war letzte Woche dran?"

„Ich!", antwortete ich aufgeregt und im nächsten Moment flog die Streichholzschachtel zu mir herüber. Ich fing sie natürlich nicht. Stattdessen landete sie klappernd vor Epohs Füßen, die das kleine Ding aufhob und mir reichte.

„Das musst du aber noch mal üben, Senga...", witzelte sie und ich streckte ihr als Antwort die Zunge raus, während ich mir die Schachtel griff und sorgfältig fünf Streichhölzer herausfischte, wovon ich eines kürzte. „Ihr kennt es: Wer das kürzeste Streichholz zieht, ist diese Woche mit einer Geschichte dran und muss nächste Woche die Streichhölzer verteilen!", erklärte ich noch mal gutgelaunt und hielt jedem die Streichhölzer zum Ziehen hin.

Trell zog das abgebrochene Hölzchen.

Ich konnte nicht anders, als ihn einen Moment lang aus dem Augenwinkel heraus zu beobachten, während er langsam zu seinem Stammplatz ging: Ein bequemes Kissen an der warmen Ofenbank. Derweil suchte ich mir einen gemütlichen Platz auf der Couch. Papa und Hannah hatten einfach ihre Stühle vom Esstisch umgedreht und Epoh war dabei wie üblich den Sessel in Beschlag zu nehmen. Kurz musste ich daran denken, wie wir uns als Kinder immer um diesen Platz gestritten hatten. Wann hatte ich ihn eigentlich Epoh überlassen? Ich wusste es nicht mehr. Da blickte sie mich plötzlich vorwurfsvoll an, was ich mit einem fragenden Achselzucken quittierte. Sie rollte die Augen und zog demonstrativ ein Buch hervor, dass zwischen Sitzpolster und Armlehne gerutscht zu sein schien. „Sengaaa... es ist ja schön, dass Du viel liest, aber kannst Du Deine Bücher bitte nicht überall liegen lassen?"

„Äh... ich hab hier gar nicht gelesen...", verteidigte ich mich verwirrt, als Zac sich verlegen räusperte und Epoh das Buch aus der Hand schnappte. „Entschuldigt... das ist meins... War gestern Abend später geworden...."

Oh – ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er auch gerne las. Am liebsten hätte ich einen unauffälligen Blick auf den Buchtitel erhascht, doch Zac hatte das Buch schon außer Reichweite gelegt. Naja... später vielleicht. Derweil machte Trell es sich an der warmen Ofenbank bequem, während er das Streichholz in seinen Händen noch immer grüblerisch anstarrte, ehe sein Blick spekulierend durch die Runde glitt und schließlich an Zac hängen blieb. Der setzte sich gerade neben mich und zwinkerte mir zu. Mein Herz machte einen Sprung, dass ich dachte, es bliebe stehen, ehe ich zaghaft zurück lächelte. Fast hätte ich etwas gesagt, als Trell sich plötzlich räusperte. „Na gut", murmelte er mehr zu sich selbst und lehnte sich schließlich an den Ofen an. „Na gut", wiederholte er noch einmal, diesmal resoluter. "Heute habe ich keine Geschichte für euch, sondern die Wahrheit."

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