046 ** qualvoll und unwiederbringlich ** Di. 24.9.2019

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Heute kommt noch eine Triggerwarnung.
Antoine wird Max erzählen, was ihn zu dem Menschen gemacht hat, der er ist.
Es werden ein tragischer Unfall und psychische Gewalt zur Sprache kommen.
Pass gut auf dich selbst auf!

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Es dauert noch eine Weile, bis die anderen triefend nass und sehr fröhlich zurück ins Haus kommen. Sofort gibt es einen Run auf die Duschen.
Ups. Hoffentlich ist da kein Blut an den Kacheln, das jetzt jemand findet.
Alex kommt kurz ins Zimmer, und ich bitte ihn, schnell danach zu sehen. Mit großen Augen und verstörtem Blick eilt er zu den Duschen. Anschließend zieht er sich einfach warme Sachen an und fragt nur, ob wir mit zum Abendessen kommen.
„Gleich. Danke, Alex."

Als der raus ist, schaue ich Antoine einfach an.
„Wonach ist dir jetzt?"
„Ich ... hab schon Hunger. Aber ich hab Angst, dass mich jetzt alle komisch anschauen."
„Davor musst du wirklich überhaupt keine Angst haben. Frau Süß lässt sowas niemals zu und setzt das auch energisch durch. Ich vermute, sie hat den anderen eben schon gesagt, dass sie dich nicht anstarren oder ausfragen sollen. Du bist einfach normal dabei."
„Dann ... o.k., ich komm mit."
„Wie geht's deiner Hand?"
„Geht. Hat nur geblutet, da ist nix innen kaputt gegangen. Das würde ich merken."

Ich gehe mich jetzt auch umziehen, und treffe Antoine dann auf dem Flur wieder, der sich nicht nur trocken angezogen sondern auch den Verband abgenommen hat. Gemeinsam laufen wir zum Abendessen und setzen uns zu unseren jeweiligen Kumpeln. Gleich nach dem Abendessen gibt es noch eine Einheit über Orientierung im Gelände. Himmelsrichtung am Sonnenstand ablesen. Und als es dunkel wird, starren wir gemeinsam in den Nachthimmel. Hier in der Eifel, wo kaum irgendwo eine Lampe brennt, ist es wirklich richtig dunkel, und so sehen wir unzählige Punkte am Himmel. Ein paar von uns erkennen was. Freddy zeigt uns die wichtigsten, um sich auf der Nordhalbkugel orientieren zu können. Und dann ist endlich Schluss für heute.
„Das wars für heute, es war ein toller Tag mit euch. Ihr müsst jetzt dringend nochmal Schlaf einsammeln für die nächsten beiden Tage. Genießt eure weichen Betten. Wir treffen uns nach dem Frühstück im Gruppenraum, um all euer Gepäck durchzuchecken. Gute Nacht!"

Frau Süß signalisiert Freddy, dass er noch einen Eingang offen lassen soll. Ich nicke ihr zu zum Zeichen, dass ich verstanden habe, und lotse Antoine auf die Hollywoodschaukel beim Küchengarten. Und dann warte ich einfach ab. Antoine quält sich furchtbar. Bis er sich schließlich mit einem resignierenden Seufzen einen Ruck gibt. Und mich fast von der Schaukel haut mit einem schlichten, einfach unmöglichen Satz.
„Ich habe meine kleine Schwester umgebracht."
Entsetzt starre ich ihn an.
„Siehst du? Du reagierst wie alle. Ich kann bis ans Ende der Welt ziehen, es wird mich immer wieder einholen."
Ähm ...
Ich kann in der Dunkelheit sein Gesicht nicht sehen, aber ich höre am Klang seiner Stimme, dass ihn das hier unglaublich überfordert.

„Quatsch. Ich glaube dir nicht. Das macht niemand. Und ich bin nicht wie alle. Was ist wirklich passiert?"
Jetzt leuchten seine Augen erstaunt durch die Dunkelheit.
„Du glaubst mir nicht? Aber es ist so! Wenn ich sie damals nicht auf das morsche Brückengeländer gelassen hätte, wäre sie heute noch am Leben. Ich bin schuld. Ich habe sie umgebracht."
Was für ein Blödsinn.
Ich erkenne aus diesen paar Sätzen ja nur die Spitze des Eisberges. Aber dass eine Tragödie ihn vor Jahren aus der Bahn geworfen hat und er sich selbst zu Unrecht die Schuld gibt, das habe ich sofort begriffen.

„Antoine, ich glaube dir nicht. Aber lass uns anders anfangen. Du hast es heute Mittag selbst gesagt: keine Panik. Kannst du mir bitte die ganze Geschichte erzählen, möglichst in einer geordneten Reihenfolge, mit ein paar Fakten gewürzt?"
Tränen strömen über sein Gesicht, und er versucht, sie mit seinem Ärmel wegzuwischen. Dazwischen höre ich leise seine Angst.
„Das ... das halt ich nicht aus."
Ich will ihm über die Schulter streichen, aber er weicht sofort aus. Also ziehe ich meine Hand zurück.
„Ich bin bei dir und passe auf dich auf. Bitte trau dich."
Ein Schwall französischer Worte und ein hilfloser Aufschrei verhallen in der Nacht. Aber wieder darf ich ihn nicht zum Trost berühren. Und dann legt er los.

„Ich stamme aus der Gegend in der Provence, von der ich vorhin erzählt habe. Nördlich von Marseilles ziehen sich drei kleine 'Gebirge' parallel zum Mittelmeer, dort ist auch die Quelle. Aber gewohnt haben wir damals wo anders, am Fluss Gardon auf der westlichen Seite der Rhone. Wir sind oft mit der Familie an den Steilhängen des Gardon gewandert. Einmal kamen wir an eine alte Holzbrücke über einen Wildbach. Ich war acht Jahre alt, meine Schwester fünf. Und sie wollte unbedingt auf dem Geländer der Brücke balancieren. Ich wollte nicht, aber das Geländer war sehr breit und gab beim Rütteln nicht nach, also habe ich bei ihrem dringenden Betteln schließlich nachgegeben, ihr auf das Geländer geholfen und sie an der Hand hinübergeführt."
Antoine verstummt, und ich kann nur ahnen, was für ein Kampf jetzt in ihm tobt. Ich lasse ihn eine Weile weinen.
„Wo waren deine Eltern da, hatten die das erlaubt?"
„Ja ... Oh Mann. Mein Vater hatte am Geländer gerüttelt und gesagt 'nu mach schon.' Aber ICH war es, der sie hinaufgehoben hat. Ich war es, der ihre Hand losgelassen hat, als das Geländer unter ihr nachgab und sie mit einem panischen Schrei in die Tiefe fiel. Das ... Das ... Wasser ... Max, ich kann nicht!"
Ich bin schrecklich hilflos. Mein Impuls ist, ihn in die Arme zu nehmen. Aber das will er ganz offensichtlich nicht.
„Antoine, darf ich dich in die Arme nehmen? Du wirkst so furchtbar verloren und zerbrochen. Lass mich dir helfen."
„Mir kann niemand helfen. Mich darf niemand berühren. Alles, was ich anfasse, geht kaputt! Ich MUSS so zerbrochen sein! Wie ... wie ... Claire, ... die ... auf dem Felsen ..."

Großer Gott, ich bin so hilflos. Wie grausam! Was muss er durchgemacht haben in zehn ausweglos langen furchtbaren Jahren. Der braucht kein deutsches Abitur. Der braucht nur noch eins: eine wirklich, wirklich gute Traumatherapie. Und zwar sofort!

„Antoine, glaub mir. Das war nicht deine Schuld! Deine Eltern waren verantwortlich. Beziehungsweise absolut unverantwortlich, dass sie das einem Achtjährigen überlassen haben. Du wolltest das ja nichtmal. Du warst weder alt genug, um die Tragweite und die Gefahr dieser Klatterpartie zu begreifen, noch stark genug, um sie bei so einem ruckartigen Abgang halten zu können. Du. Kannst. Nichts. Dafür!!! SIE hätten das verhindern müssen. Dein Vater hat dich ja sogar aufgefordert dazu!"

Antoine weint haltlos.
„Aber sie haben gesagt, ich sei Schuld gewesen. Sie..."
„Wie bitte??? Deine Eltern haben dir die Schuld gegeben? Das ist ja nicht zu fassen. Haben sie dir vielleicht den ganzen anderen Unsinn auch im Laufe deines Lebens eingetrichtert?"
Er nickt, total erschöpft.
„Und haben sie dir eine Therapie ermöglicht?"
Jetzt schüttelt er den Kopf.
„Das heißt, dass du seit zehn Jahren mit einem furchtbar traumatischen, unbehandelten Erlebnis durchs Leben läufst und dir jede Hilfe verweigert wurde?"
Wieder nicken.

Auf einmal bin ich so wütend, dass ich aufspringe und immer im Kreis um die Hollywoodschaukel tigere. Es dauert aber eine ganze Weile, bis ich begreife, wieso.
Papa. Papa und ich.
Papa hat Mama verloren und daraufhin nach und nach mich zwingen wollen, gemeinsam mit ihm sein Trauma zu verdrängen.
Du gehörst nicht zur Familie. In diesem Haus wird nicht mehr getanzt. Weil sonst die Seifenblase endgültig zerplatzt. Du sollst die Firma übernehmen.
Papa ist traumatisiert und hat überhaupt keine Gewalt über seine Reaktionen, so wie Antoine beim Anblick dieser kaputten Brücke heute Nachmittag zurückgeworfen wurde in sein Trauma und seine vermeintliche Schuld.

Nach und nach bauen sich die Puzzlestücke der letzten Tage und dieses Nachmittags zusammen zu einem klareren Bild. Der Ehrgeiz. Die Betonung der Gefahren von Wasser. Die genauen Kenntnisse. Das Zurückschrecken bei jedem Versuch einer Berührung. Die Selbstverletzung. Antoine ist nicht arrogant und kalt. Im Gegenteil. Er verglüht innerlich und tut alles, ALLES dafür, dass sich sowas in seiner Nähe nicht wiederholen kann. Darum hat er im Bach so sorgfältig seine Gruppe geschützt und sich dabei völlig verausgabt. Darum fiel es ihm so schwer, am Wildwasser den Unterricht zu übernehmen.

Aber einiges verstehe ich nicht.
Ich setze mich wieder zu ihm in die Schaukel und frage sofort nach. „Antoine? Warum konnte Alex dich im Bach berühren? Warum machst du als Sport ausgerechnet Wildwasserkajak? Warum bist du bei diesem Projekt dabei? Und warum um Himmels Willen hast du vorhin den Unterricht übernommen, obwohl du wusstest, dass gleich alles über dir zusammenbrechen würde? Das war doch Harakiri!"

Sein bitteres Lachen schneidet fast in den Ohren.
„Wir haben Claire beerdigt, den Prozess abgewartet und sind dann sofort umgezogen auf die andere Seite der Rhone, nach L'Isle-sur-la-Sorgue. Die Sorgue ist der Fluss, der aus der Fontaine de Vaucluse fließt. Ich durfte mit niemandem darüber reden, durfte ihren Namen nicht mehr aussprechen. Und wann immer mir etwas kaputt ging oder sich jemand über mich beschwert hat, kam dieses verächtliche 'das war bestimmt Antoine, er macht eben alles kaputt."
„Wie grausam. Sie verlieren das eine Kind und stoßen das andere auch noch von sich."
„Sie wollten mit heiler Haut davonkommen, damit unsere Familie nicht ganz zerfällt. Sie wurden nämlich angeklagt wegen Verletzung der Aufsicht. Nur, dass ich erst acht Jahre alt war und sie alles auf mich schieben konnten, hat ihnen den Hals gerettet. Und der kleine Antoine? Hat all die Vorwürfe geglaubt. Mir blieb ja gar nichts anderes übrig. Ich habe mir fest vorgenommen, dass ich nie wieder jemandem weh tue. Das ging in meinem Kopf aber nur, wenn ich niemand mehr berührt habe. Ich habe nie wieder mit anderen Kindern gespielt, auch nach dem Umzug nicht. Ich bin nie wieder in den Bergen gewandert. Und ich habe beschlossen, dass ich ALLES tun werde, damit ich so eine Katastrophe in Zukunft verhindern kann. Da ich ja auch der Meinung war, ich sei Schuld gewesen und hätte nichts besseres verdient, bin ich in den Verein gegangen, um genau das zu tun, was mich am allermeisten quält. Überleben im Wildwasser."
Du lieber Himmel!
Diese Eltern gehören vor die Wand gestellt. Sie haben bewusst den eigenen Sohn vorgeschoben und wissentlich gebrochen.

„Als ich älter wurde, verblassten die konkreten Bilder, aber verwaschene tauchen immernoch in meinen Träumen auf. Ich hatte keine Kontakte, arbeitete, lernte und trainierte wie ein Besessener und ließ mich nicht berühren. Max, das waren zehn Jahre Hölle, und es wird nie aufhören. Nie."
Plötzlich fällt mir vieles von dem ein, das ich in den letzten Wochen über Tanztherapie und Traumata gelesen habe.
„Das kann dir niemand versprechen. Aber es kann besser werden. Denn diese zehn Jahre basieren auf einem Haufen Lebenslügen. Eine gute Therapie kann dir mit der Zeit helfen, die Lebenslügen aufzudecken und durch Wahrheiten zu ersetzen. Du kannst dann die Schuld an die zurückgeben, denen sie gehört. Dein Ziel sollte sein, dass du an das Gesicht deiner Schwester denken kannst, wie sie lacht und tanzt und singt. Ein schönes, heiles, fröhliches Gesicht."

„Als heute Nachmittag alle nacheinander in den Bach stiegen, setze mein innerer Rettungsmechanismus ein. Alte Bilder weg, sofort über eine Lösung nachdenken. Ich hätte es nicht ertragen, wenn einer von uns dreien abgetrieben worden wäre. Und wenn ich ehrlich bin. Alex war nicht nur in der Mitte, weil er tatsächlich stark ist. Ich ... musste so wenigstens nur eine Hand anfassen, und er hätte mich auf meinen Wunsch hin jeder Zeit sofort losgelassen. Das überlagert in so einem Moment das Bedürfnis, nicht berührt zu werden. Und warum ich hier dabei bin? Keine Ahnung, ich habe schon lange die Kontrolle verloren. Wasser zieht mich magisch an, als könnte ich mit jeder guten Aktion meine Schwester ..., als ... könnte ich Claire so wieder lebendig machen."
„Aber weil das nicht geht, bist du gefangen in einer endlosen Spirale der Schuldzuweisung und Not. Das muss aufhören, Antoine. Sonst zerbrichst du bald ganz. Lass mich dir bitte helfen."
„Aber wie???"
„Ich weiß es noch nicht. Und das geht auch alles über meine Kraft und meine Möglichkeiten. Aber ich will gerne mit dir den Weg suchen zu jemand, der dir echt helfen kann."

Eine Weile schweigen wir noch. Dann schubse ich ihn ganz sacht an und zeige aufs Haus.
„Wir müssen ins Bett. Meinst du, du kannst jetzt ein bisschen schlafen?"
Antoine nickt.
"Ich werde morgen früh der Süß erzählen, was für die beiden Tage relevant ist. Alles andere steuerst du selbst. Und wann immer du es brauchst, bin ich in diesen zwei Tagen für dich da, so gut ich kann."

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30.10.2020

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