045 ** Wasser Marsch! ** Di. 24.9.2019

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Heute muss ich die erste Triggerwarnung ausgeben.
Es wird selbstverletzendes Verhalten zur Sprache kommen.
Pass gut auf Dich auf!

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Ich schüttele mich ein paarmal, schleiche ins Gemeinschaftsbad und schmeiße mir eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht.
Was war das denn???
Waren das unruhige Gedanken im Wachsein, oder habe ich das diesmal alles geträumt? Ich habe keine Ahnung und schlappe deshalb träge zurück ins Zimmer. Ich ziehe mir Badeshorts, ein T-Shirt und Convers an. Dann schleiche ich hinter den anderen her nach draußen.

Das Wassertrainingsgelände hier sieht beeindruckend aus. Wir setzen uns neben eine ruhige Furt durch einen breiten, künstlichen Bach. Es gibt aber auch eine Stelle, die aussieht, als sollten wir da eine Brücke improvisieren. Es gibt einen Wasserfall mit kleinem Teich unten, einen Steinhang und eine ziemlich steile geschwungene Rampe, auf der sich ein Rinnsal Wasser seinen Weg zwischen gepolsterten Hindernissen sucht.

Als erstes schickt Frau Tucher alle zurück ins Haus, die barfuß gekommen sind. „Mindestens Socken, besser leichte, weiche Schuhe" ist die Devise. Dann sitzen wir alle mit Badeklamotten, Shirts und irgendeiner Fußbekleidung im Kreis und schauen Frau Tucher erwartungsvoll an.
„Prima, so könnt ihr alle mitmachen. Ihr werdet nachher schnell merken, warum das so wichtig ist.
Ich möchte jetzt mit euch über jede mögliche Form von Wasser in der Natur reden. Jede Form. Denn je nachdem, wo man strandet, kann einem wirklich alles begegnen. Versucht doch mal, möglichst viele Arten von Wasser in der Natur aufzuzählen. Am besten sagt ihr im Kreis jede und jeder ein Stichwort."

Während manche noch überlegen, was da alles gemeint sein könnte, fängt Antoine neben uns sofort an.
„Normal dahinfließende Bäche kommen in kleinen Tälern in hügeliger Landschaft vor."
Er drückt Moritz neben sich seine Wasserflasche in die Hand. Der stutzt erst. Dann grinst er und macht ein Daumenhoch.
„In ganz flacher Landschaft haben Bäche manchmal die Eigenschaft, sich in den weichen Boden zu fressen. Dann können eines oder beide Ufer sehr steil sein."

Ich schnappe mir die Flasche.
„Wenn so ein Bach auf ein Hindernis wie Felsen oder einen Biberdamm stößt, breitet er sich aus und setzt unter Umständen eine große Fläche Land unter Wasser. Das ist dann zwar nur flach, aber zugewuchert, undurchschaubar, voller Unbekannter Viecher und potentiell gefährlich. Und man muss erstmal rausfinden, wie man dran vorbeikommt."

Die Flasche wandert zu Paul.
„Wenn der Untergrund entsprechend wasserundurchlässig ist, kann sich im Laufe der Jahrhunderte an so einer Stelle ein Moor entwickelt haben. Dann ist der Boden trügerisch, hält unter Umständen unser Gewicht nicht. Und auch hier ist schlecht erkennbar, wo das anfängt und aufhört."
Alex schnappt sich die Flasche und schüttelt den Kopf.
„So schwer ist das gar nicht. Denn alle Pflanzen auf der Welt wachsen nur auf bestimmtem Boden, bei bestimmten klimatischen Verhältnissen und bei optimaler Feuchtigkeit. Das heißt: ein Botaniker ist durchaus in der Lage zu sagen: 'Das Moor fängt hier an, weil ..., die alte Eiche dort drüben ist ziemlich kaputt, die Wurzeln stehen also noch im Wasser, wo sie ersticken. Aber da hinten bei den ..., da ist der Boden wieder fest."
Anerkennende Blicke, als die Flasche weiterwandert.

„Ich glaube, nach Moor kommt erstmal nix, also mache ich woanders weiter. Wenn viele Bäche sich vereinigt haben, wird daraus ein stetig anwachsender Fluss in seinem Bett. Wenn er durch offene Landschaft fließt, fließt er in der Regel sanft dahin oder zeigt leichte Schwünge."
Annika ergänzt Lores Aussage.
„Wenn der Fluss sich über lange Zeit einen Weg durch steiniges oder sogar gebirgiges Gelände fressen musste, dann ist er in der Regel ziemlich schmal, dafür sehr tief und mäandert wahrscheinlich stark. Es wechseln sich also immer flache und steile Ufer ab, Felsen liegen unter der Wasseroberfläche und in den Außenkurven werden weiche Ufer unterspült. Da kann man abstürzen, bevor man die Gefahr erahnen konnte. Wenn dieser Prozess lange anhält, dann kommt dabei sowas raus wie der Verlauf der Mosel. Und so eine Schlaufe kann an der dünnsten Stelle auch durchbrechen. Dann arbeitet sich der Fluss sofort durch die neue Lücke, und aus der großen Schleife wird ein Altarm."

Can übernimmt.
„Da ich mich mit den Pflanzen nicht auskenne, würde ich da wahrscheinlich in manche Falle tappen. Ich könnte nicht anhand der Vegetation sagen, wo der Fluss herkommt, wo er hinfließt oder ob ich vielleicht so einen Altarm vor mir habe, den ich besser umgehen als überqueren sollte. Ich möchte was ganz anderes nennen. In der Wüste gibt es eigentlich kein Wasser. Aber uneigentlich kann jederzeit irgendwo ein Gewitterguss runterkommen, das Wasser sammelt sich in den Wadis und schwillt in diesen engen Betten an zu wilden, reißenden Flüssen. Nur ein erfahrener Wüstenbewohner kann an Geräuschen, Bodenbewegungen und vielleicht an der Luft erkennen, dass alle JETZT ganz schnell aus dem Wadi raussollten, damit sie nicht ersaufen. Tatsächlich ertrinken in der Wüste ziemlich viele Menschen und Tiere."

Immer weiter geht die Runde. Kalt und heiß, klein und groß, fest und flüssig wechseln sich munter ab, und die ganze Zeit kreist Antoines Wasserflasche symbolisch herum. Auch Regen, Schnee, Hagel und Co. werden zum Thema. Schließlich ist die Flasche mal wieder bei Antoine. Er schnappt sich einen Stock, fängt an zu reden und malt dabei eine Skizze in den Sand.
„Eine Sache habe ich noch. Da musste ich vorhin bei den Wüstenwadis dran denken. In den Bergen gibt es nämlich noch eine Sorte Wasser, die man nicht sieht, die aber trotzdem zur Falle werden kann. In meiner Heimat gibt es in der Nähe eine Quelle an einem Berg. Die Fontaine de Vaucluse. Sie entspringt unterhalb einer 300 Meter hohen Felswand. Der Weg dorthin führt entlang des Geröllbeckens, das sich das Wasser im Laufe der Zeit gebaut hat.
Aber das ist kein lustig dahin plätscherndes Rinnsal. Das ist ein riesiges Loch von zwanzig Meter Durchmesser im Boden, am Fuße der Wand.
Wenn man nun am Ende des Sommers am Bach aufwärts entlangläuft, hört man ziemlich bald das Wasser nicht mehr plätschern, das Bachbett ist ganz plötzlich leer. Nur an einem Punkt an den Seiten kommen Rinnsale von Wasser zwischen den Felsen hervor. Es ist, als sei die Quelle am Berg nach unten verrutscht. Ist man oben angekommen, schaut man in einen tiefen Schlund, weil mangels Regen die eigentliche Quelle ganz weit abgesunken ist und unten ihre stille Wasseroberfläche zeigt.
Das Geheimnis ist: JEDE Landschaft hat Grundwasser. Auch ein Gebirge. Und je nachdem, wie lange es nicht mehr geregnet hat, steht das Wasser IM Berg mal höher, mal tiefer. Geht man am Tag nach einem Gewitter zu dieser Quelle, dann rauscht das Wasser kräftig zwischen den Felsen von ganz oben her. Und der Schlund ist komplett gefüllt mit Wasser, das jetzt über den Rand und runter ins Tal fließt. Das Grundwasser im Berg ist gestiegen. Und DIESES Wasser IM Berg kann sehr gefährlich sein. Denn das Unwetter, der Regen kann IRGENDWO runterkommen. Und plötzlich schießt um uns Wasser aus dem Boden und sucht sich seinen Weg, ohne dass wir irgendwelche Hinweise darauf bekommen hätten."

Beeindruckte Stille. Soviel hat Antoine in den ganzen sieben Wochen seit den Sommerferien noch nie an einem TAG geredet. Geschweige denn an einem Stück.
„Cool!"
Koljas Stimme klingt echt begeistert.
„Was hast du gesagt, wo muss man hinreisen, wenn man sowas sehen will?"
Antoine schafft es nicht, seine Freude darüber zu verbergen.
„Im Mai in der Provence östlich von Avignon an der Fontaine de Vaucluse."
„Fahrn wir da nächsten Sommer zusammen hin? So als Abschiedsfahrt???"
Sein Blick geht in die Runde.
„Ich werde zum Lernen über Ostern nach Hause fahren. Aber da kann ich euch leider nicht mitnehmen."
Ähhh – war das grade eine symbolische Einladung? Von Eisklotz Antoine???

Endlich mischt sich Frau Tucher wieder ein.
„Das war eine beeindruckende Menge von Fachwissen. Ihr seid auf ganz wichtige Aspekte eingegangen, die jenseits von 'wie kommen wir über diesen Fluss?' liegen. Ich halte mal ein paar fest: es gibt Vegetation, die uns sagt, was für Boden und was für Wasserverhältnisse wir haben. Wasser kann auch gefährlich sein, wenn ich es nicht sehe. Wasser verändert die Landschaft und damit die Orientierungspunkte. Nässe, insbesondere kalte Nässe verringert die Überlebenschancen.

Wir werden hier im Gelände mehreren dieser Wasserformen begegnen. Und diese Herausforderungen wollen wir jetzt üben. Seht ihr hier diesen harmlosen Bach? Ich zeige euch jetzt, was Antoine und Can grade gemeint haben. Stellt euch mal nacheinander in Dreiergruppen ins Bachbett."
Wir Tänzer flitzen sofort los.
„Gut. Harmlos, oder?"
Wir nicken und grinsen. Sie gibt Frau Süß, die etwas weiter zu einem wetterfesten Kasten gegangen ist, ein Signal.
Holla, die Wasserfee!
Das Grinsen verschwindet echt schnell. Wir merken sofort an unseren Füßen, dass die Strömung schnell zunimmt. Der Wasserpegel steigt uns bis an die Waden, der Bach gewinnt an Tempo, und wir können uns noch so wehren gegen den Druck, irgendwann fallen wir alle drei einfach rückwärts um. Als ich wieder etwas sehen und aufstehen kann, weil die Strömung wieder ausgeschaltet wurde, stelle ich fest, dass der Bach eigentlich ganz ruhig aussieht, aber doch eine unglaubliche Kraft hat.

„So, sagt erstmal nichts dazu, die nächste Gruppe bitte."
Milly und Annika greifen sich Bernd, der in ihrer Nähe steht, und fassen ihn fest an den Händen.
„Das wär ja wohl gelacht!"
Von außen zu sehen, wie das Wasser steigt und die Wucht zunimmt, ist spannend. Man sieht dem Bach echt nicht an, welche Kräfte da grade wirken. Die Mädels lehnen sich weit vor und halten Bernd mit fest. Aber den reißt es dann doch um, und schon sind die Mädels auch weg. Als nächstes steigen Lore, Kolja und Can in den Bach. Sie haben gut zugeschaut, aber auch sie können sich nicht mehr halten, sobald das Wasser kniehoch fließt, und fallen mit Koljas herzhaftem „Scheiße!" in die Fluten.

„Und die letzten. Antoine, du weißt wahrscheinlich als einziger, was auf dich zukommt. Wirst du es schaffen, stehen zu bleiben?"
Er schaut verschlossen, misstrauisch und schüttelt dann den Kopf.
„Ich werds versuchen. Aber ich kenne den Untergrund nicht. Das wird schwierig."
Swantje, Antoine und Alex steigen ins Bachbett. Antoine dirigiert sie ein paar Meter weiter hinter einen Felsen, steht an der einen Seite und stellt Swantje gezielt an die andere.
„Wenn Swantje fällt, interessiert dich nur noch eins, Can. Lass auf keinen Fall unsere Hände los. Es sei denn, Swantje oder ich möchten losgelassen werden."
„Warum bist du so sicher, dass ich als erstes falle?"
„Deine Schuhe. Du findest keinen Halt im Untergrund. Und du kannst nicht in die Mitte, denn du wirst nicht uns beide halten können. Alex ist einfach sehr stark."

Wasser Marsch. Frau Süß legt einen Zahn zu, das Wasser steigt schnell. Aber die Drei bohren sich schräg mit ihren Füßen ins Geröll. Als erstes erwischt es tatsächlich Swantje. Man sieht trotz des trüben Wassers richtig, wie ihr die Füsse weggerissen werden. Schneller, als ich kucken kann, umgreift Can ihr Handgelenk. Er selbst steht direkt hinter dem Felsen, wo die Strömung viel schwächer und das Wasser etwas niedriger ist, und tariert sich neu aus. Und an seiner anderen Seite liegt Antoine fast auf dem Wasser, ruhig und sicher.

Frau Tucher ruft:"Wellen."
Frau Süß drückt in dem Kasten irgendeinen Knopf. Antoine beißt die Zähne zusammen, lehnt sich noch weiter vor, auch seine Hand zu Can ist jetzt am Handgelenk gefasst. Konzentriert sind seine Augen auf die Wellen gerichtet. Und als ob er in seinem Boot säße, richtet er jetzt seinen ganzen Körper hin und her nach den Wellen aus. Und steht.

Die Süße gönnt ihm den Triumph und schaltet Wellen und Wasser rechtzeitig wieder aus. Swantje hatte sich auf den Rücken gedreht, damit sie trotz Wellen atmen konnte. Alex und Antoine stützen sich erschöpft auf ihren Knien ab und schnaufen ziemlich. Wir anderen applaudieren und ziehen dann zwei aus dem Bachbett, während Antoine alleine rausklettert. Swantje lässt sich einfach ins Gras fallen.
„Uffz. Ohne die Jungs hätte ich das nie geschafft. Aber ich habe mich selbst nach dem Umfallen total sicher gefühlt, weil ich irgendwie gespürt habe, dass alle beide wissen, was sie tun. Danke!"

Die einzigen, die jetzt noch trocken sind, sind unsere Lehrer. Das schmeckt mir ja gar nicht.
Das müssen wir so schnell wie möglich ändern.
Kurz mal eben stille Post, während wir gemeinsam zur nächsten Station gehen, und schon leuchten alle Augen auf. Nur Antoine schaut gradezu entsetzt.
Das scheint dann wohl in Frankreich nicht üblich zu sein. Hihi ...

Frau Tucher wendet sich direkt Antoine zu.
„Du hast mich eben wirklich beeindruckt. Du hättest auch einfach nur für dich sorgen können. Stattdessen hast du die ganze Gruppe im Blick gehabt, obwohl das für dich so viel anstrengender wurde. Warum bist du nicht selbst in die Mitte gegangen?"
Antoine wird ein bisschen verlegen.
„Links ist die Strömung am stärksten gewesen. Ich wusste nicht, ob Alex weiß, was da zu tun ist. In der Mitte war einfach Kraft gefordert. Das schien mir so am sinnvollsten. Denn wenn beide abgeschmiert wären, hätte ich sie trotz Felsen nicht mehr halten können."
Allgemeines, anerkennendes Gemurmel.

„Ich habe eine Bitte an dich, Antoine. Könntest du uns allen hier an der Wildwasserkurve zeigen, was wir tun müssen, um da heile und trocken rüberzukommen?"
Wir müssen erstmal alle furchtbar lachen, denn wir sind ja fast alle total nass.
Demnächst alle ...
Antoine wendet sich dem großen, etwa fünfzehn Meter langen Modell zu und lässt sich die Technik erklären. Wie bei dem künstlichen Bach und nachher dem Wasserfall auch wird das strömende Wasser unterhalb sofort mit Hochdruck zurückgepumpt, damit mit wenig Wasser viel Strömung erzeugt werden kann. Neben dem vermutlichen Einstieg liegen allerlei Dinge wie Schaumstoffbaumstämme und kleine, weiche Felsen. Dann holt er tief Luft, und ich habe das Gefühl, dass er sich einen Ruck geben muss.
Sympatisch. Dieser Tag tut ihm offensichtlich gut, und er zeigt auch mal Schwächen.
„O.K. - aber ... Sie ... dürfen mich bitte nicht weiterdrängen, wenn es nicht mehr geht."
Fragezeichen in drei Lehrergesichtern.

„Bon. Je ... Das allerwichtigste überhaupt muss ich euch eigentlich nicht mehr sagen. Ab dem Moment, wo wir mit dem Flugzeug abgestürzt sind, gilt EIN oberstes Gebot: keine Panik. Immer erst orientieren, die Gruppe sichern, Problem verstehen, Hilfsmittel suchen, vorsichtig probieren, sicherste Variante wählen. Das hier sind Attrappen. Wenn einer von euch gegen einen echten solchen Felsen geschleudert würde, hätte er keine Zeit mehr, das Ave Maria zu beten. Und ihr habt vorhin im Bach gesehen, dass selbst Solidarität doch Kraft und Können verlangt."

Er wendet sich zur Steuerung.
"So, ihr seid vierzehn Leute. Das passt. Verteilt euch mal in dem Bachbett, die Lehrer gleich mit dazu. Lasst ein bisschen Abstand, damit ihr euch nicht gegenseitig weh tut."
Yessss! Er spielt doch mit.
Die drei trockenen Pauker und alle nassen Teilnehmer steigen an verschiedenen Stellen ins Bachbett – ich gehe ganz an den Schluss - und alle schauen Antoine erwartungsvoll an. Der lächelt zum allerersten Mal.
„Dieses Rinnsal ist ein ausgetrockneter Bach am Ende des Sommers. Wie gesagt, das kann sich plötzlich ändern. Im Herbst sieht das dann so aus ..."
Er regelt die Strömung hoch, und Dr. Fahrendorf platscht mit einem sonoren „Huch!" zwischen die Felsen. Die beiden Frauen schauen sich an und nicken.
Mist! Die haben das schon kapiert!
Schnell schauen sie sich um und suchen sich eine andere Position.
„Das hier ist der Bach nach einem heftigen Sommergewitter."
Jetzt reißt es fast alle von den Beinen, so sehr sie sich auch Mühe geben. Ein paar klammern sich an die künstlichen Felsen oder eine herausragende Wurzel. Ich steige aus. So kann ich besser beobachten. Die beiden Lehrerinnen lehnen mit dem Rücken an zwei dicht beieinander liegenden Felsen mit den Füßen stromaufwärts gerichtet und stabilisieren sich noch gegenseitig mit den Armen. Sie liegen dabei erstaunlich tief im Wasser.

„Ach, fast hätte ich die Frühjahrsschmelze vergessen."
Antoine dreht die Strömung ganz hoch. Zügig werden alle Einzelgänger von ihren Felsen gerissen und wie wir anderen zu Tal gespült. Die beiden Lehrerinnen tauchen noch tiefer ins Wasser, setzen sich praktisch vor ihre Felsen und strecken ihre äußeren Beine seitswärts gegen die Uferböschung. In der Mitte sind ihre Arme verschränkt. Sie können jetzt zwar nur noch ab und zu Luft schnappen, weil sie beide ziemlich klein sind. Aber dafür passen sie geschickt die Wellentäler ab. Irgendwann hebt die Süße die Hand, und Antoine regelt sofort die Strömung runter.

Nach dem ganzen entsetzten Gequieke der anderen werden die beiden nun mit Gejohle am Ufer in Empfang genommen, wo sie sich mit Antoine breit angrinsen. Auf ihr Highfive reagiert er allerdings damit, dass er zurückzuckt und sich schnell wegdreht, als hätte er es nicht gesehen.
O.K. Der Typ wird immer seltsamer.
Frau Tucher redet trotzdem mit ihm.
„Machst du noch weiter, Antoine?"
Der schüttelt den Kopf und stellt sich ganz hinter die Gruppe.

„Also, dann über nehme ich wieder. Und – ja, ihr habt es geschafft, wir sind jetzt auch nass."
Erneutes Gejohle.

„Normalerweise steht man nicht in einem Wildbach. Man bewegt sich durchs Gelände und wird von so einem Wasser gebremst. Stellt euch vor, in der Nähe war eine Brücke, aber die mittleren Balken sind fortgerissen, weil ..."
Antoine schreit auf und stürmt ins Haus.
„... von der Strömung Baumstämme ... dagegen geschlagen ... wurden. Ähm. Hat einer von euch eine Ahnung, was mit ihm los ist? Eben war er doch noch ganz fröhlich und souverän drauf."

Ratlos schütteln alle den Kopf. Und ich spüre in mir das Bedürfnis zu helfen.
„Dürfte ich ihm nachgehen? Das wirkte nicht so, als sollten wir ihn jetzt unbeobachtet lassen."
Frau Süß verständigt sich kurz mit den beiden anderen und geht dann mit mir zum Haus.
„Ich glaube, sein Zimmer ist oben."
„Ja, neben dem von Dr. Fahrendorf. Aber wir gehen die Flure systematisch ab. Keine Ahnung warum, aber das wirkte wie eine Triggerreaktion. Und dann kann er irgendwo sein."

Wir informieren Freddy und seine Frau und suchen gemeinsam das ganze Haus ab. Aus dem oberen Männerwaschraum hören wir schließlich ein Schluchzen. Und dann schlägt etwas gegen die Wand. Ich springe sofort in den Raum, hin zu den Duschen und greife Antoine von hinten in die Arme, damit er nicht weiter seine Fäuste gegen die Wände knallt. So kann ich ihn da zwar rausziehen, aber jetzt schlägt und tritt er panisch um sich. Also bringen wir ihn mit vereinten Kräften in sein Zimmer zu seinem Bett und nehmen dann sofort Abstand. Freddy reicht uns noch einen Verbandskasten rein, weil die eine Hand schon blutet. Und dann setzen wir uns einfach still hin und warten ab.

Antoine wickelt sich sofort in seine Decke und rutscht ganz ans andere Ende des Bettes. Misstrauisch starrt er uns an. Ab und zu sagt er etwas auf französisch, was wir nicht verstehen, aber wenigstens verletzt er sich nicht mehr selbst. Es dauert lange, lange, bis er sich beruhigt hat, seine Atmung regelmäßig geht und seine Augen uns plötzlich wieder normal und klar ansehen. Erschöpft schüttelt er den Kopf.
„Pardon. Je ... Ich ... habe DAS nicht vorhergesehen. Bitte machen Sie sich keine Vorwürfe. Ich bin jetzt wieder in Ordnung. Ich ..."
Ganz leise antwortet Frau Süß.
„Antoine? NICHTS ist in Ordnung. Bitte versuche nicht, alleine damit klar zu kommen. Wenn dir das irgendwann in den nächsten Tagen im Gelände passiert, dann haben wir ein ernsthaftes Problem. Ich MUSS wissen, was es war, das dich getriggert hat. Denn das war eindeutig mehr, als du steuern konntest."

Antoine schüttelt vehement den Kopf.
„Das ... kann ich nicht. Ich darf noch ni..."
„Du MUSST."
Er rollt sich zu einer Kugel zusammen und atmet wieder schwer. Er ringt sichtbar mit sich. Seine Antwort kommt erst nach einer ganzen Weile.
„Ich werde es versuchen. Aber jetzt ist es noch zu frisch. Und ... reicht es, wenn ich es erstmal Max erzähle heute Abend? Es ist furchtbar schwer für mich."
„Ja, das reicht für mich. Ich weiß, dass Max dir sehr gut zuhören und hinspüren wird, und dass er mir nur soviel verraten wird, wie ich wirklich wissen muss, damit ich die Situation beurteilen kann. Aber wir müssen fairerweise auch Max fragen. Fühlst du dich dem gewachsen?"
Ich nicke ihr knapp zu.
„Soll ich hier bei dir bleiben, Antoine?"
Er nickt, ich verarzte seine Hand und entdecke dabei noch einige kleine Narben mehr, die wohl schon älter sind. Aber ich sage nichts dazu sondern wickele weiter den Verband drum, während Frau Süß zurück nach draußen zu den anderen geht.

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29.10.2020    -    23.4.2021

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