066 ** alles oder nichts ** Do. 14.11.2019

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Von wegen „damit du dich am Donnerstag sicher fühlst". Mir geht der Arsch auf Grundeis. Sowas von! Von dieser blöden Matheklausur hängt soooo viel ab.
Scheiß Druck.
Moritz und Paul haben mich vorhin in der Pause nochmal mit selbst erdachten Motivationstechniken animiert und mir ganz viel Mut gemacht. Jetzt sitzen wir in der Klasse, Klausuraufstellung, alle Tische hübsch einzeln. Vor mir sitzt mein „hässliches Entlein" und schaut neutral-grau aus seinem Plüschkleid. Frau Süß teilt die karierten Bögen und die Aufgabenzettel aus. Kurz tätschelt sie im Vorbeigehen die kleine Gans und sieht dabei etwas wehmütig aus.
Ach ja, richtig. Sie kennt ja die Bedeutung.
Als ich auf die Aufgaben draufkucke, kann ich grade noch einen seeeehr spontanen Hustenanfall vortäuschen, damit ich nicht in verräterisches Gelächter ausbreche. Sie hat nicht einfach Aufgaben aufgeschrieben. Sie hat Geschichten um die Aufgaben drumrum erzählt!
Danke, Anni. Äh ... Ach egal.

Schnell entsteht konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Alle Köpfe sind über die Aufgaben gebeugt. Wie verabredet gehe ich erstmal alle Aufgaben im Kopf durch und schreibe mir alle nötigen Rechenschritte und -Arten an die Ränder. Das macht den Kopf frei fürs reine Durcharbeiten und zeigt mir gleich, wie viel ich tatsächlich kann. Da sind zwar ein paar Fragezeichen dabei, aber angesichts der Masse von Notizen wirft es mich nicht aus der Bahn. Ich bin unglaublich dankbar, dass ich zumindest in der Schule, wenns drauf ankommt, die Nerven bewahren kann.

Als ich zwei Stunden später die Arbeit abgebe, atme ich tief durch. Frau Süß schaut mich fragend an. Ich nicke mit einem Grinsen. Um die anderen nicht zu stören, die tatsächlich noch länger schreiben als ich, flüstere ich nur. „Eigentlich hätten Sie das Doppelte kriegen müssen für das, was Sie in den drei Monaten bei mir bewirkt haben. Einfach mal danke! Ich denke echt, das Ding hier ist absolut im grünen Bereich." Sie lächelt und sieht auf einmal ganz glücklich aus.
Warum wohl. Ich Idiot!

Die inzwischen ziemlich große Clique trifft sich wie immer in der Mensa, bevor wir alle außer Lasse und Antoine zur Sporthalle gehen. Gut, dass wir heute ein Mannschaftsspiel spielen. Da kann ich mich so richtig austoben. Angst und Zuversicht, Wut und Hoffnung, Einsamkeit und Sehnsucht, Schmerz und Liebe wollen mal wieder ein Ventil finden, und so flitze ich übers Mannschaftsfeld und pusche meine ganze Mannschaft mit. Ich muss richtig aufpassen, dass ich den Ball nicht zu hart werfe. Sonst können meine eigenen Leute ihn nicht halten. Und ich will ja auch niemand wehtun.

Völlig außer Atem und verausgabt schlurfen wir hinterher gemeinsam in die Umkleiden.
„Du, Moritz. Könnten wir sofort zu dir radeln und da alle duschen? Dann haben wir mehr Zeit für die Klausur in Geschichte morgen."
„Kein Problem. Paul? Kommst du auch gleich mit?"
Der nickt bloß und zieht sich das verschwitzte T-shirt wieder über den Kopf. Milly bekommt noch ein herzergreifendes Abschiedsküsschen, bei dem ich immer wegsehen muss, weil es so weh tut. Dann radeln wir los und zischen bei Moritz alle einmal durchs Bad.

Wir gehen einfach nochmal alle Fakten für die Klausur durch und sprechen dann lange über ethische Fragen im Zusammenhang mit den Dritten Reich, weil das grade aktuell im Unterricht dran ist. Wir sind uns sicher, dass das morgen eine Rolle spielen wird. Vor allem die Frage, die Paul gestellt hatte und die dann sofort abgewürgt worden war.
„Hat das Deutsche Volk durch die Verbrechen der Nazis eine ewig dauernde Kollektivschuld?"
Es gibt ja so Verrückte, die das Geschehen komplett leugnen. Und das ist natürlich Quatsch. Die meisten Menschen stehen allerdings auf dem Standpunkt, dass das wohl alles passiert ist und auch ganz, ganz furchtbar und falsch war. Dass aber die Nachgeborenen nicht auf ewig dafür verantwortlich gemacht werden dürfen. Schluss mit Kollektiv-Schuld und ewiger Sühne!
Und die Hardliner bestehen darauf, dass wir für immer die Verantwortung haben, reuig zu sein, daran zu erinnern und mit allen Kräften eine Wiederholung zu verhindern. Wir befinden uns alle Drei irgendwo dazwischen und versuchen darum jetzt, auszuloten, was das für morgen bedeuten könnte.

Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal sooo früh ins Bett gegangen bin. Hoffentlich, hoffentlich trügt mich mein Gefühl nicht, und ich habs diesmal tatsächlich besser hingekriegt. Dann hab ich die Abi-Zulassung in der Tasche.

Fr. 15.11.2019

Gespannt wie ein Flitzebogen gehe ich nach der Geschichts-Klausur und der Pause zu unserem Nachhilferaum. Mit undurchdringlicher Miene kommt mir Frau Süß entgegen, grüßt ganz neutral. Aber mich kann sie nicht täuschen. Sie hat die Klausuren bestimmt schon angesehen. Kaum ist die Tür hinter uns geschlossen, drehe ich mich zu ihr um.
„Uuuuuund???"
„Max. Sie wissen doch, dass ich noch nichts sagen darf."
„Müssen Sie ja auch nicht. Sie könnten doch einfach so kucken."
Sie bricht in schallendes Gelächter aus, stellt ihre Tasche ab und zögert einen Moment. Dann sehe ich Entschlossenheit in ihrem Gesicht.
„Wie kuckt man denn bei einer guten Drei? Wenn man sonst Einsen schreibt, wahrscheinlich ziemlich frustriert, oder?"

Ich glotze sie mit großen Augen an.
„Bei ... waaaas???"
Wie beiläufig sortiert sie ihre Unterlagen, schaut mich nicht an.
„Naja, wenn man sonst nur Vieren und Fünfen gewohnt ist, kuckt man wahrscheinlich seeeeehr zufrieden."
„Ich hab ..."
„Kopp dicht, Max. Erstmal haben Sie gaaaaar nichts, verstanden?"
Ich kann es einfach nicht fassen.

Das ist meine Abiturzulassung. Damit ist nicht nur die erste Klausur sondern gleich auch noch der Rückstand aus der Q2 mit ausgeglichen. Ich habs geschafft!

Die leise Stimme von Frau Süß holt mich zurück in die Gegenwart.
„Ja, Max. Hast du. Und ich freue mich wie Bolle mit dir."
„Hab ich ..."
„Sie haben grade laut gedacht. Ja, Sie haben es geschafft. Und ich bin unglaublich stolz auf Sie."
Ihr Gesicht strahlt so glücklich, wie ich mich fühle.

Eigentlich sollte ich mit diesem Ergebnis jetzt rundum zufrieden sein. Aber gleichzeitig könnte ich schreien vor Frustration, weil wir grade so vertraut miteinander reden, wie wir es immer haben könnten – wenn wirs nicht verbockt hätten.
Sie. Oder so ...
Dieses Gehampel zwischen Du und Sie reißt mich innerlich in Stücke.

Wird dieser Schmerz jemals aufhören???

Es ist, als ob unser beider Erwartungen wie Nebelfetzen in der Luft hängen und darauf warten, verscheucht zu werden. Dabei weiß ich kaum, was ich von ihr erwarte. Geschweige denn, dass ich wüsste, was sie von mir erwartet. Wenn sie überhaupt noch was erwartet. Also konzentriere ich mich auf Mathe, schaue sie nicht mehr an – und flüchte dann mal wieder, hangele mich durch den Rest des Vormittages und flitze nach Hause.

Wie immer empfangen mich ein leckeres Essen von Tante Jana, eine fröhlich hopsende Lotta und mein Schreibtisch. Lerngruppe nachbereiten, Lerngruppe vorbereiten, Hausaufgaben machen, in der Lektüre was nachlesen, Trainingsklamotten packen. Routine. Immer weiter.

Heute Abend und am Sonntag ist Tanztraining, Pauls Lerngruppe findet ohne mich statt, weil ich ja nicht im Englisch-LK bin, nächste Woche kommen noch die beiden LK-Klausuren. Sport ist am Montag und Deutsch – für die anderen Englisch - ist am Donnerstag. In der Q3 sind diese Klausuren schon vier Zeitstunden lang. Da ist viel Durchhaltevermögen, viel Stoff und viel Hirn verlangt, und entsprechend besteht mein Wochenende nur noch aus Deutsch und Sport. Deutsch liegt mir einfach, und der Faust ist auch nur halb so furchtbar, wie alle immer gesagt haben, denn die geistigen Strömungen dieser Zeit, die Goethe da verarbeitet hat, sind einfach spannend.

Aber Sporttheorie ist etwas, was man sich zum Teil einfach stumpf in den Kopf hämmern muss. Manchmal hat das echt wenig mit der Praxis zu tun. Wer denkt schon beim Rennen darüber nach, welcher Belastung seine Füße grade ausgesetzt sind oder was das Herz tut, damit es so viel leisten kann. Niemand. Genau. Und deshalb verstehe ich das alles, wenn ich es lerne. Aber ohne die Verankerung in der Praxis ist manches ziemlich schwer zu behalten.

Die Zeit bis Weihnachten rast, aber ich muss endlich, endlich keine Angst mehr haben. Die monatelange Zitterpartie, der durchgetaktete Alltag, die gründliche Paukerei haben sich gelohnt. Kurz denke ich darüber nach, ob Papa sich darüber wohl freuen wird.
Würde. Falls. Sch...
Wie anders wäre es, wenn ich mit der tollen Mathenote zu Hause sitzen und hibbelig auf Papa warten würde, um ihm dann freudestrahlend meinen Durchbruch zu präsentieren.

Keine Ahnung, ob er das jetzt überhaupt noch wissen will. Lieber nicht dran denken. Das tut nur weh. Und davon hab ich im Moment schon genug.
Ich weiß, dass Tante Jana und Onkel Thorsten sich riesig mit mir freuen, und dass Tanja sich mir mir freuen wird. Das muss mir für den Moment wohl reichen.

Als ich am Sonntag Abend ins Bett gehe, wird mir plötzlich bewusst, dass ich morgen vier Stunden lang zusammen mit Anni in einem Raum sein werde, weil sie natürlich die Aufsicht bei unserer Sport-Klausur haben wird.
Wunderbar. Nicht. Grad gibt es echt kein Entkommen. Entweder ich grübele über die eine Pleite oder über die andere Pleite nach. Ruhe gibt mein Kopf grade nie.
Ich lege mir ganz leise Instrumentalmusik auf, weil ich dann immer schnell einschlafen kann.

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19.11.2020

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