56 - das Loch

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Triggerwarnung:
Nellis lange verschüttete Erinnerungen bahnen sich ihren Weg ins Bewusstsein.

Pass gut auf Dich auf!

........................

Der Samstag vorm ersten Advent beginnt mit einem strahlenden Sonnenaufgang. Es ist bitterkalt, aber die klare Luft hier am Berg ist herrlich. All das restliche Baumaterial, die Müllcontainer, die Büroburg, die Maschinen und Handwerkerautos sind verschwunden. Die Einfassungen der neu angelegten Beete, die noch nackte Muttererde überall dort, wo Jimin im Frühjahr die ersten Pflanzen setzen wird, der schmiedeeiserne Zaun, die gepflasterten Wege, die Bänke an den kleinen Alleen, jedes Zweiglein an den Büschen und Bäumen ist überzogen mit einer dünnen Schicht Raureif. Wo die Sonnenstrahlen die kalte Pracht erreichen können, glitzert alles wie Edelsteine im Licht. Der ganze Park sieht aus wie eine funkelnde Wunderwelt, als ich zum Frühstück komme.

Leise beobachte ich Jimin, der im Morgenlicht umherstreift, immer wieder stehen bleibt und zärtlich einzelne Blätter und Zweige berührt. Wie er einen winzigen Eiszapfen an einem Ast entdeckt, still vor sich hin lächelt und weiterschlendert. Er scheint mich nicht bemerkt zu haben.
Allein für Jimin hat sich der ganze Aufwand gelohnt. Ach was! Für sie alle. ... Für uns alle. ... Ach je - Das ist mal wieder typisch für mich. Ich komm wie immer am Schluss der Aufzählung.

Ganz weit weg in Gedanken schlendere ich rüber zur Pförtnerei, will nicht drüber nachdenken, zähle zu meiner Ablenkung rötliche Steine im Pflaster und stolpere deshalb fast in die Hecke, statt den Durchgang anzusteuern.
Zu früh abgebogen ...
Nur einem beherzten Sprung von Jimin verdanke ich, dass ich rechtzeitig bremse. Er ist im selben Moment auch hier angekommen und hält mich einfach mitten im Laufen fest.
"Uff! Danke, Jimin. Ich war so in Gedanken ..."
"Das sah so aus, ja. Hoffentlich ist dir nichts passiert!"
"Nene, alles gut. Du warst schnell genug."
Dankbar schaue ich ihn an und ernte dafür eines seiner scheuen Lächeln.
"Lass uns reingehen, oder?"

Fröhlich setzen wir uns mit den anderen an den reich gedeckten Tisch. Jin hat schon wieder gezaubert. Vor ein paar Tagen hat er mich ausgefragt, ob es in christlichen Ländern typische Weihnachtsgerichte gibt, und was die bedeuten. Er hat offensichtlich gut zugehört. Es beginnt mit Dresdner Christstollen, englischem Orangengelee, einem österreichischen Hutzelbrot, das im Wesentlichen aus schwerem Hefeteig und jede Menge Dörrobst und Nüssen besteht, und Pflaumen-Zimt-Mus. Es folgen selbstgemachte schlesische Bratwürste mit einem Hauch Zitrone und der traditionellen Lebkuchensauce. Zum Nachtisch stellt er noch Berge unterschiedlichster Plätzchen wie englische Chocolat Mint Cookies, französische Diamant a la Vanille, deutsches Schwarzweißgebäck oder italienische Mandelkekse und Torrone in die Mitte.

Ich schüttele den Kopf, grinse breit und freue mich wie Bolle über seine gelungenen Köstlichkeiten.
"Du bist verrückt! Der Advent hat doch noch gar nicht angefangen. Und eigentlich ist im Advent unter der Woche Fastenzeit. Du hattest mich nach WEIHNACHTEN gefragt."
"Keine Sorge. Ab Montag gibts vier Wochen lang Karpfen. Jeden Tag ein bisschen anders gewürzt."
Namjoon hebt abwehrend die Hände.
"Deine Liebe für Fisch in allen Ehren. Aber dann faste ich lieber gleich ganz."
Ich verschlucke mich fast an einem Terrassenplätzchen mit Himbeer-Johannesbeergelee-Füllung vor lauter Lachen.

"Hm. Ich könnte für dich eine Ausnahme machen und den Karpfen in ganz viele Speckstreifen wickeln. Aber das verstößt eigentlich gegen die mönchischen Fastenregeln des heiligen ... des heiligen ..."
Hilflos sieht er mich an.
"Such dir was aus: Benedictus, Franziskus, Ludgerus, Bonifacius. Keine Ahnung, wer für den Speisenplan in Klöstern zuständig war. Sag mal, hast Du Dich durch die Encyclopaedia Britannica gewühlt? Von mir hast du diese ganzen Informationen nicht!"
Jin antwortet nicht sondern steckt sich stattdessen einen amerikanischen Creme-Whoopie in den Mund. Das sind kleine Doppeldecker, und der Teig enthält unter anderem Rotebeetesaft, Zimt, Kakao und Buttermilch. Aber Jin sieht bei meinem Kompliment ziemlich stolz und zufrieden aus.

Nach dem Frühstück zieht Namjoon mich zur Garderobe. Und irgendwie nehme ich eine gewisse Anspannung bei ihm wahr, die ich aber überhaupt nicht greifen kann. Also sage ich nichts.
"Wollen wir rausgehen? Die Sonne scheint so schön."
"Eigentlich habe ich gestern Abend Adventsschmuck sortiert und mitgebracht, damit wir die Villa und die Pförtnerei ein bisschen adventlich aufhübschen können."
"Das können wir machen, wenn es wieder dunkel ist draußen."
Wir hüllen uns in dicke Jacken, Mützen und Handschuhe und laufen einfach los. Doch schon nach wenigen Schritten rückt Joon mit der Sprache raus.
"Nelli?"
"Ja? Du klingst komisch. Ist irgendwas?"
Er bleibt stehen, dreht sich zu mir um, nimmt mich in die Arme und schaut mir in die Augen. Ich habe absolut keinen Schimmer, was mich da jetzt erwartet.

"Ich möchte dir was vorschlagen. Es ist und bleibt allein deine Angelegenheit. Aber - ich ... möchte nicht, dass du deinen seltsamen Traum mit ins nächste Jahr schleppst. Du solltest dieses alte Wasauchimmer abschließen, bevor du mit der Stiftung ein neues Kapitel aufschlägst. Kannst du dir vorstellen, dass wir jetzt im Sandkasten graben? Noch ist der Boden nicht durchgefroren, und die Sonne wird es vielleicht auch leichter machen."
Mir werden die Knie weich bei der Vorstellung.
"Das kommt so plötzlich."
"Nicht wirklich, Liebes. Du redest, grübelst, rätselst seit Monaten daran herum. Du hast es nur nicht an dich rangelassen. Außerdem hättest du dich tagelang verrückt gemacht, wenn wir dafür einen Termin gemacht hätten."
Ich fühle mich überrumpelt, obwohl mein Kopf weiß, dass Namjoon recht hat.
"Aber ... So-Ra ..."
"... steht schon in den Startlöchern. Du musst dich nur drauf einlassen."

Ich bin völlig überfordert. Auf einmal weiß ich nicht mehr, ob ich das überhaupt will. Oder doch. Oder nicht. Mir wird schwindelig bei der Vorstellung.
"Nelli? Kann es sein, dass du etwas Schlimmes ahnst, wovor du Angst hast? Und es deshalb immer weiter vor dir her schiebst? Ich spüre, dass dir allein der Gedanke daran körperliches Unbehagen beschert. Wir müssen nicht ..."
"Ich ... doch ... aber ... oder ... Joonie? Halt mich bitte ganz, ganz fest."
Sanft und sicher legt er seine Arme um mich und hält mich beschützend fest. Seine Wärme ist durch alle Stoffschichten hindurch tröstlich zu spüren und beruhigt mich allmählich.

Wie oft in den letzten Wochen habe ich daran gedacht! Davon geträumt! Und ... ja, mich davor gefürchtet. Er hat recht. Ich habe schlicht Angst vor der unbekannten, gut versteckten Wahrheit. Vor der Bedeutung dieses tiefen Loches. Vorm Inhalt. Aber so kann es nicht weitergehen. Ich muss 'das' klar kriegen, sonst werde ich immer wieder plötzlich von Erinnerungen von den Beinen gerissen. ... Also ... Tja. Warum nicht jetzt?

"Kannst du So-Ra anrufen?"
"Ich muss nur die verabredete Nachricht abschicken. Dann macht sie sich sofort auf den Weg."
Ich nicke bloß. Ich bin schon erschöpft, bevor es losgeht.
Aber sie haben recht. Im Grunde gibt es keinen guten Moment dafür. Es ist immer beängstigend. Wenn nicht heute, dann ist vielleicht die nächste Gelegenheit erst im Frühling, wenn der Boden ganz aufgetaut ist. Immerhin muss ich ziemlich tief graben.
Namjoon holt sein Handy raus, steckt es aber sehr schnell wieder weg.
Wahrscheinlich ein Sticker oder so. Egal. Müde.
"Komm, wir gehen so lange nochmal rein. Frieren werden wir nachher noch genug."

Schon in vorauseilendem Gehorsam wie gelähmt schleiche ich zurück in den Gemeinschaftsraum. Namjoon muss mir sogar die Jacke ausziehen. Mir ist innerlich so kalt, dass ich mich sofort an den Kachelofen setze. 
Die anderen Jungs haben sich inzwischen verkrümelt. Nur Hoseok hockt auf dem Sofa und hört mit geschlossenen Augen Musik. Als wir reinkommen, öffnet er die Augen, sieht mich an und wirkt sofort besorgt.
Na, schönen Dank auch. Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein blaugefrorenes Gespenst.
Namjoon erklärt mit wenigen Worten die Situation.
"Hobi, hat Nelli dir mal erzählt, dass sie den Sandkasten umgraben will, um etwas zu suchen?"
"Da war mal was, ja."
"Wir wollen das jetzt in Angriff nehmen. Wir warten nur auf So-Ra."
Hoseok scheint zu verstehen. Er kommt zu mir rüber, nimmt mich kurz in die Arme und lächelt mich an.
"Ich wünsche dir viel Kraft und hinterher endlich Klarheit. Du hast die treuesten Unterstützer an deiner Seite. Nur Mut!"
Dann lässt er uns allein.

Meine Besti muss geflogen sein, so schnell ist sie da. Für mich fühlt sich die Wartezeit trotzdem an wie eine Ewigkeit im Tunnel. Die beiden schmeicheln mich in die Senkrechte, umarmen mich liebevoll, packen mich wieder warm ein. Sie schnappen sich Kissen, Decken, komplimentieren mich aus dem Haus. In der Garage folgen als Ausrüstung Schaufeln, Namjoon greift noch eine Axt, falls wir uns durch Wurzeln durcharbeiten müssen, dann lenken sie mich den Hang hoch, am Erkerturm der Villa vorbei.

Ich komme mir vor wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird. Dabei ist das vollkommen absurd. Die beiden wollen mir helfen, wollen es mir nur leichter machen. Keiner zwingt mich - und meine Seele weiß das eigentlich. Sie versucht trotzdem mit allen Mitteln, mich daran zu hindern, dort jetzt in der Vergangenheit zu graben. Schon mehrere Meter vor dem Sandkasten fange ich an zu zittern und greife nach irgendwelchen Händen. Mir wird schwindelig, der Boden unter meinen Füßen fühlt sich schwankend an wie bei einem Erdbeben. Alles in mir wehrt sich dagegen, noch einen einzigen Schritt weiter zu gehen.

Schnell halten die beiden mich fest. Namjoon versucht, mich zu ermutigen.
"Ich liebe dich, Nelli. Du bist wundervoll und einzigartig, ganz egal, ob du da jetzt buddelst oder nicht. Wir machen sofort kehrt, wenn du das möchtest."
In So-Ras Stimme höre ich Zweifel.
"Schätzchen, ich kann es nicht mehr mit ansehen, wie deine Angst immer größer wird. Wir möchten dir helfen, dieses große, unbekannte Ding beim Namen zu nennen, damit es dich nicht mehr belastet. Aber jetzt denke ich fast, es ist doch zu viel."

Ich stehe bloß da, mit geschlossenen Augen, und lasse mich halten.
Wir machen sofort kehrt, wenn du das möchtest. Super. Wenn ich wüsste, was ich möchte ... Weglaufen möchte ich. Aber auch nicht das 'Ding' weiter vor mir herschieben. Am liebsten das ganze schon hinter mir haben. Ich möchte ein harmloses Sandförmchen finden, darüber lächeln und nie wieder dran denken. Es liegt allein an mir.
Und da wird mir klar, dass ich das nicht nur tun muss sondern doch auch tun will, damit ich daran wachsen kann. Fast ärgere ich mich über mich selbst.
Warum hab ich dieses Ding so ausführlich geträumt, wenn ich dann doch nicht rausfinden soll-will, was zum Kuckuck daran sooo gefährlich ist!

Ich fühle, dass Harry irgendwie bei mir ist und mich auch ermutigen möchte. Also richte ich mich auf, öffne meine Augen, halte mich gut bei den anderen fest und laufe los. Zu meiner großen Erleichterung werden meine Schritte allmählich fester, und etwas Energie kehrt zurück.
So kanns gehen - was auch immer da kommt.
So-Ras Stimme dringt leise zu mir durch.
"Weißt du, was ich irgendwie nicht einsortieren kann, Nelli? Du hattest diesen Traum, als Namjoon bei dir war. Der Moment war voller Geborgenheit, der Traum war seltsam, ziemlich plastisch und hat dich, wenn ich das richtig erinnere, vor allem neugierig gemacht. Nach dem Motto 'mal kucken, ob da wirklich was ist'. Du konntest darüber reden, mit mir den Zeitraum einkreisen. Das wirkte alles so harmlos und unbedenklich.
Aber jetzt, wo es losgehen soll, zitterst du, bist gradezu einer Ohnmacht nahe und wirkst, als ob alles in dir schreit:'tu es nicht, renn weg!' Was hat sich verändert? Was könnte denn passieren, was dich so in Panik versetzt?"

"Das ... weiß ich eigentlich gar nicht. Du hast das ziemlich gut beschrieben. Am Anfang war es nur seltsam, aber jetzt ist es aus irgendeinem Grunde fast wie eine tickende Zeitbombe, die hochgeht, sobald ich sie in die Hand nehme. Ich glaube, die Tatsache, dass sich ohne mein bewusstes Zutun das Gefühl dazu so sehr verändert hat, ist vielleicht sogar die größte Bedrohung! Auf der anderen Seite - warum habe ich das geträumt, wenn ich dem nicht nachgehen soll?"

Mein Blick fällt auf die vermoderten Holzbalken, die einst als Sitzbank den Sandkasten eingefasst hatten. Daneben liegt der kleine Baum, der in den letzten Jahren im Sand gewachsen war. Jimin hat ihn vor ein paar Wochen mit Hilfe eines Baggers mitsamt Wurzelwerk rausgerissen.
"Oh. Der Baum. Ich ... wer weiß, wie tief der bereits gewurzelt hatte. Jedenfalls ist hier grade vor kurzem alles auf den Kopf gestellt worden."
"Dann hoffen wir jetzt einfach, dass noch da ist, was du da vergraben hast. Hat dein Traum dir verraten, wo wir jetzt buddeln müssen?"
"Das ist lieb, Joonie. Aber ich möchte alleine graben. Wenn ich nicht weiter komme, werde ich euch fragen. Okay? Ich glaube, ich habe im Traum von hier geschaut. Also müsste ich damals auf dieser Seite gesessen haben. Und dann sollte ich wohl in der Ecke anfangen zu graben."

Bestimmt eine halbe Stunde lang arbeite ich mich immer tiefer durch den Sand. Das Loch wird immer breiter, schließlich stehe ich selbst bis zu den Knien darin. Ich sage kein Wort mehr, ich denke nicht, ich habe auf Autopilot geschaltet. Irgendwas ändern kann ich nicht mehr, aufhören will ich nicht mehr. Meine Reaktion auf einen möglichen Fund voraussagen kann ich nicht. Also immer weiter.
Ab und zu hackt Namjoon eine dickere Wurzel durch oder So-Ra hebt einen Stein beiseite. Ansonsten stehen die beiden nur neben meinem Loch und achten darauf, wie es mir geht. Eigentlich kriege ich davon gar nicht viel mit.

Erstaunlich, wie tief Onkel Harry damals den Boden hat ausheben lassen. Ich grabe immer noch in Sand, nicht in Erde. Oh - doch, jetzt.
Dunkle Erde kommt zum Vorschein, sogar das Geräusch ändert sich, als ich weitergrabe. Schon wieder schreit etwas in mir: "Lauf weg!" Aber jetzt will ich es zu Ende bringen. Ich lasse keine Tränen zu.
"Hoffentlich habe ich nicht NOCH viel tiefer gegraben damals. Ich sollte vielleicht ab jetzt die Blumenschaufel nehmen und vorsichtiger weitermachen, damit nichts kaputt geht."

So-Ra streicht mir einmal ermutigend über den Rücken und nimmt den Spaten entgegen. Stattdessen reicht sie mir die kleine, robuste Metallschaufel rüber. Mein Rücken ist steif, ich recke mich ausgiebig und setze mich auf den Rand von meinem Loch. Ich muss lächeln. Mit einer schnellen, fließenden Bewegung schiebt Namjoon mir ein Kissen unter den Po.
"Danke, Schatz. Das ist eine gute Idee."
Die Arbeit geht nun langsamer. Ich kratze eher dünne Schichten ab, als dass ich noch grabe.

Bis ich auf einmal leuchtend blaue Farbpunkte in der Erde sehe. Ich zucke richtig zusammen, halte inne und starre in mein Loch.
"Blau. ... Da ist was blau ..."
Und schon ist das Zittern wieder da. Der Schwindel. Trotz der Kälte bricht mir der Schweiß aus. Das "Lauf weg!" dröhnt durch meinen Schädel. Aber ich weine nicht.
Namjoon nimmt mich von hinten in die Arme.
"Mach weiter, Liebes."
Vorsichtig kratze ich an der Stelle, höre aber gleich wieder auf, weil es nach Metall klingt. Ich hole tief Luft.

Mach weiter. Nein, lauf! Nicht kneifen. NEIN, LAUF! MACH SCHON!
Bevor ich meinem Fluchtinstinkt gehorchen kann, steche ich mit etwas Abstand einen Kreis in die Erde und hebele die Mitte hoch. Und da liegt es. Das blaue Metall. Das leuchtend blaue Metallauto, das mir meine Eltern geschenkt haben. Ich hatte es im Laden gesehen und mir so sehr gewünscht, weil es ...

Ich bin nicht in der Lage, das Ding aufzuheben.

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Glühende Kreise tanzen vor meinen Augen, ich wanke, greife ins Leere. Ich fühle mich auf einmal, als ob ich schrumpfe, wie von einem starken Sog werde ich in meinen Kinderkörper gezogen und bin mutterseelenallein. Kein Ton kommt über meine Lippen, mein kleiner Körper ist starr und taub.
Mein kleiner Körper erzittert. Hilflos sehe ich mich um. Ich beuge mich runter in das Loch, hole das Ding raus und flüstere:"Oh Gott!"
Warum ist das kleine Auto so ungewöhnlich platt? Als wäre etwas Schweres darauf gefallen. Schlagartig stürmen Bilder auf mich ein.
Ein Bauklotz? Nein. Ein Stock? Ein ... ein großer Stein. ... mit voller Wucht ...
Ein Gedanke formt sich, der mich erschüttert. Das ... ist das Auto ... von Mama und Papa. Mit dem sie den Unfall hatten. An dem ich Schuld war.

Das tut so weh im Herzen, ich fühle mich so falsch und böse, viele furchtbare Gefühle schlagen über mir zusammen wie ein Tsunami, rauben mir schier den Verstand. Ich kann nicht mehr denken. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich breche zusammen. Ich schreie. In mir drin und um mich drumrum ist alles kalt und schwarz und laut. Unerträglich laut. Berstende Scheiben, reißendes Metall, kreischende Bremsen, quietschendes Eis. Aber noch immer fließt keine einzige Träne. Dafür dehnt sich mein Körper wieder aus, ich wachse in die Länge, werde seltsam schnell er-wachsen. Schließlich betrachte ich wieder das kleine verzweifelte Mädchen von außen.

Alles tut mir weh. Wie soll ich damit weiterleben? Wegen mir sind meine eigenen Eltern gestorben! Und ich? Habe das wunderbar behütete Leben bei Onkel Harry genossen. Offensichtlich ohne schlechtes Gewissen. Fröhlich, voller Ideen und Erlebnisse, weil Harry mir alles ermöglicht hat. Ich habe Mama und Papa einfach aus meinem Gedächtnis und Leben gestrichen und weiter gemacht wie vorher. Wenn ich nicht mal weine - wie egal ist mir das alles geworden??? Oder noch schlimmer - schon immer gewesen? Wie furchtbar! Unerträglich!

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Ich spüre, wie ich hochgehoben werde.
"Bringst du sie rein, Namjoon? Ich komme gleich nach, ich muss nur eben meine Eltern anrufen. Die erinnern bestimmt mehr als ich."
"Nimmst du ...?"
"Klar. Ich beeil mich."

Ich werde getragen. Ich werde ganz, ganz fest gehalten und getragen. Namjoons Stimme dringt leise, liebevoll und lockend in die Schwärze in meinem Kopf. Wie bei einer Wunderkerze schickt seine Stimme lauter kleine Lichtblitze, um meine Seele zu halten und zu beruhigen. Der Sturm in mir tobt ohrenzerfetzend laut, aber Namjoons Lichtblitzworte kann ich trotzdem hören. Ich klammere mich an diese Worte wie eine Ertrinkende. Ich habe keine Orientierung mehr, weiß nicht, wo oben und unten ist, wohin Namjoon mich bringt, ich konzentriere mich vollkommen, durch den Sturm hindurch seine Stimme nicht zu verlieren. Seine Stimme und seine Hände sind das einzige, was ich wahrnehme in der undurchdringlichen Schwärze um mich herum. 

"Ach, du ... - was ist mit Nelli denn passiert??? Komm rein. Wo ..."
"In mein Zimmer. Ich glaube, jetzt ist Ruhe das wichtigste. Und ich weiß auch nicht, wie Jin und Jimin das wegstecken würden."
Geräusche. Türen. Ganz weit weg.
"So. Brauchst du sonst noch was? Es ist relativ kalt hier drinnen."
"Tee, eine Suppe, halt was Warmes. Und - kannst du So-Ra entgegen gehen, ihr tragen helfen?"
"Kommt sofort!"

Ich höre eine Tür klappern, erfasse aber die Bedeutung all dessen nicht. Namjoon legt mich hin. Ich halte mich fest an seinem Arm. Das Unbegreifliche macht mir große Angst.
"Du bist wach! Hab keine Angst, Liebes. Du bist in meinem Bett, in der Pförtnerei. Ich gehe nicht weg von dir. Ich ziehe dir nur Schuhe und Jacke aus, und dann kuscheln wir. Ich bin ganz für dich da."

Namjoon wickelt mich irgendwie ein. Seine Stimme umschmeichelt mich. Wir kuscheln. Ich erinnere mich an nichts, dabei muss ja wohl irgendwas passiert sein. Ich sehe nichts. Ich weiß aber gar nicht, warum nicht. Ich weiß nicht mal, ob meine Augen offen oder geschlossen sind. Oder ob ich sie einfach nur nicht öffnen will. Vor irgend einer grausamen Wahrheit, die hier unbehaglich im Raum schwebt und in meinem Kopf dröhnt. Ich spüre mich selbst nicht. Nur Joon, den kann ich spüren. Ich klammere mich an seinen warmen, starken Arm, bis Schwärze mich erlöst und die furchtbaren Geräusche in den Hintergrund drängt.

Eine fremde Frauenstimme spricht.
"Und seit vorhin ist sie wieder ohnmächtig? Gut, dass Sie immer bei ihr sind, Herr Kim. Das ist wirklich besorgniserregend.
Dieser Traum, der sie jetzt seit Wochen verfolgt - so real. Was muss sie dabei erschreckt sein. Wir haben uns damals große Sorgen gemacht. Nicht direkt nach dem Unfall. Aber als sie plötzlich alle Bilder weggeräumt und nicht mehr darüber geredet hat. Wieviel hast du eigentlich davon mitbekommen?"
Es ist So-Ra, die antwortet, und jetzt weiß ich auch, wer die Frau ist - ihre Mutter Woo Rae-Jin. Sie ist hier.
Aber ... wo bin ich?
"Ich glaube, dass sie viel bei uns war, richtig? Und dass sie viel geweint hat am Anfang."
"Ja, genau. Harry musste die Beisetzung organisieren, dann Nellis Umzug zu ihm, die ganzen Erbschaftsangelegenheiten, den Verkauf des Hauses. Und er stand ja selbst unter Schock. Hat sich Vorwürfe gemacht. Es war eine schwere Zeit für beide."

"Ich erinnere, dass sie eine Zeit lang Angst hatte vor Autos. Und ... vor der Farbe blau! Es hat viele Jahre gedauert, bis es ihr wieder egal war, welche Farbe ihre Kleidung hatte zum Beispiel. ... Aber vielleicht trügt mich auch mein damals kindliches Zeitgefühl."

Bin ich eigentlich wach, oder träume ich das? Die beiden reden über mich. Ich hab zu allem Bilder im Kopf. Aber wo kommen diese Bilder auf einmal her? Ich weiß es nicht.
Ich möchte verstehen, wo ich grade bin. Mir ist angenehm warm. Ich nehme Namjoons feinen Geruch wahr. Und ... er ist hier, bei mir. Er hält mich fest im Arm. Also bin ich wohl wach. Oder? Hm - wenn ich wieder riechen kann - dann kann ich vielleicht auch die Augen öffnen? Erstmal die Augen finden. Kopf. Genau. Jetzt aufmachen. Autsch!
Helles Licht blendet mich.

"Namjoon, Nelli wird wach. Sie hatte kurz die Augen offen."
"Echt?"
Ich spüre, wie er mich anders hinlegt, sich neben mich hockt.
"Bist du wach, Liebes? Bin ich froh!"
Ich sollte antworten, oder?
Vorsichtshalber lasse ich die Augen zu, sage nur ein Wort.
"Hell."
"Blendet dich das Licht? Das können wir ändern."
Ich nicke einfach nur. Jemand steht auf, knipst an ein paar Schaltern rum, hinter meinen Augenlidern sieht es aus wie Gewitter. Dann gibt es nur noch angenehmes Dämmerlicht. Ich suche mit meiner Hand nach Namjoon. Sofort hält er mich fest.
"Besser?"
"Ja. Ich ... halt mich. Was ist passiert? Ihr klingt so besorgt."
Ich starte den nächsten Versuch, meine Augen zu öffnen, und sehe im Halbdunkel drei Menschen um mich herum. Namjoon, So-Ra und tatsächlich Woo Rae-Jin. Ganz kurz nehme ich einen Blickkontakt zwischen Joon und So-Ra wahr.

Es ist Rae-Jin, die mir schließlich antwortet.
"Nelli, meine liebe Nelli! Du weißt, wer ich bin?"
Meine Stimme klingt richtig kindlich.
"Meine zweite Mama."
Sie lächelt und streichelt mir zärtlich die Wange. 
So vertraut. Und so weich.
"Ich will versuchen, deine Frage zu beantworten. Du warst mit So-Ra und deinem Freund, Herrn Kim, draußen. Plötzlich hattest du eine sehr lange verschüttete Erinnerung und sehr viel Angst. Dann hast du eine ganze Weile geschlafen - oder warst ohnmächtig. So genau konnten sie das nicht rausfinden. Aber die beiden haben gut auf dich aufgepasst. Du warst nicht alleine."

Namjoon beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn.
"Mach dir keine Sorgen, Liebes. Jetzt komm erstmal zu dir. Dann kurbeln wir deinen Kreislauf an, gehen rüber und essen was. Wenn wir den Eindruck haben, dass du wieder richtig wach und einigermaßen stabil bist, können wir darüber reden, wie es dir geht. Ist das okay für dich?"
Ich lächele spontan.
Mein wundervoller Freund!
Ich höre sehr wohl die Sorge in seiner Stimme und das Bemühen, mir die Wahrheit über meinen seltsamen Aussetzer nur in Häppchen zu präsentieren. Aber ich habe keine Kraft, energischer nachzubohren, also vertraue ich den dreien, das ist grade leichter.

Trotzdem kann ichs nicht lassen.
"Definiere wach und stabil. Solange ich nicht weiß, um welche Erinnerung es sich dreht, kann ich auch noch nicht sagen, ob das okay ist."
So-Ra atmet tief durch, hörbar erleichtert.
"Okay, du kannst schon wieder frech sein. Dann gehts wohl aufwärts mit dir."

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12.4.2023    -    25.3.2024

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