Kapitel 3 - Der verlorene Junge

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"Komm mit.
Komm mit mir dahin, wo dich nie wieder,
nie wieder etwas Erwachsenes quält."

- Peter Pan, JM Barrie - 

Nachtluft stieß ihr kalt entgegen und wehte blond-braune Locken aus ihrem Gesicht. Eisiges Grauen rollte der Frau über das Rückgrat, ließ sie in der Bewegung erstarren und ihre Gedanken blank laufen. Mit geweiteten Augen starrte sie auf das grausige Bild vor ihr.

Die Flügel des Fensters waren weit geöffnet und erlaubten den Blick auf die zahlreichen Schindeldächer, aufsteigenden Qualm und den Nachthimmel. Die dünnen, fleckigen Vorhänge wehten wie Geister im hereinziehenden Wind, der klagend heulte. Eine dunkle Silhouette hob sich gegen das matte Mondlicht ab wie ein groteskes Schattenspiel.

Der kleine Kopf war in einem unnatürlichen Winkel zur Seite gebogen und die Augen ihres Jungen in blankem Schrecken weit aufgerissen. Sein Mund stand leicht offen, als wollte er selbst jetzt noch nach ihr rufen. Blut hatte sich von seiner Kehle über seine Brust ausgebreitet, nässte die Kleidung und tropfte von den Kinderzehen auf den Holzboden. Das raue, fransige Tau, das um seinen Hals geschlungen war, gab ein leises, ächzendes Stöhnen von sich, während der Körper im Wind leicht vor und zurück schaukelte.

Übelkeit drückte Mrs. Darling in den Magen, wie ein gezielter Fausthieb. Ihre Lippen öffneten sich. Sie wollte schreien. Doch vor Schock brachte sie keinen Ton heraus. Dann kam ruckartig Bewegung in ihren Körper.

Ihre Schritte rumpelten auf dem Holzboden, als sie auf ihr Kind zustürzte. Ihre Finger tasteten angsterfüllt und steif nach den Zehen, wollten ihn im ersten Moment irgendwie hochheben oder halten. Blut verteilte sich auf ihrer Wange und ihrer Kleidung, während Mrs. Darling nur erstickte, klägliche Laute hervorbrachte. Ihr Verstand war nicht fähig, einen einzigen klaren Gedanken zu formen. Es fühlte sich an, als erstickte sie selbst. Als läge das Seil um ihren eigenen Hals.

„Nein ... neinneinneinneinnein ...!" Verzweifelt zog sie einen kleinen Schemel heran und zerrte wie von Sinnen an dem Seil an dem hölzernen Balken. Als es endlich nachgab und die Schwerkraft am Körper des Jungen zog, schaffte sie es gerade noch, ihn zu fassen, damit er nicht auf den Boden knallte. Taumelnd sank sie mit dem Leib ihres Jungen in den Armen auf den Boden und klammerte sich an ihr Kind.

„Michael ... Micky ..." Panisch tasteten ihre Finger über seinen Hals, zerrten an der kratzigen, engen Schlinge. „Nein ... nein ... wach auf ... oh Gott bitte ..." Ein klägliches Wimmern entstieg ihren Lippen.

Heiße Tränen flossen über ihre bleichen Wangen, während sie zitternd über sein goldblondes Haar streichelte. Die sonst so leuchtenden braunen Augen waren weit aufgerissen und sahen aus, als wären sie halb aus den Höhlen getreten. Die Augen ihres Jungen, ihres über alles geliebten Jungen, starrten ihr leer und vorwurfsvoll entgegen.
„Micky ... bitte .... wach auf", flehte sie in die drückende Stille. Doch er antwortete ihr nicht. Kein Atemzug. Da war nichts außer dem Rauschen ihres eigenen Blutes in ihren Ohren, ihrem rasenden Herzschlag.

Das konnte nicht wahr sein. Es musste ein Albtraum sein. Einer seiner dummen Witze und Streiche. In blanker, bodenloser Panik schüttelte sie ihren Jungen an den Schultern. Sein Kopf wankte wie der einer Marionette ohne Fäden haltlos vor und zurück.
„Wach auf ... bitte ... bitte wach auf ...!" Blut quoll aus der aufgetrennten Kehle, floss noch warm über den Kragen und ihre Finger. Ihre Brust war wie zugeschnürt und hob und senkte sich in schweren, schnellen Atemzügen. Ihre Augen ruckelten umher, hafteten sich ohne Halt zu finden immer wieder an etwas anderes. Sie wusste nicht, wonach sie suchte.

HILFE. BITTE!

Irgendjemand!

Das Fenster, das Seil, all das Blut ... ihr Junge. Ihr geliebter Junge.
Sie konnte nicht klar denken. Die wenigen Sekunden zogen sich grausam in die Länge. Als ihr Blick auf die Wand fiel, erfasste sie ein unkontrolliertes Zittern.

LOST BOY

stand dort in verschmierten roten Buchstaben aus Blut geschrieben.

Endlich löste sich aus ihrer Kehle ein markerschütternder Schrei und schnitt wie ein Messer durch die Schleier der Nacht. 

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