6 🔯 Rendezvous mit der Sonne

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Ich hätte mir am liebsten die Zunge abgebissen. Hätte ich nicht einfach die Klappe halten können?

»Re hat mich kontaktiert, dass es bald los geht«, gab ich zögernd zu. »Wenn das so ist...«, murmelte Nathan und tippte etwas auf seinem Lesegerät ein, das daraufhin die Rechnung ausspuckte. Er zückte einen Kugelschreiber und kritzelte ein paar Worte auf die Rückseite des Papiers, bevor er es mir mit den Pizzen in die Hand drückte. Nachdem ich bezahlt hatte, verschwand er die Treppe hinab.

War es das gewesen? Diesmal keine ewige Fragerei oder ähnliches? Neugierig stellte ich die Pizzen auf die Seite und schnappte mir den Zettel. Bring das Tagebuch deiner Mutter mit. Dieser Penner! Mit Sicherheit hatte er das nur dahin geschrieben, damit ich ihn nicht mit Fragen löchern konnte, wieso. Aber genau diese Frage fraß sich nun in jede meiner Körperzellen, bis mein ganzer Körper nach einer Antwort schrie.

Was wollte der Totengott - oder vielleicht sogar Re - mit dem Tagebuch meiner verstorbenen Mutter? Das konnte kein Zufall sein. Hatte meine Mom etwas mit den Göttern zu tun gehabt? War sie deswegen gestorben? Mich selbst auslachend schlug ich mir gegen die Stirn. So ein Quatsch. Sie war an einem Autounfall gestorben, Götter hatten damit gar nichts zu tun.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf den nächsten Samstag zu warten und Re selbst zu fragen, was Thanatos oder er sich von dem Tagebuch erhofften. Die Lust auf weitere sinnlose Brettspiele war mir nun wirklich komplett vergangen, aber ich würde mich Dad zuliebe zusammenreißen. Zumindest noch ein bisschen.

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Gerade wenn man denkt, dass es nicht mehr lange bis zu einem bestimmten Ereignis ist, zieht sich die Zeit bis dahin in die Länge wie Kaugummi. Zumindest ging es mir so. Es wurde Dienstag, es wurde Mittwoch, aber die Tage vergingen im Schneckentempo. Der Gedanke, zwei weitere Tage warten zu müssen, ließen mich innerlich genervt aufstöhnen. Obwohl ich es kaum erwarten konnte, endlich abzuhauen, keimten immer wieder Gewissensbisse in mir auf.

Eigentlich hatte ich es gar nicht so schlecht hier. Selbst Debbie kam mir auf einmal nur halb so nervig vor, jetzt, wo es ein baldiges Entkommen geben würde. Den Mittwoch verbrachte ich damit, mir das Nötigste für meine Flucht zusammenzupacken. Da eine größere Tasche nicht nur auffällig, sondern auch zu unhandlich wäre, entschied ich mich für einen Rucksack, in den ich ziemlich wahllos Klamotten stopfte.

Kurz bevor er randvoll gefüllt war, holte ich Moms Notizbuch hervor. Vielleicht konnte ich herausfinden, warum die Götter Interesse daran hatten, wenn ich es las. Allerdings war da immer noch die Tatsache, dass ich meine Vorstellung der perfekten Mutter nicht zerstören wollte. Hin- und hergerissen starrte ich den graugrünen Einband an. Bevor ich eine Entscheidung fällen konnte, klopfte es an der Tür.

Wieder schob ich das Buch unter mein Kissen, bevor der ungebetene Störenfried eintrat. Es handelte sich um niemand Geringeren als meine geliebte Stiefschwester Deborah. Ihr Blick fiel natürlich sofort auf meinen Rucksack. »Was wird das denn?« » Ich übernachte demnächst bei 'ner Freundin«, antwortete ich mit genervtem Unterton und sah sie abwartend an. Es gab schließlich einen Grund, weshalb sie mich in meiner Privatsphäre störte.

Beschämt blickte Debbie zu Boden und nestelte an etwas herum, das sie in ihren Händen versteckt hielt. »Da wir beide doch schon etwas länger Schwestern sind...« »Stiefschwestern«, korrigierte ich geflissentlich, was sie nicht zu stören schien. Sie fuhr fort. »Da dachte ich mir, naja...hier!« Misstrauisch schaute ich in ihre ausgestreckte Handfläche, auf der sie mir eine dünne Silberkette hinhielt. Mit spitzen Fingern nahm ich das Teil entgegen.

»Ein Schwesternarmband!«, verkündete Debbie glücklich. Stimmte ja, sie hatte so ein Ding auch ständig an. An ihrem waren allerdings zwei Anhänger, bei meinem baumelte nur ein einsamer schlichter Kreis mit einem eingravierten ausländisch aussehenden Zeichen. »Jetzt sind wir verbunden!«, lachte die Dämonin übermütig und verließ mein Zimmer, bevor ich ihr das Armband wieder zurückgeben konnte.

Als ob ich so etwas tragen würde! Mit einem verächtlichen Schnauben versenkte ich die Kette in meinem Nachttisch. Meine Aufmerksamkeit widmete sich wieder dem Notizbuch. Sollte ich es lesen? Andererseits konnte ich auch einfach auf Samstag warten und direkt fragen. Ja, so würde ich es machen. Danach konnte ich es immer noch lesen, wenn ich denn wollte.

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Fast hätte ich einen Freudenschrei ertönen lassen, als mein Wecker am Samstagmorgen klingelte. Die Nacht davor war ich fast komplett wachgelegen, aber meine Müdigkeit war dennoch wie weggeblasen. Das letzte Frühstück mit Dad, Margarete und Debbie verging wie im Flug und dann war es soweit. Mit flatterndem Herzen schulterte ich den Rucksack, sah mich ein letztes Mal in meinem Zimmer um und verließ dann eilig die Wohnung.

So gut es ging, hatte ich mich normal gegenüber Dad verhalten. Es hätte ihn nur misstrauisch gemacht, wenn ich mich auch nur ansatzweise verabschiedet hätte. Das Schwesternarmband lag wie angegossen um mein Handgelenk. Keine Ahnung, wieso ich es nun doch mitgenommen hatte. Vielleicht, um Debbie in Gedanken zu verspotten.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, wenigstens Mrs Peggy Auf Wiedersehen zu sagen, doch sie würde vielleicht Dad oder den anderen etwas davon verraten und das wollte ich auf keinen Fall riskieren. Auf dem Weg zur Bank drängten sich immer wieder die Bilder des Überfalls in meinen Kopf. Das beklemmende Gefühl wollte und wollte nicht weichen.

Schließlich stand ich vor der großen verglasten Front und atmete tief durch. Der Fall mit der Toten, die verschwunden und wieder zum Leben erwacht war, kümmerte niemanden. Möglicherweise hatte der Totengott dieses Ereignis komplett verschwinden lassen, ich hatte keine Ahnung, wie das mit dem wieder zum Leben auferwecken funktionierte. Jedenfalls hatte mich niemand gefragt, wieso ich denn noch lebte.

Ein letzter Atemzug, dann setzte ich meine Füße in das Gebäude, das vor gar nicht langer Zeit eventuell mein letzter Aufenthaltsort geworden wäre. Drinnen suchte ich systematisch, so gut es ging, die Gesichter ab und hoffte Re wiederzuerkennen. Er war nirgends aufzufinden. Hatte ich die Nachricht falsch verstanden? War nicht der Mittag, wenn die Sonne im Zenit stand, gemeint gewesen?

Dabei hätte ich schwören können, dass Re das gemeint hatte. Ratlos hockte ich mich auf eine der kalten Heizungen im Eingangsbereich und starrte auf den Eingang. Es konnte ja einfach sein, dass der Sonnengott sich verspätet hatte. Lange musste ich nicht warten, bis ich ein bekanntes Gesicht erblickte, nur war es nicht der, den ich erwartete. »Na, schon lange hier?«, fragte Nathan mit einem spöttischen Lächeln im Gesicht.

»Wartest du auch auf Re?«, entgegnete ich, ohne auf seine Frage einzugehen. Mit einer fließenden Bewegung setzte er sich neben mich auf die Heizung und fing an, mit einem Fuß zu wippen. »Nope.« Normalerweise hätte mich das Herumgezappel aufgeregt, aber heute hatte ich andere Dinge im Kopf. »Was tust du dann hier? Musst du nicht Pizzen ausliefern oder so?« Es ging einfach nicht, ich konnte mir diese Bemerkung nicht verkneifen.

Ein herausforderndes Lachen war seine Antwort. »Statt dämliche Bemerkungen auszuspucken solltest du lieber nett zu mir sein, immerhin soll ich dich hier abholen.« Überrascht drehte ich mich zu ihm. »Ich dachte, ich treffe mich hier mit Re?« Nathan legte den Kopf in den Nacken und betrachtete gelangweilt etwas an der Decke. »Schmeiß dein Hirn doch mal an. Wie soll er denn in einem Gebäude wie diesem sein, wenn er polizeilich gesucht wird?

Er ist zwar ein Gott, aber im Moment bringt ihm das recht wenig.« Natürlich hatte ich daran gedacht. Ich hatte nur nicht erwartet, Nathan stattdessen zu treffen, das war alles. Trotzdem nickte ich schweigend. Heute würde ich mich nicht auf seine Sticheleien eingehen. »Hast du das Buch dabei?« Die Frage traf mich aus dem Nichts. Beschützend tastete ich nach dem Rucksack. »Ja, aber wieso...«

»Das erklären wir dir später«, unterbrach Nathan mich direkt. Angesäuert schloss ich den Mund und stand auf. »Gut, dann bring mich jetzt zu Re, damit ich mit ihm reden kann.« Auch Nathan stand jetzt auf und steuerte, ohne sich weiter nach mir umzusehen, auf den Ausgang zu. Widerstrebend folgte ich ihm eine Weile. Er führte mich durch die verwinkeltsten Gassen, bis ich keine Ahnung mehr hatte, in welche Richtung wir gingen.

Diesen Teil der Stadt hatte ich noch nie gesehen. Nachts würde ich hier aber eher nicht herumlaufen. An einem heruntergekommenen Reihenhaus hielten wir schließlich an. Die Fassade bestand aus einem undefinierbaren Farbton, an vielen Stellen durch Graffiti übersprüht. Auch die wenig einladende Haustür hatte ihre beste Zeit schon lange hinter sich.

Nathan schritt zügig die Stufen hinauf und drückte auf die unbeschriftete Klingel. Hier wohnte also der Sonnengott? Das passte irgendwie gar nicht zu seiner Art. Ein Mann um die vierzig öffnete die Tür und sah uns skeptisch an. »Du schon wieder«, blaffte er Nathan an, der auch nicht gerade erfreut wirkte. Trotz der fehlenden Wiedersehensfreude ließ der Mann uns anstandslos herein.

Ohne zu zögern stieg Nathan die Treppe in den Keller hinab. Mit einem mulmigen Gefühl folgte ich ihm weiter, bis wir in einem dunklen, engen Flur verharrten. Zwei Türen führten in weitere Räume, eine der beiden öffnete er jetzt. Dahinter kam ein dämmrig beleuchtetes Zimmerchen zum Vorschein, in dem sich ein schmales Bett und ein staubiges Sofa befanden.

Es roch muffig und am liebsten wäre ich geradewegs wieder nach oben gegangen, doch von dem Bett erhob sich jetzt jemand, und diesmal war er wirklich der Sonnengott. Sein Blick streifte erst Nathan, bevor er mich erkannte. »Du bist gekommen«, stellte Re lächelnd fest und stand dann auf. Mit einer ausholenden Bewegung und leuchtenden Augen verkündete er lautstark: »Die Suche kann hiermit beginnen, Untertanen der Sonne!«

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