276-Ein Dolch

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"Kann ich. Ein wenig", antwortet Harry mir nickend.

Nervös reibt er seine Hände in einander, überlegt, indem er auf ein bestimmtes Bild an der Wand blickt, weshalb ich leicht meinen Kopf anhebe, ebenso das Bild betrachte. Es zeigt seine Mutter, früher, mit einem kleinen Jungen, um den sie ihre Arme schlingt. Die dunkelgrüne Jacke des Kindes ist ihm zu groß und ebenso die roten Gummistiefel, reichen ihm bis zu der Hälfte seiner Oberschenkel. Breit strahlt er in die Kamera und irgendwann, als ich die Grübchen sehe, wird mir klar, dass ich Harry sehe.

Der kleine, glückliche Junge, der noch keine gebrochene Beziehung zu seiner Mutter besitzt grinst frech in die Kamera, seine schmutzigen, voller Moder klebenden Hände hochhaltend.

Selten, vielleicht zweimal, sah ich bis zum heutigen Tage Bilder von Harry, als er noch ein Kind war. Auf den meisten waren Gesichter raus geschnitten, zeigten seine Mutter oder Vater nicht. Es gab dieses eine Bild, an welches ich mich immer erinnere, auf dem man das Baby mit den grünen Augen erkennen kann, jedoch nicht das glückliche, erleichterte Strahlen der Mutter, die den Jungen gerade auf die Welt brachte.

Harry schnitt, so erzählte er es mir einmal in Corby, als ich das Bild auf seinem unaufgeräumten Boden fand, das Gesicht seiner Mutter vor Wut und Enttäuschung heraus und verbrannte es, mit den tausend anderen Schnipseln.

Weil die Stimmung angespannt wird, setze ich mich wieder auf, rücke dicht, im Schneidersitz sitzend, an den Mann heran, dessen Hände ich ergreife. Sanft drücke ich zu, teile ihm meinen Beistand mit, worauf sich seine Mundwinkel leicht heben und er seufzend beginnt: "Nachdem ich die Wohnung wirklich den Tränen nahe verlassen hatte, da..."

Alleine sein erstes Satz reicht schon und ich spüre wie sich mein Herz zusammenzieht, meine Lunge verkleinert und ein Punkt getroffen wird, durch den ich beginnen möchte zu weinen.

Erinnerungen daran, wie die Wohnung damals aussah, leer und dunkel, durcheinander, erscheinen vor meinem Inneren. Der Weg, den ich hektisch lief, auf der Suche nach Harry, bis ich in die Küche komme und auf dem Tresen diesen Zettel finde, der meine ganze Welt zerstören wird.

Das Papier sah so weiß aus, wie ein Kunstwerk für sich, mit der krakeligen Schrift, den Absätzen und durchgestrichenen Zeilen. Am Anfang wirkte es wie etwas, an dem ein Künstler saß, doch entwickelte es sich zu einem Dolch.

Ein Dolch, der sich tief in mein Herz bohrte, dieses zerfleischte, zerspringen ließ. Ein Dolch, der mir alles raubte, mein Leben, wie den Tod ab nun erscheinen ließ.

"Es tut mir leid, was ich dir antat, Honor", schnieft er, wirkt, als muss er es noch einmal sagen, ehe er mir die Geschehnisse berichten kann. "So unendlich und auf-"

"Psss, Harry!" Schwer schluckend lehne ich mich vor, meine Stirn an seine und nehme sein zartes Gesicht, mit den leichten Bartstoppeln zwischen meine Hände. "Beruhig dich." Diese Schmerzen sind unerträglich ihn so zu sehen und ähneln dem Verlust. "Bitte. Ich möchte dich nicht weinen sehen, sondern stark und strahlend", murmele ich, bis unsere Lippen sich zögerlich berühren.

"Mir erscheint es manchmal so, als wäre ich nicht mehr solch ein jemand. Ein jemand, der stark ist und glücklich. Ich-"

"Du bist es aber noch", unterbreche ich ihn energisch. "Bitte."

Er nickt.

"Mit meiner Tasche bin ich durch die Straßen gelaufen und wollte erst einmal nirgendwo hin, obwohl ich mit meiner Mom abmachte, dass ich zu ihr komme", erzählt er mir.

Er wusste also schon, plante es, dass er den Brief schreiben wird und wo er danach hingehen wird. Diese Information tut weh, doch kann ich damit umgehen. Es wäre schlimmer, wenn mir jemand dies kurz nach dem Brief erzählt hätte.

Viel schlimmer.

"Guck, eigentlich wollte ich mit dir reden und ich stand wirklich lange in der Wohnung, bin auf und ab gelaufen, während ich mir meine Worte überlegt habe. Aber-" Harry stammelt, sucht nach den richtigen Worten, um seine Lage von damals mir zu vermitteln. "Ich war ein Feigling und konnte dir nicht erneut ins Gesicht lügen, wie ich es damals mit Louis tat."

Die Sache mit Louis.

Kurz fühlt sich mein Brustkorb so an, als sei ein schwerer, großer Stein dagegen geflogen. Geworfen von Louis. Doch danach geht es, nachdem ich tief Luft hole, aufmunternd die Hände in meinen, mit den Ringen an den Fingern und den Tattoos an den Gelenken, drücke.

"Deshalb schrieb ich den Brief und... Mir wurde beim Schreiben klar, dass ich keine Ausrede besitze, dir nichts Ordentliches auftischen kann, bei dem du nicht so sehr verletzt wirst", spricht er, wobei seine Stimme rau klingt. "Obwohl... Alles war verletzend und so durcheinander. Es-"

"Schon gut", beruhige ich ihn schnell, halte ihn davon ab, sich erneut zu entschuldigen. "Du hast beim Schreiben geweint, wovon die Flecken auf dem Blatt kommen. Stimmt das?", frage ich ihn zaghaft.

"Ja", nickt er zustimmend. "Gott, ich habe immer die ganze Schrift mit dem Fuck verwischt", meckert er dann, worauf ich kichernd, amüsiert entgegne: "Alleine dein ganzes Wegstreichen."

"Mir fehlten die richtigen Worte", verteidigt der Lockenkopf sich.

"Hab ich gemerkt. Sogar beim Thema Sex wurde gestrichen."

Harry schweigt. Ich schweige. Zumindest bis wir beide etwas darüber schmunzeln können, der Mann seine Hand hebt, eine Strähne aus meinem Gesicht wischt und haucht: "Ich wollte dich nicht verletzen. Früher tat ich das so oft durch meine Worte und dieses Mal..."

Früher.

Eine Zeit, in der wir nichts waren. Oder wir waren etwas, aber nicht wir selber. Ich der Freak, unbeliebt und tollpatschig. Harry, dieser Junge, der von allen vergöttert wurde. Jeder wollte so wie er sein, doch wusste niemand, was er durchmachen musste.

Und ich bin mir sicher -keiner von ihnen wusste je darüber Bescheid, keiner tut es jetzt. Außer mir!

"Drei Monate oder so, lebte ich bei meiner Mom und-" Harry stoppt, hält inne. Nachdenklich, skeptisch und besorgt sieht er mich an, beißt sich auf die Innenseite seiner Wange.

"Und, Harry?"

"Bist du mir bitte nicht wütend, wenn ich dir diesen Teil erst später erzähle?", bittet er mich inständig.

Ich nicke, auch wenn mich nun brennend interessiert, wer da noch war.

"Nach den drei Monaten zog ich hier ein und suchte mir eine Arbeit in einer Autowerkstatt, in der ich nun arbeite. Irgendwie musste ich schließlich genug Geld für diese Wohnung und dich bekommen?"

"Und mich? Wovon redest du?", frage ich sofort, vielleicht etwas zu energisch und überrascht.

Jedoch verstehe ich nicht, wovon er redet, wenn er meint, dass er Geld für mich bekommen musste. Was zum Teufel meint er damit, dass er für mich Geld besorgen musste.

"Wegen der Wohnung", meint er, führt dazu eine Handbewegung aus, als sei diese Information vollkommen normal und eigentlich sogar überflüssig.

"Harry, wovon spricht du, bitte? Warum musstest du Geld für mich -wegen der Wohnung- besorgen?"

Tausende Gedanken schießen in meinen Kopf.

Jemand könnte ihn verarscht und einen Brief in meinem Namen geschrieben haben, indem steht, dass er weiterhin seine Hälfte der Wohnung bezahlen soll. Jemand... Er... Es... All meine Ideen klingen so bescheuert und sinnlos.

"Seit fast drei Jahren zahle ich selber die Hälfte der Miete. Wovon sprichst du also?"

"Was?" Entsetzt reißt er die Augen weit auf, springt von der Couch und rennt vor der Couch nachdenklich, fluchend hin und her. "Was soll das bedeuten, Honor?"

"Das frage ich dich!"

Seine Arme vor der Brust verschränkt geht er wütend auf und ab, macht mich ganz kirre, weshalb ich irgendwann ebenfalls aufspringe, mich ihm direkt in den Weg stelle, mit meiner Hand gegen seinen Bauch drücke. "Du erzählst mir jetzt ganz genau, was hier abgeht, Harry!"

Stöhnend nickt er, rauft sich verzweifelt die Haare. "Auch wenn wir nicht mehr zusammen sind, wollte ich weiterhin die Miete für dich bezahlen, da du ja nie arbeiten gingst. Deshalb suchte ich mir den wirklich gut bezahlten Job und ja... Ich gab dem Vermieter immer pünktlich das Geld und er hatte auch nie etwas zu meckern."

"Aber... Der Vermieter erhielt immer von mir das Geld. Er bedankte sich sogar jedes Mal und meinte dann, dass es ja wirklich super mit der Bezahlung läuft."

"Dieser kleine, miese Pisser", ertönt es mit einem Mal laut von dem Lockenkopf, der gerne irgendetwas einhauen würde. Ich erkenne es klar und deutlich, wie er bebt, die Hände, zu Fäusten ballt. "Der Kerl hat dich verarscht, Honor!"

"Also wenn", beginne ich, hebe meinen Finger. "Dann verarschte er dich, weil ich in der Wohnung weiterhin wohnte und wohne. Wie hast du dir das überhaupt vorgestellt? Dass ich alleine Zuhause hocke, deine Kleidung als einzige Erinnerung an dich trage, aber zulasse, dass du die Miete weiterhin zahlst?"

Beschämt zuckt der große Mann mit den Schultern, sieht mich unschuldig mit diesen grünen Augen an, wegen denen ich ruhig seufze. "Du dachtest kein einziges Mal daran, dass ich eindeutig mit dir über diese Sache diskutieren würde?"

"Ich wollte dich einfach nur weiter unterstützen, genauso, wie ich dir weiterhin was zum Geburtstag schenken wollte", murmelt er.

"Nie, habe ich ein Geschenk von dir zum Geburtstag bekommen, Harry", kontere ich, ziehe meine Augenbrauen skeptisch zusammen, bis ich ihn auffordere: "Okay, erklär mir auch diesen Punkt!"

"Deine Eltern überreichten dir immer mein Geschenk, als eines von ihnen, weil ich das so mit ihnen absprach. Das Arm-"

"Meine Eltern wussten, dass wir getrennt waren?", kreische ich, reiße aufgeregt meine Arme in die Luft.

Fassungslos starre ich Harry an, kann nicht glauben, was er da gerade von sich gibt. Abwartend, meinen Kiefer anspannend sehe ich ihn streng an, bis er sehr schüchtern nickt, jedoch kein Wort hervorbringt.

Drei Jahre lang wussten meine Eltern jeden Tag, dass ich sie anlog. Sie waren gestern bei mir in der Wohnung und ich log sie an, dass Harry arbeiten muss, obwohl ich nicht einmal wusste, dass er tatsächlich arbeitet. Meine Eltern erlebten mit, wie ich sie hinterging und...

"Meine Mom wird mich hassen", keuche ich. "Harry, sie... Und mein Dad. Was soll ich ihnen denn jetzt erzählen? Wie soll ich ihnen unter die Augen treten?"

Kleinlaut antwortet der Mann auf meine eigentlich nur rhetorischen Fragen: "Sie haben damit gerechnet, dass du es ihnen nicht wirklich sagen wirst. Deine Eltern wurden eine Woche, bevor ich den Brief schrieb eingeweiht und sagten, sie rechnen damit, es nicht von dir zu erfahren. Aber sie gaben dir jedes Jahr die Geschenke."

"Du-" Ich schnaube wütend.

"Es war nur zu deinen Schutz, Honor!"

"Ich belog meine Eltern schon zum zweiten Mal wegen dir, wovon sie aber dieses Mal wussten, Harry. Wie soll ich mich denn jetzt fühlen? Und nur weil es zu meinem Schutz war, macht es die Sache auch nicht besser!"

Die Wut steigt in mir auf, sodass ich irgendwann diesen einen Entschluss fasse und mir sicher bin, dass ich hier fürs erste raus muss.

"Das war genug zum Anfang, fürs Erklären."

"Honor!" Hektisch läuft er mir nach, will mein Handgelenk packen, fass ich jedoch schnell wegziehe, und folgt mir ins Schlafzimmer, wo ich meine Hose vom Boden aufwische, aggressiv in das erste Bein steige. "Bitte. Hey-"

"Lass mich, Harry!"

Den Knopf bekomme ich beim ersten Mal nicht zu, stöhne schon gereizt, bevor er endlich zu geht und ich zurücklaufe, im Flur mir meine Schuhe schnappe.

"Meine Eltern hassen mich, sind enttäuscht von mir, Harry, seit Jahren", spreche ich knirschend. "Weil du dir einfach das Recht raus nahmst, ihnen das zu erzählen, was ich als ihre Tochter tun müsste."

Mit sehr viel Schwung drücke ich die Tür auf, renne dann schon laut stampfend die Treppen nach unten, ohne auch nur irgendwie Rücksicht auf Harrys Vermieter zu nehmen. "Honor, warte!"

"Nein! All die Geschenke, die Sache mit dem Vermieter und vor allem die Tatsache mit meinen Eltern, muss ich jetzt alleine verarbeiten, Harry, ehe ich noch mehr verkraften kann", meine ich ernst, mit Tränen in den Augen.

Seine Hand schlingt sich bittend um mein Handgelenk, da er will, dass ich bleibe. Seine Augen flehen mich an, sind den Tränen nahe. Er steht so dicht und doch spüre ich keine Wärme, sondern Kälte und den Scharm in mir.

"Dein Shirt gebe ich dir irgendwann zurück und-"

"Warte!" Er zieht mein Handy aus meiner Hosentasche, wo es tatsächlich die gesamte Zeit über drinnen stecken bleib, worüber ich froh bin. Ein neues Handy würde gerade gar nicht passen. "Meine Nummer. Ruf mich einfach an, wenn... Naja, du wirst wissen, wann du mich wieder sprechen willst", nuschelt er, reicht mir mein Handy zurück.

"Ciao Harry." Schnell stelle ich mich auf Zehenspitzen, küsse seine Wange und eile dann zu der Haustür, da ich schon die Schritte seines Vermieters höre und ihm keinen Stress machen möchte.

"Es tut mir leid, Honor", entschuldigt der Lockenkopf sich erneut, ehe die Tür ins Schloss fällt, mich die heiße Sonne direkt ins Gesicht trifft, schmerzt.

Der Alkohol zeigt jetzt, jetzt wo ich alleine bin, seine Nachwirkungen.

Und diese treffen mich genauso schwer, wie Harrys Enthüllung, die nur eine von vielen sein wird.

Da wird noch so viel kommen.

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