Kapitel 02

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Wesley faltet sich die Ärmel seines schwarzen Hemdes nach oben, als ich sein Zimmer betrete. Er ist so in seiner eigenen Welt verloren, dass er gar nicht bemerkt, dass ich hereingekommen bin – und das, obwohl ich ihm vor fünf Minuten geschrieben habe, dass er die Tür für mich aufschließen soll. Seine blonden Haare hängen ihm unordentlich in die Stirn, aber ich verkneife mir einen Kommentar darüber, dass er sie dringend schneiden sollte. Es ist in Ordnung, dass er sich noch nicht gefangen hat. Ich selbst finde ebenfalls kaum Halt in meinem Leben, da besitze ich kein Recht über ihn zu urteilen.

„Hi, Helena", begrüßt mich Aidan, sein Zimmergenosse, mit einem breiten Lächeln. Er zieht mich kurz in die Arme und wuschelt mir durch meine Haare. „Hi", entgegne ich. Ich kenne Aidan, seit ich acht Jahre alt bin und er mit seinen Eltern in das benachbarte Haus gezogen ist. Bis er an der Wellington Academy angenommen wurde, habe ich ihn nur in den Ferien gesehen, die er immer um Welten verbessert hat. Aidan überragt mich um einen Kopf und ist um einiges sportlicher gebaut als ich. Vor allem seine Oberschenkel sind sehr muskulös, was man daran erkennen kann, dass sich seine Stoffhosen immer an sie schmiegen. Er hat früher immer behauptet, dass er so starke Beine hat, weil er gerne reiten geht, aber mittlerweile glaube ich es ihm sogar, weil Blaire immer davon erzählt, dass sie mit Wes und Aidan ausreitet, wenn sie einen freien Nachmittag haben.

„Bist du bereit, Wes?", frage ich an meinen Bruder gerichtet und werfe ihm einen erwartungsvollen Blick zu. Endlich sieht er mich richtig an, selbst wenn sich sein Blick dabei verdunkelt. Wir beide tragen pechschwarze Kleidung, damit wir unsere Trauer verdeutlichen, wenn wir Mathildas Eltern besuchen gehen. Das war meine Idee und Wes hat mir schon gesagt, dass er das lieber nicht tun würde, aber ich habe ihm keine Wahl gelassen. Diese Antworten sind mir wichtig, vielleicht noch wichtiger als meinem Bruder. Denn ich möchte abschließen, selbst wenn ich Mathilda nie vergessen oder nicht genauso stark lieben würde, wie ich es jetzt tue. Ich möchte nur nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, mich in den Schlaf zu weinen, wenn ich überhaupt welchen kriege. Ich möchte mir nicht ständig Sorgen machen, nicht ständig von Angst und Fragen geplagt sein. Viel schlimmer als jetzt kann es nämlich nicht mehr werden.

Wes nickt stumm. Mein Herz bricht ein wenig, aber ich kleistere mir dennoch ein Lächeln für Aidan auf. „Bis dann", sage ich zu ihm und drücke mich so schnell an ihm vorbei, dass er zum einen nicht antworten kann und zum anderen nicht sieht, wie mein Lächeln in sich zusammenfällt. Ich möchte nicht, dass er sich dann für mich verantwortlich fühlt und meinem Bruder sagt, dass er sich gefälligst zusammenreißen soll, weil er den ganzen letzten Monat damit verbracht hat, sich weiter von sich selbst zu entfernen. Weil er sein Lächeln, seine gute Laune und seinen Humor auf einen Schlag verloren hat. Stattdessen verhalte ich mich so, als wäre alles normal, als wäre ich nicht dabei, genau dasselbe zu tun, da ich keine Ahnung habe, wie ich mich selbst vor dieser Realität retten kann.

Wir brauchen mit meinem schwarzen Mustang ein wenig länger als eine Stunde von der Wellington Academy bis zum bescheidenen Haus von Mathildas Eltern. Ursprünglich hat die kleine Jägerhütte ihren Großeltern gehört, diese haben das Haus aber an Mathildas Eltern überschrieben, als sie erstmals eine Demenz-Diagnose erhalten haben, ins Altersheim gezogen und wenige Jahre später gestorben sind. Mathildas Eltern pflegen das Häuschen und den Vorgarten noch immer, als hätte sich nichts verändert, seit ich zum letzten Mal hier gewesen bin. Ich greife nach der kleinen Geschenktüte auf der Rückbank und schalte sowohl das Radio als auch den Motor ab, als ich mich an meinen Bruder wende. „Du musst nicht mitkommen, wenn dir das hier zu viel wird, Wes."

Ich wünschte, dass ich ihm diese Möglichkeit nicht geben müsste, aber mir ist bewusst, dass ich es eben doch tun muss. Er ist zwar der ältere Zwilling, aber ich übernehme dennoch immer die Aufgabe, mich um uns beide zu kümmern. Vor allem, seit ich mir nicht mehr sicher sein kann, ob er seine Umwelt überhaupt noch wahrnimmt, wenn er nur noch in seiner Trauer zu  baden scheint. „Doch, das muss ich. Für sie." Er steigt aus und klingelt an der Tür, ohne auf mich zu warten. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, mich nicht über sein Verhalten zu ärgern. Er hat sie geliebt, sage ich mir. Es ist in Ordnung, dass es ihm nicht gut geht. Es darf ihm schlecht gehen, wenn er jemanden verliert, den er so liebt, wie er sie geliebt hat.

Ich steige ebenfalls aus und gehe über den schmalen, gepflasterten Weg, damit ich mir meine Schuhe nicht im nebenliegenden Schlamm ruiniere. Die Tür des Hauses öffnet sich in dem Moment, in dem ich neben Wes zu Stehen komme. Mathildas Mutter sieht uns mit glasigen Augen an, während sie ihre Finger um den Türrahmen klammert. Ich trete vor und lege meine Finger auf ihre, während sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht. In dem zweistöckigen Haus hinter dieser Tür hat Mathilda einst ebenfalls gelebt. Hier muss alles voll von Erinnerungen, und als mir das bewusst wird, weiß ich plötzlich nicht mehr, ob ich das Haus überhaupt betreten kann. Hier hat Mathilda all ihre Geburtstagspartys gefeiert, gespielt und hier haben wir geweint, während Jack gestorben ist, statt mit Rose ein glückliches, langes Leben zu führen. Tränen treten mir in die Augen, und ich versuche, sie subtil wegzuwischen, während ich Mathildas Mutter die Tüte in meinen Händen überreiche.

„Das ist für euch, Violet. Es sind zwar nur Kleinigkeiten, aber ich dachte, dass ihr sie brauchen könntet", sage ich, als sie skeptisch in die Tüte sieht, während ihr Ehemann, Henry, ebenfalls in der Tür erscheint. Ich habe ihr einige Seifen und beruhigende Öle gekauft, mit denen sie sich ein entspannendes Bad einlassen kann. Es wäre mir falsch erschienen, mit einer Flasche Wein oder sonstigen Luxusgeschenken aufzutauchen, die man ohnehin nicht wirklich brauchen kann. „Das ist sehr aufmerksam von dir, Helena", entgegnet Henry freundlich und bittet uns herein. Peinliche Stille umhüllt uns, als Wes und ich uns auf das Sofa setzen, wo wir bei unserem letzten Besuch mit Mathilda Geburtstagsfotos gemacht haben. Damals wussten wir noch nicht, dass es die letzten Fotos von uns sein würden. Damals war im Vergleich zu jetzt alles so viel einfacher.

„Wir sind hier, weil wir einige Fragen haben", bricht Wes schließlich hervor. Ich zucke zusammen, denn das war gerade das erste Mal, dass er in den vergangenen Wochen unaufgefordert etwas gesagt hat. Henry bringt uns den Tee, den er vor wenigen Minuten aufgesetzt hat. „Zu Mathilda", fügt mein Bruder hinzu. Das Ehepaar wechselt einen Blick, den ich nicht recht deuten kann, aber sie sagen nichts, sondern warten eher auf konkretere Fragen. „Uns wurde heute während einer Versammlung mitgeteilt, dass sie sich das Leben genommen hat", räuspere ich mich, um nicht an den Worten zu ersticken. Ich sehe auf meine Hände, weil ich Angst habe, Henrys und Violets Blick nicht ertragen zu können. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schrecklich die Situation für sie sein muss. Das eigene Kind auf diese Art verloren zu haben, ist vermutlich nichts anderes als unerträglich.

„Wisst ihr-...wisst ihr, wieso sie es getan hat?", meldet sich Wes wieder heiser zu Wort. Ich bin froh, dass er hier ist, denn sein gebrochenes Abbild wird uns eher Antworten verschaffen als mein gebrochenes Herz. Spätestens das Klirren von Violets Tasse bei Wes' Tonfall deutet dies an. Sie kennen schließlich einen anderen Wes. Der alte Wes hat viel gelacht, ist immer aufrecht gestanden oder gesessen und seine blonden Haare waren viel kürzer und ordentlicher als sie es jetzt sind. Sie fallen ihm ständig in die Augen, sind dann aber doch nicht lang genug, um seine Augenringe oder seine eingefallenen Wangen, weil ihm wortwörtlich der Appetit vergangen ist, abzudecken.

„Nein, das wissen wir nicht", gibt Harry seufzend zu und legt seiner Frau den Arm um die Schultern. Tiefes Bedauern liegt in seinen Augen und ich frage mich, ob ich ihn jemals wieder ohne diesen Ausdruck sehen werde. Ich frage mich, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, den Verlust des eigenen Kindes zu überwinden. „Wie wurde sie gefunden?" Meine Stimme klingt mir fremd, so undefiniert. Es hört sich an, als wäre ich nur ein Schatten meiner selbst. Dennoch klinge ich gefasster als Wes. Henry und Violet brauchen lange, bis sie sich zu einer Antwort überwinden können. Das Umrühren des Tees und das Pendeln der Wanduhr füllen die Stille rhythmisch, aber auch beruhigend. Es war noch nie so ruhig, aber gleichzeitig unerträglich laut in diesem Wohnzimmer. Dieser Ort hat sich für mich immer wie ein zuhause angefühlt, aber jetzt ist davon nicht mehr viel übrig.

„Sie wurde in einem eher wenig begangenen Teil der Schule gefunden. Ursprünglich hat man geglaubt, dass sie irgendwie gefallen ist, aber da war kein Blut. Man hat schließlich realisiert, dass sie an einer zu tiefen Insulindosis in ihrem Blut gestorben ist. Es ist tatsächlich eine schreckliche Art des Suizides. Aber bei ihr kann man nicht davon ausgehen, dass sie ihre Dosen absichtlich gesenkt hat, denn der Umgang damit war ihr vertraut."

Es breitet sich schwere Stille aus, so schwer, dass sie mich beinahe erdrückt. Ich habe mich nämlich getäuscht. Es hilft mir nicht, dass ich etwas erfahren habe. Wenn möglich geht es mir nur noch schlimmer und ich fühle mich bedrückter und trauriger, weil es das nun ist. Das ist die Wahrheit. Das ist die Erklärung für die Abwesenheit – die ewige Abwesenheit – meiner besten Freundin. Sie hat sich zu wenig Insulin gespritzt. Wes vergräbt sein Gesicht und ich spüre, dass es ihm ähnlich geht wie mir. „Wieso hat es so lange gedauert, bis diese Information bekannt gegeben werden konnte?", will ich wissen, während ich mir durch die Haare fahre. Ich bezweifle, dass ich eine Antwort erhalte. Aber es verwirrt mich dennoch, dass Henry und Violet einen betroffenen Blick wechseln, ehe Henry zu einer Antwort ansetzt. „Das können wir dir nicht sagen, Helena. Vermutlich war die Schule an Protokolle gebunden, die sie nicht einfach brechen kann."

Ich nicke und zwinge mich, diese Situation nicht weiter zu analysieren. Ich möchte Henrys und Violets Gastfreundschaft nicht in Frage stellen und ihre Reaktion hinterfragen. Also seufze ich nur müde und drehe die Ringe an meinen Fingern, die im Licht silbrig glänzen. Ich trage sie nur, wenn ich mich selbst mit ihnen von etwas ablenken muss. „Hat sie euch etwas hinterlassen? Einen Brief?", will ich wissen. Diesmal sehe ich Violet direkt an. Ich muss die Antwort in ihren Augen sehen und ich tue es, sobald ich sehe, wie der unerträgliche Schmerz in ihnen grösser wird. Es ist nicht meine Absicht, sie zu verletzen, aber ich glaube tatsächlich daran, dass man alle Antworten in den Reaktionen von Menschen und nicht durch ihre Worten erhält. Die Art, wie sie scharf die Luft einzieht, oder hilfesuchend immer wieder zu ihrem Ehemann blickt, verrät mir schon alles. Das Nein steht so deutlich im Raum, dass ich beinahe schon glaube, es gehört zu haben, bis ich sehe, wie Henry langsam den Kopf schüttelt. Und das verwirrt mich.

Ist Mathilda nicht die freundlichste, offenste und netteste Person gewesen? Es fällt mir so schwer zu akzeptieren, dass die Dinge so gelaufen sind, wie es mir jetzt offenbart wird. Es ist es nicht unendlich merkwürdig, dass sie nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, aber sonst nie den Raum verlassen hätte, ohne mich zu Umarmen oder mir einen Kuss auf die Wange zu drücken? Die Geschichte passt nicht zusammen, aber mir ist bewusst, dass dies womöglich nur daher rührt, dass ich Mathildas Tod schlicht und einfach nicht akzeptieren möchte. Das mache ich schon seit einem ganzen Monat so, und bisher hat es ziemlich gut funktioniert. Ich habe mir eingeredet, dass ich es irgendwann einmal begreifen würde. Irgendwann. Es würde mir so viel leichter fallen, wenn ich mich noch immer daran binden würde, dass irgendwann einmal ein Zeitpunkt kommt, an dem die Informationen alle perfekt zusammenpassen und ich sie akzeptieren könnte.

Aber egal wie lange ich auch warte, dieser Moment wird vermutlich niemals kommen, weil es nicht so einfach ist, diesen Verlust zu verarbeiten. Die Situation wird auch nicht zur Normalität zurückkehren, denn Mathilda wird nicht zurückkehren. Spätestens jetzt, hier in ihrem Zuhause wird mir das klar. Spätestens jetzt, als ich von Mathilda, ihrem Duft, ihren Eltern umgeben bin, in einem Raum, der mit Erinnerungen an sie gefüllt ist, aber in dem sie niemals wieder sitzen wird, spüre ich, wie es auf mich zukommt, und mir ist mit einem Mal so schlecht, dass ich den Würgereiz kaum unterdrücken kann. Es wird nie mehr wieder so schön sein, wie es noch vor einem Monat mit ihr gewesen ist – zumindest für mich, denn sie war scheinbar tiefunglücklich. Mathilda wird nie mehr leben, nie mehr aufwachen, nie mehr lächeln und so langsam frage ich mich, ob sie damit vielleicht nicht die Einzige ist.

Wie hat euch das Kapitel gefallen 🤔?

Was haltet ihr von Wesley und Helena?

Oder von Mathildas Eltern?

Geniesst die Woche und dann lesen wir uns hoffentlich bald wieder 🥰

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