067 ** Bittersüße Momente ** Mo. 18.11.2019

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Jei, ich freue mich – ein ganzer Vormittag nur Max. Pokern ist mein Lieblingsspiel ...
Erst die eine Stunde Sport-Theorie. Und dann den Rest des Vormittags die LK-Klausur. Ich bin heilfroh, dass alle Facharbeiten wirklich richtig gut geworden sind. Dass alle mit ihrem gewählten Thema gut klarkamen und mit Persönlichkeit und tiefem Interesse daran gearbeitet haben. Das war letztes Jahr anders. Aber heute darf ich lauter Zweien und zwei Einsen austeilen.

Wobei eine davon ja eigentlich eine „Null" ist – Max „Doktorarbeit". Heute morgen ganz früh habe ich seine Widmung hinten drin nochmal gelesen. Ruhig und professionell hat er sie einer Reihe von Menschen gewidmet, und das hat mir nochmal die Tränen in die Augen getrieben.

Ich danke meiner Mutter, dass sie mir den Weg gewiesen hat,
ein Schwan zu sein.

Ich danke meinem Vater, dass er nie aufgehört hat,
das Beste zu wollen, und wenn es noch so schwer war.

Ich danke Tanja, dass sie mir die beste „Stief"mutter war und ist,
die ein junger Mensch haben kann.
Du weißt sicher, dass das „Stief" da schon lange nicht mehr hingehört.

Ich danke meinen „Nachbarn", dass sie immer meine Familie waren
und sein werden. Wir sind so tief miteinander verbunden.
Ohne Euch könnte ich nicht leben.

Ich danke Onkel Uwe für seine fachliche Unterstützung
und sein tiefes Verstehen.

Ich danke meinem Trainer Luis, der mich mit klarer,
aber freundlicher und sensibler Hand gelehrt hat,
durchs Leben zu tanzen.

Ich danke meinen drei Freunden Moritz, Paul und Lasse,
die wirklich IMMER für mich da sind.

Danke, Anni.

Ich ziehe innerlich den Hut davor, dass er die Größe hat, hier sogar seinem Vater ehrlich zu danken. Wieder halte ich die Luft an, weil zum Glück niemand bis auf Jenny, die anderen drei Jungs, ich und Max selbst wissen, wer Anni ist. Diese zwei Worte haben mich so umgeworfen wie schon seit Jahren nichts mehr.

Ich bin heilfroh, dass seine ganze Plackerei für die Schule so gute Früchte trägt, dass Max so gut durchhält, dass er den Rausschmiss so gut verkraftet hat und so stabil immer weiter nach oben klettert mit all seinen Noten. Auch die Kollegen in den anderen Fächern spiegeln mir, dass Max überall nochmal einen Zahn zugelegt hat seit den Herbstferien, wie gereift, wie Schalter umgelegt.

Ich selbst nehme aber noch etwas ganz anderes wahr. Schule läuft. Training läuft. Aber in sich drin ist Max zutiefst verunsichert, dauernd auf der Flucht und verbraucht ganz viel Kraft, um es mit mir im selben Raum aushalten zu können. Für uns beide – und vielleicht unsere Freunde – ist es unübersehbar, dass wir beide uns nichts mehr wünschen als, dass wir das nicht vergeigt hätten.
Aber so lange er nicht rafft, dass seine explosionsartigen und völlig gedankenlosen Ausbrüche ihm gewaltig im Weg stehen, dass er wenigstens hinterher nochmal richtig reflektieren muss, dass er damit verdammt seinem Vater ähnelt, ... - letzten Endes: dass er bereit ist zuzugeben, dass er mir heftig Unrecht getan hat damit, dass er den blauen Brief der Hartmann an mir ausgelassen hat – solange ist er eben doch der unreife Siebzehnjährige, der er so gerne nicht mehr wäre. Und damit kann ich dann doch nicht leben.

Vielleicht ist es gut so, dass ich rechtzeitig gemerkt habe, dass man sein Leben nicht einfach ein paar Jahre weiter drehen kann. Sonst hätte es uns irgendwann viel später noch viel mehr weh getan. Aber – ja, sch... - es TUT weh! Ich vermisse seine sanften Berührungen und seine hingebungsvollen kleinen Küsse. Ich vermisse seine Scheu und seinen Mut. Ich vermisse seinen Humor und sein Vertrauen. Ich vermisse seinen Geruch und seine scheißesinddieschön-braunen Augen. Wie können simple 28 Stunden zu Zweit so wahnsinnig viel verändern?

Uff. Kannst du mal aufhören zu grübeln, Kopf?

Nö.

Ich hab nicht mit dir geredet.

Hast du wohl, und das weißt du auch. Immerhin klingst du jetzt ein bisschen schlauer als in den letzten Wochen.

Die erste Stunde ist schnell rum, weil ich ihnen einfach Zeit lasse, sich ihre Facharbeiten anzusehen und mir noch Verständnisfragen für die Klausur nachher zu stellen. Hochmotiviert durch die guten Noten für die Facharbeiten gehen sie dann an ihre Klausuren. Während ich Aufsicht habe, korrigiere ich nebenher ihre Matheklausuren zu Ende. Auch im Kurs-Vergleich hat Max Arbeit noch 9 Punkte, und das ist einfach genial. Aber ich gebe sie nachher trotzdem wieder weiter an Ines Schiller, damit mir niemand Bevorzugung vorwerfen kann.

Jetzt bin ich wieder zu Hause. Ich habe Max für heute eine Mathe-Pause angeboten, damit er vor der letzten Klausur nochmal Luft holen kann. Um mich drumrum tanzt eine überglückliche Jenny. Sie will mir aber nicht verraten, wieso.
„Jenny?"
„Jaaaa???"
„Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich NICHT weiß, warum du grade so glücklich bist?"
„Ähm. Keine Ahnung?"
Ich schüttele den Kopf.
„Findus. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich in den letzten drei Monaten nicht ..."
„Pettersson, du bist fies. Wieso ..."
„Weil ich Augen im Kopf habe und dich kenne, seitdem du dich damals im Kindergarten in Armin verknallt hast. Und dann in der ersten Klasse in Freddy. Und in der Dritten in ..."
„Reicht. Hab verstanden. ... Also – wenn ich ehrlich bin – nicht sehr groß?"

Lachend fallen wir uns in die Arme, und das ist gut so, denn so kann sie mein Gesicht nicht sehen. Ich hab das ja schon ewig kommen sehen. Und ich freue mich wie bescheuert für Jenny und Lennart, denn die beiden sind einfach ein süßes Paar – wenn ihnen keiner zukuckt. Aber meine eigene Trauer um die Eintagsfliege Max passt gerade nicht soooo zu ihrem Glück. Die beiden haben sich tatsächlich dreieinhalb Monate Zeit gelassen und jetzt endlich den Mut gehabt, das Verbotene zu wagen. Denn – ja, irgendwie ticken Jenny und ich erschreckend parallel – natürlich ist auch ein Verhältnis zwischen Mentor und Referendarin sowas von verboten. Die beiden wollen es aber wagen und zusammen durchziehen am Beethoven-Gymnasium. Ich drücke ihnen alle Daumen – und hinterher heimlich ein paar Tränchen.

Ach, Max ...

Dann nutze ich die gewonnene Zeit, mich gleich an die Klausuren zu machen. Beim ersten Durchlesen bekomme ich wieder bestätigt, dass Sport-Theorie was völlig anderes ist als die Praxis. Aber keiner meiner geliebten Asse ist im Vergleich zu sich selbst völlig aus der Reihe getanzt. Und das sind wirklich gute Voraussetzungen fürs Abitur. Fatih ist wieder unentschuldigt nicht erschienen, also informiere ich den Direx, dass ich nun das Ausschlussverfahren einleiten werde. Dann maile ich allen Kollegen, dass wir dafür eine Klassenkonferenz brauchen.
Der Knabe hat so viele Chancen bekommen. Jetzt reichts.
Niemand zieht gerne diese Reißleine, aber das muss jetzt leider sein.

Ganz besonders freue ich mich über die Klausuren von Sebastian und Lore. Lore, die am Anfang so schüchtern und unsicher war, weil sie sich geschämt hat, dass sie wiederholen musste. Und jetzt ist sie in allen Fächern richtig gut dabei, in allen Kursen gut integriert und viel, viel selbstbewusster als am Anfang.
Vielleicht hat sie dieses weitere Jahr einfach noch gebraucht. Für so viele ist diese übers Knie gebrochene G8 ein ausgemachter Blödsinn. Sinds halt dreizehn Jahre – na und?

Sebastian hat sich nach unserem Gespräch am See gut in den Kurs integriert, Freunde gefunden und jetzt schließlich sogar zu Hause durchgesetzt, dass er ausziehen und sein Leben selbst in die Hand nehmen darf. Und über die Tänzer-Clique hat er sich mit Antoine angefreundet und ist einfach zu ihm gezogen. Er wird die Wohnung „warm halten", während Antoine in der Klinik ist. Der hat jetzt endlich seinen Termin. Am Donnerstag darf er in Langenberg antreten, und seine Freunde hier werden ihn hinbringen und dann an ihm dranbleiben, damit er alles gut durchsteht und sich nie alleine fühlen muss.

Max macht menschlich sooo viel richtig. Mit seiner Stiefmutter Tanja. Mit Antoine. Mit seiner Leidenschaft fürs Tanzen. Mit seiner sozialen Ader. Mit Verstand, Humor und Herz. Mit seiner eigentlich vorhandenen Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Das macht mich ganz wuschig. Warum greift er dann ausgerechnet bei mir immer wieder daneben? Der Stress, der Vater und die anfangs wackeligen Finanzen reichen mir nicht als Antwort. Denn bei anderen kann er ja nach wie vor empathisch sein.

Nur bei mir hat er eine ziemlich verschobene Wahrnehmung und flippt immer wieder völlig unerwartet aus.

Liebt er mich doch nicht? Oder ist es, WEIL er mich liebt? Hat er Angst? Vor meinem Alter, der Verantwortung, vor dem Versagen?

Es ist mitten in der Nacht. Meine Gedanken kreisen, ich kann nicht schlafen, ich stehe mit Gänsehaut auf den Armen am gekippten Fenster und zähle Sterne.
Max. Maximilian Gersten. Dein Leben fährt mit dir Achterbahn. Und dann komm ich noch obendrauf ...

Geht das schon wieder los? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass DU daran Schuld bist, dass der Knabe so aus dem Ruder läuft. Jetzt mach aber mal halblang!

Und am allermeisten möchte ich endlich gerne mal wissen, warum diese ätzende Panikstimme von damals ...

Ich? Deine Panikstimme? Meine Geistesgegenwart hat dich damals mehrfach vor Dummheiten bewahrt – wenn ich das mal am Rande anmerken darf.

Ja, genau. Panikstimme. Und du weckst Erinnerungen, die ich nicht bestellt habe. Max hat es nicht verdient, mit diesen Triggern in einen Pott geworfen zu werden. Ich vertraue ihm, naja, hab ihm ...

Ich höre?

Ach, lass mich doch in Ruh!

„Ahhhhhhhhhhhh!"
Die furchtbaren Bilder, die ich nun wochenlang mühsam unterm Deckel gehalten habe, überschwemmen mich mit Panik. Jenny hat mir mal gesagt, dass meine Stimme dann einen ganz anderen Klang hat. Und so stürzt sie auch schon fünf Sekunden später, aus dem Tiefschlaf gerissen, zur Zimmertür rein und nimmt mich fest in die Arme, bevor ich völlig die Kontrolle verliere.

Sie zieht mich aufs Bett und hält mich ganz fest, während ich heule und zittere – wie damals. Sie hält mich einfach fest – wie damals. Es dauert lange, bis ich wieder runterkomme und normal atmen kann.
„Was war denn, alter Mann? Erzähls mir."
„Ich ... die Stimme hat Max mit damals in einen Topf geworfen. Und das hab ich ..."
„Die Stimme ist wieder da???"
Ich nicke bloß, kraftlos in ihren Armen hängend.
„Jetzt reichts mir aber. Dieser Unsinn mit Max muss ein Ende haben! Du gehst mir noch kaputt daran. Was hat er denn diesmal wieder angestellt?"
„NICHTS! Gar nichts. Er kann doch nichts dafür. Die Stimme war einfach plötzlich wieder da. Es ... es ist ... arrrrg. Wahrscheinlich reicht es schon einfach, DASS es EIN Mann ist. Irgendeiner. Das macht mich echt irre! Warum. WARUM???"
„Schschschsch, Süße. Ganz ruhig. Der Moment ist vorbei."
„Aber ... Aber ... wenn das so ist ... dann wird es NIE aufhören!"
Jenny fängt an zu singen – wie damals. Aber die Nacht ist für uns beide gelaufen. Es macht mich inzwischen nur noch wahnsinnig, dass ich super funktioniere, wenn es um meinen Job oder meine Freunde geht, wenn ich normal mein Leben lebe. Aber wenn ich mal wieder Frau sein, mich schön und geliebt fühlen, mich selbst spüren will – dann dreht innendrin alles durch. Die Sirenen schrillen, die Zugbrücken rasseln rauf. Und nichts geht mehr.

Als mein Wecker uns beide weckt, habe ich das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben. Jenny drückt mich sofort zurück in die Federn, schnappt sich die fertig korrigierten Matheklausuren und schaut mich durchdringend an.
„Keine Widerrede, werd gar nicht erst richtig wach. Ich entschuldige dich, und du schreibst Tagebuch, wenn du wach bist, bis dir die Finger abfallen. Wir gehen das heute Abend zusammen durch."
Mit diesen Worten verschwindet sie aus meinem Zimmer. Dass sie die Wohnung verlässt, höre ich schon gar nicht mehr. Tagsüber schlafen ist viel erholsamer, weil das Kopfkino schweigt – wie damals.

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20.11.2020

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