086 ** Weihnachtsbrunch ** Mi. 25.12.2019

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Als hätten wir uns verabredet, kommen wir alle gleichzeitig bei Lasse und Max an. Ich radele mit Milly, Paul kommt aus der nächsten Seitenstraße, Sebastian fährt mit dem Auto vor. Bei Schnee und glattgefahrenen Straßen ist Radfahren manchmal gar nicht so einfach, aber wir kommen alle heile an und klingeln gleich bei Max Papa, weil da ja auch das Brunch stattfinden wird. Interessanterweise ist es Antoine, der uns die Tür aufmacht, uns andere alle ignoriert und sofort Sebastian in eine feste Umarmung schließt.
Na, ob da was im Busch ist?

Schnell drängen wir alle ins Warme, ziehen unsere ganzen „Isolierschichten" aus und bringen unsere Beiträge zum Brunch-Buffet ins Wohnzimmer. Dort biegt sich bereits der große Tisch unter allen möglichen leckeren Sachen. Von frischen Brötchen bis zu dampfender Suppe, von Rührei bis Obstsalat ist alles dabei. Außerdem sind wir wohl alle auf die Idee gekommen, auf diese Weise unsere Weihnachtsreste loszuwerden. Es findet sich eine beachtliche Ansammlung an verschiedenen Kartoffelsalaten zusammen, die natürlich alle probiert werden müssen. Milly schaut auf den Tisch und fängt an zu lachen.
Ich liebe ihr Lachen.
„Ratet, was ich mitgebracht hab."
Mit diesen Worten stellt sie eine weitere Schüssel Kartoffelsalat dazu.

Tanja kommt aus der Küche, wo sie kannenweise Kaffee und Tee gekocht hat.
„Hallo, Moritz. Schön, dass ich dich auch mal wieder sehe!"
„Hallo, Tanja. Frohe Weihnachten. Und ... darf ich dir Milly vorstellen?"
„Freut mich, ich bin Tanja. Ich habe schon viel über dich gehört, Milly. Max schwärmt so sehr von eurem Stück und von eurer Zusammenarbeit. Hoffentlich lässt mich das Baby zukucken Anfang April."

Als schließlich auch die gesamte Familie Seitz von nebenan dazustößt, sind wir richtig viele. Die Kinder wuseln rum, die Teller füllen sich. Und ein Sektkorken knallt.
Hä? Gibst was zu feiern?
Sebastian füllt einige Gläser.
„Wie viele Erwachsene sind wir denn?"
Wie aus der Pistole geschossen antworten Max und Lasse gemeinsam.
„Jana, Thorsten, Tanja, Max, Moritz, Milly, Paul, Sebastian, Antoine – neun Leute sind wir. Plus Lotta und Ole."
Der nächste Korken knallt.
„Sebastian? Was gibt es denn zu feiern?"
Er kuckt mich schelmisch an.
„Bei uns ist das normal – ein schicker Weihnachtsempfang am 25. mit Sekt und Kaviar. Den Kaviar hab ich zu Hause gelassen, aber gegen den Sekt hab ich nichts. Nur gegen die Leute, die ihn da grade schlürfen."
Dann hebt er sein Glas, prostet uns allen zu – und versenkt seine Augen in denen von Antoine.
Ich fress'n Besen, wenn nicht ... Und das ist ja sowas von süß!

Bald senkt sich gefräßige Stille auf den großen Raum. Nur Lotta kann selbst beim Essen noch ununterbrochen durchquatschen. Nach und nach entstehen auf dem Sofa und in diversen Sitzecken kleine Grüppchen, die sich angeregt unterhalten. Die Kinder spielen mit ihren Geschenken, bis Milly mit ihnen ein bisschen Zirkus spielt. Tanja und Jana haben sich auch viel zu sagen. Ich bin unglaublich froh, denn Tanja hat ja unter dem ganzen Affentanz fast genauso gelitten wie Max.

Ich rutsche neben Max, der alleine am großen Fenster lehnt. Er sieht ausgesprochen abwesend aus – und ziemlich glücklich. Ich spreche ganz leise, damit wir keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen.
„Und? Lass mich raten. Du hast Anni was geschenkt, und sie hat dir was geschenkt. Und jetzt schwebst du auf Wolke Sieben. Ich frag mich langsam echt, worauf sie noch wartet."
Na, da kommt aber einer von gaaaaaaaanz weit weg!
„Hm?"
„Max, du strahlst wie ein Honigkuckenpferd. Erzähls mir."

Max greift hinter sich nach einer kleinen Schachtel und hebt nur den Deckel an. Ich entdecke eine in sich gedrehte Glasfigur.
Das sollen wohl zwei Tänzer sein. Das ist wunderschön!
„WOW! Da hat sie aber gut getroffen, oder?"
„Das witzige ist: ich hatte genau diese Figur am Samstag noch bei dem Glasbläser auf dem Flachsmarkt in der Hand. Siehst du da die kleine, eingeschlossene Luftblase? Es ist genau diese. Und ich habe keinen blassen Schimmer, woher sie wusste, dass ich mir die Figur verkneifen musste, weil einfach mein Geld alle war. Sonst hätte ich sie mir nämlich selbst gekauft."
„Das ist doch ganz einfach. Es sind Tänzer. Das ist nicht schwer zu erraten."

Max steckt die Schachtel wieder weg und schaut auf einmal ganz nachdenklich.
„Hoffentlich gefällt ihr auch mein Geschenk!"
„Was hast du ihr denn geschenkt?"
„Das hier."
Schnell zückt er sein Handy, scrollt kurz durch seine Galerie und hält es mir dann unter die Nase. Auf dem Bild ist ein hölzerner Engel, der schützend ein Mädchen in den Armen hält, leicht stilisiert und wunderbar weich und sanft in den Formen.
„Und ich hab noch einen Brief dazu geschrieben. Ich hab aber noch keine Reaktion."
„Hast du schon reagiert?"
„Nö, mach ich nachher. War bisher keine Zeit dazu."

„Apropos, Zeit. Wann muss Antoine wieder in der Klinik sein?"
„Um 12.30 Uhr zum Mittagessen. Uuups, dann sollten wir langsam starten."
„Hm."
Ich muss ein bisschen grinsen wegen meiner Vermutung von vorhin.
„Sebastian hat mich gefragt, ob er nicht Antoine zurückfahren soll. Er hat seinen Eltern keinen Zeitpunkt genannt, wann er wieder da ist. Und die sind ja eh mit dem Empfang beschäftigt."
Max grinst zurück.
„Nachtigall, ick hör dir trapsen. Die wollen alleine sein. Süß, oder?"
„Hm. Ziemlich. Das Problem ist bloß, dass sein Aufenthalt hier an diverse Bedingungen geknüpft ist. Ich fürchte, da müssen wir mit den beiden oder mit deiner Tante oder mit allen drüber reden. Und das finde ich eigentlich furchtbar unromantisch für die beiden. Wir wissen ja nicht, ob überhaupt und wenn ja, in welchem Stadium die beiden sind."

Zum Glück nehmen uns die beiden das ab. Sie waren eine Weile alleine auf der Terrasse, kommen grade wieder rein und steuern direkt auf uns zu.
„Habt ihr einen Moment Zeit für uns?"
„Klar. Setzt euch!"
Die beiden rutschen zu uns aufs Sofa. Sebastian packt den Stier bei den Hörnern, greift sanft nach Antoines Hand und redet einfach los.
„Wenn ich eure Blicke richtig interpretiert habe, ahnt ihr schon, was jetzt kommt. Ja, ich war jede Woche in Langenberg, sobald die Kontaktsperre rum war. Es hatte schon vorher geknistert, und seitdem sind wir ein Paar. Wir wussten das beide vorher nicht, es ist echt spannend, die eigene Identität gemeinsam auf den Kopf zu stellen. Und wir haben noch keine Ahnung, wo wir hinsteuern. Aber im Moment gibt es uns beiden sehr viel Kraft. Es ... es macht neugierig auf das Leben, das uns beiden bisher eher die kalte Schulter gezeigt hat. Und das reicht uns grade völlig."

Antoine fängt an, selig zu lächeln.
„Ich habe so etwas noch nie gefühlt vorher. Nicht nur, dass ich lernen darf zu lieben, einen anderen Menschen und sein Innerstes zu entdecken. Ich lerne grade auch, wie schön es ist, geliebt zu werden. Ich lerne, den Gedanken zuzulassen, dass ich liebenswert bin. Ich hab noch viele dunkle Stunden, ich zweifle oft an mir selbst. Es ist unglaublich, berauschend, es gehen grade so viele Türen auf, von denen ich gar nicht wusste, dass sie existieren."

„Wir sind noch überhaupt nicht auf der körperlichen Ebene, der Gedanke ist zumindest mir noch seltsam und fremd. Aber Antoines Hand zu halten, wenn er Halt braucht, ihn zu küssen, weil ich gar nicht anders kann, wenn er aus tiefstem Herzen lacht, ihn zu umarmen, wenn er weint, weil seine Vergangenheit ihn erdrückt – und das alles auch von ihm zu empfangen – das tut so gut, das ist so ein Geschenk. Das ist ... ich fühle meine eigene Haut auf einmal nicht mehr als Schutzpanzer sondern als Membran, die durchlässig ist für Aufmerksamkeit, Fürsorge und ... Liebe."

„Ich bin so unglaublich dankbar, dass ihr es ermöglicht habt, dass ich diese wundervollen Stunden hier in dieser Familie verbringen durfte. Dieser Morgen war das erste Mal, dass wir nicht im Gemeinschaftsraum gesessen haben oder durch den Klinikpark spaziert sind, wo uns jeder beobachten kann. Es fühlt sich an, als wüchsen mir Flügel. Und jetzt ... würde ich gerne ..."
Ich lächele ihn an und falle ihm ins Wort.
„... auf diesen Flügeln zusammen mit Sebastian zurück zur Klinik fliegen, damit ihr wenigstens für diese kurze Zeit allein sein könnt miteinander. Richtig?"

Beide schauen uns scheu und unsicher an, aber Max greift nach ihren verschränkten Händen.
„Ich verstehe das sehr. Denn ... o.k., hört es und vergesst es sofort wieder, ja? Ich ... kenne das Problem. Ich frage meine Tante gleich, ob das für sie o.k. ist. Aber ihr müsst mir was versprechen."
„Klar, was?"
„Dass ihr bitte vorsichtig fahrt, dass Sebastian sich wirklich konzentriert und dass ihr pünktlich dort ankommt. Das ist als Fahranfänger bei dem Schnee nicht trivial, und ihr wollt doch, dass ihr das wiederholen dürft. Richtig?"
„Keine Sorge. Ich habe nicht vor, die Karre meines Vaters in den Graben zu fahren oder Antoines Gesundheit zu gefährden."

Max zeigt auf ihre drei Hände.
„Ist das für dich in Ordnung, Antoine? Und für dich Sebastian?"
Beide schauen auf das Händeknäuel runter, und Antoine lächelt.
„Schon längst. Und von dir sowieso."
„Gut, dann gehe ich jetzt zu meiner Tante und frage nach, denn ihr müsst ja bald los. Und zum Abschied kannst du dann alle nacheinander in die Arme nehmen, damit du deinem Therapeuten was zu erzählen hast."
Max zwinkert den beiden zu und macht sich auf die Suche nach seiner Tante. Er kommt schon bald wieder.
„Kein Problem, sie vertraut euch. Und ihr dürft uns gerne weiter als Adresse nutzen."

„WOW! Cool!"
Sebastian strahlt und gibt Antoine ein zauberhaftes scheues Küsschen auf die Wange. Der wird ein bisschen rot und drückt Sebastians Hand. Aber von der alten Anspannung, die vor allem in der Eifel extrem zu spüren war, ist nichts mehr übrig. „Hast du schon gepackt?"
„Ja klar. Wir haben ja hier auf dem Sofa geschlafen. Da hab ich heute morgen gleich alles gerichtet."
„Dann lass uns die Abschiedsrunde starten."

Eine Viertelstunde später umarmen die beiden als letztes Max, Antoine greift sich sein Gepäck und die beiden stapfen los zu Sebastians Auto.
„Wir melden uns, wenn wir jeweils heile angekommen sind!"
„Gute Idee!"
Ungefähr drei Sekunden, nachdem das Auto um die nächste Ecke verschwunden ist, stehen Milly, Paul und Lasse hinter uns.
„Sooooo, und jetzt auspacken. Was war DAS denn da vorhin?"

Max dreht sich um und schiebt die neugierige Meute energisch zurück ins Haus.
„Bevor wir nicht im Warmen sind, erfahrt ihr GAR NICHTS!"
Schmollend geben die Drei nach. Wir gehen durch die Küchen nach nebenan, und dann erzählen Max und ich von unserer Vermutung, die sich am Ende bestätigt hat."
Milly kratzt sich am Kopf.
„Ui. Die lassen aber auch keine Baustelle aus, die beiden. Das wär mir jetzt obendrauf echt zuviel."
Paul schüttelt den Kopf.
„Das haben die beiden sich doch nicht ausgesucht. Mich wundert es nicht. Durch das letzte halbe Jahr sind sie beide hochsensibel für sich selbst geworden. Und dabei haben sie angefangen, sich selbst zu entdecken. Wann wenn nicht in so einer Situation sollte man merken, dass man einfach in noch einer Sache mehr nicht der Norm entspricht. Ich sehe darin eine Chance. Antoine wird dabei begleitet. Die eigene Normalität neu zu definieren, ist grade sowieso dran. Sie schwimmen nicht haltlos da durch und irgendwo hin. Besser geht's doch nicht!"


der Brief

Als ich am nächsten Morgen in meinem alten Kinderzimmer aufwache, fühle ich mich glücklich und traurig zugleich. Mein Blick fällt sofort auf den Engel, den ich neben mir auf den Nachttisch gestellt habe. Ich nehme ihn in die Hände und klappe nochmal die Augen zu. Vor meinen inneren Augen sehe ich Max. Krank in der Eifel. Hilflos wegen Frau Hartmann. Durchgerüttelt wegen des Rauswurfs. Trotzig wegen der Grundschulübungen. Aber auch frech bei seinem Striptease im Direktorenbüro, den ich leider nicht gesehen habe. Ganz bei sich, wenn er tanzt. Hochsensibel für Antoine. Sehr klar und strukturiert bei seiner Facharbeit.

Willentlich würde er mir niemals weh tun wollen.

Aber das hast du damals auch gedacht.

Ich würde am liebsten ganz laut schreien, weil diese verdammte Stimme schon wieder da ist. Sie hat geholfen damals. Aber sie ist längst zu einem zynischen, kontraproduktiven Anhängsel geworden, das mich am freien Leben hindert.
Wird Max stärker sein als die Stimme? Und, nein, dich hab ich nicht gefragt. Halt einfach gleich deine Klappe!

Das polierte, naturbelassene Holz wird ganz warm in meinen Händen und verströmt einen feinen Duft. Da fällt mir plötzlich etwas auf.
Der Brief!
Sofort hüpfe ich aus dem warmen, gemütlichen Bett und suche nach dem Stoffsäckchen. Der Brief liegt daneben. Ich kuschele mich wieder in meine Decken und falte den Brief auseinander.

Liebe Anni!

Ich wünsche Dir frohe Weihnachten und hoffe, dass Dir mein kleines Geschenk gefällt.

Fast zwei Jahre lang haben wir unsere Kräfte aneinander gemessen, haben Witze gerissen, haben Gelächter geerntet und uns stark und sicher gefühlt. In den letzten drei Monaten habe ich die andere Anni kennengelernt, habe ich ein bisschen hinter die Kulissen schauen dürfen, habe ich noch andere Facetten Deiner wundervollen Persönlichkeit entdecken dürfen. Da ist immer noch die fröhliche, selbstbewusste, gut strukturierte Frau Süß wie am Anfang. Aber – und leider zum Teil durch meine Schuld – ich habe inzwischen auch die verletzte, die getriebene, die hilflos ihrer eigenen Vergangenheit ausgesetzte Anni kennen gelernt.

Ich mache mir Sorgen um Dich, weil es immer wieder Momente, Dinge, Menschen geben wird, die Dich zurückwerfen werden. Was kann Dir helfen, den Schatten Deiner Vergangenheit entgegenzutreten? Was kann Dir die Angst nehmen zu leben? Als ich diesen Engel sah, musste ich sofort an Dich denken. Ich wünsche Dir, dass Du Dich so sicher und geborgen fühlen kannst wie dieses kleine Mädchen in den Armen des Engels.

Wer dieser Engel ist, musst Du selbst herausfinden. Ob er Flügel hat oder auch nicht, ob es eine Freundin ist oder ein Partner – ich wünsche Dir so sehr, dass Du Dich eines Tages fallen lassen kannst, vertrauen kannst. Ob ich das bin? Oder jemand anderes? Das wird die Zukunft zeigen. Aber ich wünsche Dir auf jeden Fall, dass Du neue, viel schönere Erfahrungen machen kannst als das, was Dich noch so quält. Das ist so, als würde man ein Computerprogramm umschreiben, weil es für seinen Zweck nicht mehr taugt.

Ich bin da. Dein Max

Und schon mutiere ich wieder zum Wasserfall.
Ja, Max. Das will ich auch. Du BIST ein Engel! Wir müssen nur noch sechs Monate durchhalten.
Irgendwann greife ich zu meinem Handy und schreibe an Max.
„Danke, mein Engel. Du berührst mich tief."
Und kurz darauf kommt die Antwort, mit einem kleinen Emoji mit etwas geröteten Wangen ...
„Das freut mich. Und 1000 Dank für die beiden Tänzer. Woher wusstest Du DAS denn??? Und: Grefrath ist gebongt. Ich liebe Schlittschuhlaufen. Wann?"
„Freitag? Da ist es nicht so voll. Ich könnte Dich an irgendeiner S-Bahn-Station einsammeln."
„Klar. Werden? Um 10.00 Uhr?"
„Wird gemacht. Komm einfach raus zum Parkplatz. Ich freu mich drauf."
„Und ich erst!"
Mit einem erleichterten Seufzer mache ich mein Handy wieder aus. Übermorgen. Und wir werden einen ganzen Tag für uns haben.

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10.12.2020

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