81 - Mama und appa

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Ich wache am nächsten Donnerstag Morgen ohne Wecker erholt und zufrieden auf. Keine Flashbacks mehr, keine seltsamen Träume, komischen Bilder oder Streitgespräche im meinem Kopf. Mir geht es so gut wie schon seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr.

Nächste Woche Samstag ist Heilig Abend. Wir werden am Vormittag mit allen Geschäftspartnern und angehenden Mitgliedern die Stiftung und das 'Netzwerk der Hoffnung' in der zauberhaft renovierten Villa gründen und zum Mittag Jins Meisterwerke der Kochkunst genießen. 
Am Nachmittag wollen wir in der Pförtnerei unter uns Weihnachten feiern. So richtig mit Baum, Liedern, Krippe, Keksen und Geschenken. Die Jungs haben darauf bestanden, weil ich mich wie 'zu Hause' fühlen soll.

Am Abend werden wir dann auseinanderlaufen. Tae geht zu seiner Familie, Jimin wird eine Weile mit Sejin im Krankenhaus verbringen und dann Tae folgen. Ich spendiere das Taxi, damit er nicht allein quer durchs menschenleere Seoul fahren muss.
Jeongguk wird mit Yoongi und seinen Eltern feiern. Hoseok wird als Überraschung bei seiner Tante auftauchen, die wie immer seit seinem Auszug die große Familiensause boykottiert. Namjoon und ich werden an dem Abend bei So-Ra und Familie Woo sein, bevor wir uns in meine Wohnung unterm Dach zurückziehen.
Nur Jin besteht darauf, allein in der Villa zu bleiben, die Reste der Feste zu versorgen und in der großen Küche vor sich hin Kochexperimente zu machen. Hoffentlich können wir ihm das noch ausreden.

Vorher sind allerdings noch ungefähr dreitausendfünfhundertneun Handgriffe zu tun, Gedanken zu verschwenden und Absprachen zu tätigen, damit bis zur Gala am 28. Dezember alles glatt läuft. Und die alle wollen sorgfältig immer wieder neu koordiniert werden. Da so viele Personen darin involviert sind, hat uns unser Webmaster eigens eine Kommunikations-App erstellt, auf die wir alle Zugriff haben, wo wir ToDo's abhaken, Termine vereinbaren oder Besprechungen abhalten können.

Aber zuerst stehe ich auf, lasse mir Zeit, verwöhne mich selbst ein bisschen im Bad, genieße ein gemütliches Frühstück und chatte mit Namjoon. Anschließend suche ich die Homepages der gestern anwesenden Medien auf und mache mir Notizen, wer wie über die Pressekonferenz berichtet hat. Das ist ziemlich spannend und umfangreich, denn die meisten renommierten Verlage bringen ihre wöchentlichen Printmedien passenderweise donnerstags heraus. Also heute, ganz frisch.

Ein Handelsblatt legt den Schwerpunkt auf das soziale Ausbildungskonzept der drei vorgestellten Betriebe und fordert den Staat auf, selbst finanzielle Anreize für dieses Konzept zu schaffen. Zwei Wirtschaftsmagazine analysieren das finanzielle Konzept und den Fünfjahresplan mit Hinblick auf potentielle Möglichkeiten für Kapitalanleger.
Die Stadt Seoul lobt sich in einer großen Tageszeitung und zwei Fernsehsendern selbst für ihren Anteil am Gelingen, der sich jedoch in Wahrheit weitgehend darin erschöpft, dass sie den Druck bezahlen, uns keine Steine in den Weg legen sondern uns machen lassen.
Mehrere psychologische und pädagogische Fachzeitschriften, die sonst eher unter dem Radar fliegen, stellen unseren moralischen und gesellschaftlichen Anspruch dar, erklären unser breit aufgestelltes inhaltliches Konzept und fügen interessante, weiter reichende Ideen hinzu. Andere konzentrieren sich darauf, die Schlüsselfiguren Yoongi, Namjoon und mich vorzustellen und auf meine Rede einzugehen.

Die Schnappschüsse und Spekulationen der Regenbogenpresse ignoriere ich. Viel gab es für die sowieso nicht zu holen. Alle anderen berichten so einheitlich, dass jedem sofort klar sein dürfte, was wahr und was zusammengesponnen ist.

Nach einem Kaffeepäuschen in dicker Jacke auf dem Balkon gehe ich endlich auf unsere Koordinatons-App und plane meine nächsten Tage. Ich mache Notizen für meine neue Rede und beschließe dann, den Bürotag für heute zu beenden. Immerhin bin ich noch krankgeschrieben.
Ach ... stimmt. Ich sollte meinen Chef und den netten Arzt über den Stand der Dinge informieren!
Dem Arzt schreibe ich einfach eine Mail und erzähle ihm, wie es mir jetzt geht.

Meinen Chef rufe ich lieber an. Ich berichte ihm, dass ich nächste Woche wieder anwesend sein und ab ersten Januar wieder richtig einsatzfähig sein werde. Ich mache auch deutlich, dass ich ihm mit der jetzt halben Stelle weiter erhalten bleiben will, falls er das wünscht, da ich in der Stiftung keine bezahlte Aufgabe haben werde.
Wir legen meine Arbeitszeiten für die nächsten Wochen fest, plaudern ein bisschen, wobei er mich zu meinem Erfolg und dem positiven Echo in der Presse beglückwünscht und seine Erleichterung zum Ausdruck bringt, dass ich bleiben und bald wieder ein planbares Mitglied des Teams sein werde.
Jaaaa, er hat viel Geduld gehabt im letzten Dreivierteljahr. Da kann ich echt froh sein. Da sollte ich mir noch ein Dankeschön ausdenken, auch für die Kollegen.
Ich bedanke mich bei ihm, lege auf, fahre mein Laptop runter und lehne mich zurück.

Und jetzt? Genau, jetzt bin ich dran. Einen Happen essen, ein Nickerchen machen und dann ran an Harrys Bildermappe. Es gibt noch so viel zu entdecken dort.
Bleierne Müdigkeit überfällt mich. Der Happen ist wirklich nur ein Happen, und schon bin ich in der Waagerechten. Die Veranstaltung gestern und das Echo dazu heute haben mich offensichtlich deutlich mehr Energie und Nerven gekostet, als ich erwartet hatte. Das Nickerchen fällt entsprechend üppig aus. Ich wache erst wieder auf, als draußen die Dämmerung bereits vorangeschritten ist.

Ich habe Hunger. Aber da ich auch neugierig auf die nächsten Bilder bin, bleibt es wieder bei einem Happen.
Nachher kommt Namjoon, dann werden wir richtig kochen.
Ich mache es mir mit ein paar belegten Broten auf dem Sofa bequem und überlege, welche Frage ich der Mappe heute stellen möchte.
Eigentlich ...
Ich schließe die Augen und lausche in mich hinein. 
Eigentlich sind die massiven Schuldgefühle inzwischen im Netzwerk kanalisiert. Auch gegenüber Harry empfinde ich nicht mehr Schuld sondern Dankbarkeit. Der Sandkasten ... das blaue Auto ... 
Die Bilder ziehen vor meinem geistigen Auge vorbei. Sie schrecken mich nicht mehr.

Ob ich mich jetzt an die Unfallbilder wagen kann? Der Unfall meiner Eltern, vielleicht gibt es eine Reaktion auf das Verschwinden von dem Spielzeugauto, meine Veränderung, der Sommer ... Da sind so viele Seiten, um die ich bisher einen Bogen gemacht habe. Und dann dieser mysteriöse Umschlag über Oh-Ryu. Ob ...

In dem Moment erlöst mich das Telefon von meiner Grübelei. So-Ra, mit ihrer Privatnummer. Also hat sie Feierabend. Zeit zum Plaudern! Ich lehne mich zurück und nehme den Anruf an. 

"Hallo, Sweetie! Was verschafft mir die Ehre?"
"Deine vorsichtigen Nachrichten der letzten Tage, für die ich dir danke. Und das überwältigende Presseecho über gestern. Herzlichen Glückwunsch! Du hast es geschafft. Ihr wart Thema Nummer 1 heute im Büro. Ich bin stolz auf dich."
"WIR haben es geschafft. Du Jungs waren so gut drauf, so geistesgegenwärtig, so schlagfertig, so klar. Ich dagegen habe vor ..."
"Willst du dich schon wieder schlecht machen? Dann sei gleich wieder still."

"Nein, Besti, will ich nicht. Ich hatte mir vorher den Kopf zerbrochen, was ich bei der Pressekonferenz, was bei der Gründung und was bei der Gala sagen will, damit ich mich nicht verheddere oder wiederhole. Aber als ich dran war, hatte ich ein Blackout und konnte mit meinen eigenen Notizen nichts anfangen. Also habe ich aus dem Bauch heraus gesprochen. Es war spürbar das richtige - allerdings war es fast komplett das, was ich eigentlich bei der Gründung sagen wollte."
"Autsch! Und jetzt?"
"Ich hab das erst hinterher kapiert und dann einfach die Journalisten gefragt, was ich in neun Tagen stattdessen sagen soll. Und siehe da - eine hatte tatsächlich eine sehr brauchbare Idee. Ich bin also aus dem Schneider."

So-Ra kichert. Ich nutze die Gelegenheit, um den Spieß rumzudrehen.

"Aber jetzt erzähl mir von dir. Bist du am Montag gut reingekommen? Und wie hoch war der Stapel auf deinem Schreibtisch?"
"Der Montag war hart. Obwohl ich zu Hause wirklich sehr früh ins Bett gegangen bin. Aber unsere Kollegen sind toll. Die ganze Abteilung hat für uns beide mitgeackert. Am Montag haben sie mir noch zusätzlich telefonfrei gegeben und alle meine Anrufe angenommen. Ich bin also wieder drin, und das Aufstehen hat heute auch wieder geklappt.
... Ich bin froh, dass ich mit dir in Berlin war. Du allein - das wäre nicht gut gewesen. Das war den ganzen Stress wert. Es geht dir so viel besser jetzt!"
"Ja, das war wirklich nötig. Deshalb bist du ja auch meine Besti. Danke auch, dass du mir so den Rücken freihältst. Grüß die anderen."

Wir plaudern und pieksen und albern. Ich erzähle von unserer Flucht gestern, sie grüßt mich von ihren Eltern. Sie hoffen auf meinen baldigen Besuch, damit ich selbst erzählen kann, wie es mir jetzt geht.
Und irgendwas wollte ich ihre Mutter ja noch fragen ... Naja. Wird mir schon wieder einfallen.

"Was machst du noch heute?"
"Ich habe noch etwa zwei Stunden Zeit, bis Namjoon kommt. Wir wollen einfach kochen und essen. Ich hatte eben hier gesessen und überlegt, ob ich mir was aus der Mappe ansehen will. Ich kann mich nur nicht entscheiden, was."
"Verstehe. Lass mich überlegen. ... Um deinen fünfzehnten Geburtstag rum waren Bilder. Zu deinem Schulabschluss, deiner Wohnung, deinem Studium, den Examina. Dein Besuch damals in Berlin."
"Ich hatte vorhin überlegt, ob ich endlich den komischen Umschlag mit dem Namen aufmachen soll."

Ich höre praktisch durchs Telefon, wie So-Ra zusammenzuckt.

"Tu, was du nicht lassen kannst. ICH betrachte das Teil als eine tickende Zeitbombe. Also bitte nur mit dem Telefon daneben, damit du mich sofort anrufen kannst."

"Klingt nicht gut. Aber vernünftig. Ich überlegs mir noch mal."

"Besser so. Dann nutz die Zeit und hab nachher einen schönen Abend mit Namjoon, Süße. Tschüssi!"

"Dank dir. Gute Nacht!"

Unschlüssig drehe ich den blöden Briefumschlag in meinen Händen.
Eine tickende Zeitbombe. Groß und dick. Etwa in der ersten Klasse einsortiert. Obwohl ... hei, was soll schon passieren. Ich versuchs.
Ich drehe den Umschlag um, fühle einen ganzen Stapel Zeichenpapiere darin und ziehe.
Aha. Das sind also auch gemalte Bilder.
Als erstes kommt eine Art Deckblatt zum Vorschein, wieder mit diesem Namen drauf, der mich inzwischen ganz kribbelig macht. Jetzt will ich es wissen. Ich ziehe das Deckblatt vom Stapel. Zum Vorschein kommt eine Frau.
Natürlich eine Frau. Ist ja ein Frauenname.

Ich habe das Bild noch gar nicht ganz draußen, da fängt schon mein Hirn an zu rasen. Meine Hände zittern. Ich starre auf die halbe Zeichnung.

Jung. Schön. Elegant. Bürostyle. Sie wirkt ... kompetent und effizient. Und Harry hat sie genau so gemalt wie all die Bilder von mir.
Ich halte die Luft an und schubse den Bilderstapel sofort zurück in den Umschlag. Das Deckblatt hinterher und zu! Ich habe keine Ahnung, woher oder warum - aber ich weiß schlagartig, dass ich diese Person kenne. Und dass sie sich verdammt falsch anfühlt. Dass ich ihr nie wieder begegnen will. Und dass ich diesen Umschlag definitiv nicht alleine und nicht mehr vor all den Festen durchsehen will.

Ich schnappe nach Luft und lasse alles fallen wie glühende Kohlen.
Was soll schon passieren. Alles klar. ALLES kann passieren. Da lass ich schön die Finger von!
Schnell schiebe ich den Umschlag zurück an seinen Platz in der Mappe und überlege, ob ich das jetzt lieber ganz lassen sollte.
So-Ra!
Ich greife sofort wieder zum Handy und wähle ihre Nummer.

"Soll ich kommen?!?"
"Ne, danke, schon gut. Ich ... muss das nur eben laut aussprechen. Also ... Ich hab nur die Hälfte vom ersten Bild gesehen. Das ist ... ich weiß gar nicht, was mich mehr schreckt. Das ist eine junge, gestylte, gut aussehende, zielstrebige Frau. Sieht büromäßig angezogen aus. Ich kann das Gesicht nicht erkennen, aber - ich WEIß, dass ich sie kenne. Dass ich sie nicht mag. Und dass sie mir Angst macht."
"Packs sofort weg!"
"Hab schon. Intuitiv wirklich sofort. Der Umschlag ist wieder zu."

"Was schreckt dich noch?"
"Ich weiß nicht, ob das albern ist. Aber ... das Bild ist in dem selben warmen, reduzierten Stil gemalt wie all die anderen. Und das fühlt sich ... wie Verrat an? So, als ob dieser Stil MIR gehört und sie da eindringt und mir das wegnimmt."

"Sicher, dass ich nicht kommen soll? Das ist nämlich nicht albern. Wir sollten zusammen wenigstens kurz darüber nachdenken."

"Du bist so ein Schatz! Ja, ich bin sicher. Da bahnt sich kein Flashback an. Ich bin klar, ich habe gut für mich selbst gesorgt. Ich werde das erst im neuen Jahr angehen. Kannst ... Kannst du deiner Mutter davon erzählen? Vielleicht ..."

"Du hast recht! Wenn es da mal eine Oh-Ryu gab, dann weiß sie im Zweifelsfalle am meisten darüber. Mach ich, Süße. Du solltest das nicht wieder so lange rausschieben wie den Sandkasten, aber im Moment ist was anderes dran. Ich rede mit Mama."
"Danke!"
"Gehts wieder? Du klangst eben am Anfang etwas zittrig."
"Ja, geht. Ich suche mir jetzt ein schönes Bild zum Ausgleich. Nochmal gute Nacht!"

Ganz bewusst atme ich durch, lehne mich zurück, trinke eine Tasse Tee und entspanne mich. Ein bisschen bin ich stolz auf mich, dass ich inzwischen so gut in der Lage bin, meine eigenen Gefühle und Reaktionen zu deuten und richtig zu reagieren. Also lasse ich diese bedrohlich wirkende Lady außen vor, bis jemand neben mir sitzt.

Ich greife mir stattdessen das Inhaltsverzeichnis und fahre mit dem Finger über die Daten.
Hier! Das heißt 'Kekse backen'. Das klingt harmlos. Da bin ich ... Dezember ... Da bin ich vier. Auf gehts.
Ich blättere durch den Stapel und finde bald das Blatt mit dem richtigen Datum.
Hoffentlich ... Sehr gut! Wie niedlich. Da bin ich ja mit Feuereifer dabei.

Wie immer sprechen mich die Wärme der Farben und die Reduktion auf das Wesentliche unmittelbar an und nehmen mich mit hinein in den Moment. Ich sehe Harry und mich beim Keksebacken. Wir haben die Küche in ein Schlachtfeld verwandelt und unglaublich viel Spaß dabei. Ich könnte sofort ins Bild hüpfen und mitmachen, so schön sieht das aus. Mit einem Lächeln erinnere ich mich an meine Backorgie vor drei Tagen, freue mich über die Schachteln voll mit Kekstüten und auf die Gesichter unserer Gäste, wenn sie diese Kekse bekommen.
Mal sehen, was Harry dazu geschrieben hat.

Liebe Jutta!
Heute vor einem Jahr seid Ihr verunglückt. Ich habe das Cornelia nicht gesagt und war heute auch nicht am Grab.

Ich erschrecke.
Von wegen harmlos! Aber das Bild ist so schön. ... Ich les das jetzt trotzdem.

Du wirst es mir verzeihen. In den nächsten Tagen will ich es wagen und zum ersten Mal mit ihr dort hingehen. Ich hole innerlich noch Anlauf.

Intuitiv greife ich nach dem Inhaltsverzeichnis. Und tatsächlich gibt es wenige Tage nach dem Keksebacken einen Eintrag 'Friedhof'.
Nichts weiter. Keine Namen ... Aber wenn es ein Bild gibt, dann wird er ja vielleicht was dazu geschrieben haben.
Ich lese tapfer weiter, jetzt gar nicht mehr so sicher, ob das gut ist.

Ein Jahr. Ein schweres Jahr, aber auch ein bereicherndes Jahr, aus dem ich stärker hervorgegangen bin. Deine wunderbare Cornelia war und ist der Schlüssel dazu. Was habe ich mich überfordert gefühlt. Wie groß war meine Angst, ihr nicht gerecht werden zu können!

Inzwischen ist sie vollkommen hier angekommen, hat ihren Gleichmut, ihre Neugierde und ihre Lebensfreude zurückgewonnen. Sie kommt gut mit den Wechseln zwischen Villa und Familie Woo klar, füttert die Mäuse und Eichhörnchen im Park, überwintert grade einen Igel in der Werkstatt der Pförtnerei und macht es mir leicht, ohne es zu wissen. Wie viel es mir bedeutet, ihr beim Wachsen zusehen zu dürfen! Ich habe das Gefühl, Du bist noch ein bisschen bei mir, immerhin habe ich auch Dich bewusst aufwachsen sehen. Aber mach Dir keine Sorgen. Gleichzeitig kann ich gut zwischen Cornelia und Dir trennen.

Gestern Morgen habe ich ihr eine Weile beim Schlafen zugesehen, bevor ich sie für den Kindergarten geweckt habe. Ich habe mit mir gerungen, wie ich diesen Tag heute gestalten soll. Ich habe beschlossen, dass wir gemeinsam Kekse backen.

Und genau das haben wir heute getan. Wir haben Teig geknetet, Mehlstaubwolken in der ganzen Küche verteilt, Plätzchen ausgestochen, gebacken und bunt verziert. Ihr Enthusiasmus, ihre Konzentration und Ernsthaftigkeit bei dieser wichtigen Aufgabe, ihre Phantasie und verrückten Ideen haben mich erfolgreich abgelenkt.

So war es auch für mich ein guter Tag. Cornelia hat mich beschäftigt, aufgeheitert und die Stunden mit Lachen gefüllt. Wir haben gebacken, gespielt, am Adventskranz gesessen, gesungen und unsere Kekse gegessen. So richtig feierlich. Cornelia ist ein wundervolles Mädchen, und ich bin sehr froh, sie bei mir zu haben. Sie ist mein Engel.

Ich lasse das Blatt sinken und fühle in mich hinein. Ein paar Tränen laufen, aber ich schwebe gradezu vor Glück. Was ich in der letzten Zeit immer deutlicher gespürt und zwischen den Zeilen gelesen habe, steht bei diesem Bild ausdrücklich da.
Er war froh, dass ich bei ihm war. Wir haben viel Freude miteinander gehabt, haben uns gegenseitig gut getan. Wir haben uns geliebt. ER hat MICH so geliebt wie ich ihn. 

Über den letzten Satz mit dem Engel muss ich lange nachdenken. Ich habe ja grade erst das Bild mit dem Familienschutzengel gesehen. In das er sich nicht hineingemalt hatte. Das er gemalt hat, als ich etwa zwölf Jahre alt war.
Und hier, Jahre vorher schreibt er, dass ICH SEIN Engel bin. ... Naja - vielleicht hat das eine mit dem anderen gar nichts zu tun. Aber es zeigt mir, wie eng wir verbunden waren, wie tief seine Liebe zu mir ging, wie sehr wir uns gegenseitig gut getan haben.

Ich fühle nichts als Freude, Frieden und Geborgenheit in diesem Moment. Ich greife wieder nach dem fröhlichen Bild und kann sehen, dass Harry genau so gefühlt hat, wie es in den Zeilen an meine Mutter ... an Mama geschrieben steht.

Das ist seltsam. Habe ich meine Eltern noch nie Mama und Papa oder appa genannt? Oder seit dem Unfall nicht mehr? Oder gab es einen anderen Auslöser, dass ich irgendwann aufgehört habe? Ich kann nicht glauben, dass ich sie zu ihren Lebzeiten NICHT so genannt habe. Alles, was ich erinnere, ist 'meine Mutter', 'mein Vater', 'meine Eltern' und 'Onkel Harry'. Jetzt 'Harry'. Vielleicht wird es Zeit, dass ich meine Eltern wieder als 'Mama' und 'appa' denke.

Eigentlich ... das wäre schön!
Lächelnd lege ich das Keksbackbild beiseite, stehe auf und greife mir aus dem Regal mein frühestes Kinderfotoalbum. Ich schlage wahllos im vorderen Teil eine Seite auf.
Perfekt. Der Strandurlaub.

Lange, lange sehe ich mir das Familienfoto an. Das hatte mich schon im Frühjahr ganz besonders berührt. Wir sind eine glückliche Familie im Urlaub. Und klein Cornelia spürt wahrscheinlich zum ersten Mal nassen Sand unter ihren Füßen.

Mein Herz klopft. Und mein Kopf tut, was er seit Ewigkeiten nicht getan hat.
Mama? appa? Wo auch immer ihr jetzt seid - könnt ihr mich hören? Und sehen? Ich war noch so klein, als ihr gegangen seid. Aber ihr seid immer noch meine Mama und mein appa. Ich möchte euch wieder näher an meinem Herzen haben. Ich liebe euch!

Es fühlt sich gut und richtig an, in Gedanken mit meinen Eltern zu reden.
... mit Mama und appa zu reden. Wir schade, dass ich Harry nichts mehr dazu fragen kann. Aber mit Rae-Jin kann ich noch reden. So-Ras Eltern können mir bestimmt ganz viel erzählen über meine Mama und meinen appa. Das wird schön. 

Ein Geräusch aus dem Flur lässt mich aufhorchen. Namjoon ist nach Hause gekommen. Gefühlssatt und zufrieden schließe ich die Mappe und lege sie zurück auf meinen Schreibtisch.

........................
28.8.2024    -    28.3.2024

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