(1/6) Das Essen

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Während Valerio Teller und zwei Gläser aus einem großen Schrank nahm und sie auf den Tisch stellte, sah Magnus sich in dem großen Raum um. Die Wände waren weder gestrichen noch tapeziert; im Schein des Feuers erkannte er dort, wo er einen Farbanstrich oder eine Tapete erwartet hätte, eine textile Bespannung. Mit seiner tiefroten Färbung wirkte das Gewebe, als sei es blutgetränkt. Die Verkleidung schenkte dem hohen und langgestreckten Raum eine Aura vergangener Pracht. Aber war sie tatsächlich original? Es gab günstige Nachbildungen. Er konnte nicht widerstehen, er musste sie näher ansehen, sie berühren. Der Stoff war durchwebt mit feinen, sich wiederholenden Ornamenten; im Schein der Fackel schimmerten sie golden und riefen dabei einen ganz ähnlichen räumlichen Effekt hervor wie die Wandbemalungen unten in der Halle: Es war, als ob die Muster vor dem roten Hintergrund schwebten. Vorsichtig strich er über eine Stelle - er wollte nicht glauben, was er unter seinen Fingern ertastete. Es war tatsächlich Leinen, vielleicht mit einem Anteil Seide. Man hatte es meisterhaft und von Hand mit kostbaren Goldmetallfäden durchwebt, ganz so, wie es in vergangenen Jahrhunderten für die prächtigen Bauten der Renaissance üblich war. Der Stoff wies einen sichtbaren Verschleiß auf. Aber wie konnte im feuchten Klima dieses verfallenden Hauses eine so empfindliche Rarität über vier Jahrhunderte erhalten bleiben, dazu in diesem beachtlichen Zustand?

Valerio war damit beschäftigt, die Kerzen an einigen hohen Leuchtern zu ersetzen. Als er die mehrarmigen Prachtstücke im Raum verteilte, wurde im hinteren Teil der Wand eine Feuerstelle sichtbar. In der anfänglichen Dunkelheit hatte Magnus ihren kantigen Schatten für einen Schrank gehalten. Über knarrende Eichendielen ging er hinüber, um die Schnitzereien der Umrandung zu bewundern. Sie waren in den hellen Marmor hinein gearbeitet und zeigten im Wechsel verschiedene Gruppen mittelalterlicher Gestalten und filigrane Ranken mit Früchten und Blüten. Die verkohlten Holzreste verrieten, dass der schulterhohe Kamin intakt war und genutzt wurde. Er lag in der Nähe der hohen Fenster; Magnus konnte sich lebhaft vorstellen, wie hier im Winter der Wind eindringen musste. Er spürte die starke Zugluft, die zwischen Kaminschacht und Fenstern über den Boden strömte. Der August ging gerade zu Ende. Jetzt schirmten bodenlange Vorhänge die Fenster ab. Es waren vier in der Reihe; die beiden mittleren mussten auf den kleinen Balkon hinaus führen, den er außen an der Hauswand gesehen hatte.

Der Kamin ließ die beiden Sessel, die davor standen, wie die Möbel eines Puppenhauses wirken. Ein kleiner runder Tisch stand dabei und ein unordentlicher Haufen unterschiedlicher Kissen mit Troddeln und Fransen an den Säumen lag, zusammen mit einer verschlissenen Decke, auf dem Boden vor einem der Sessel. In den Schatten standen zwei weitere Schränke, Möbel, die ebenso wie das dunkle Ungetüm, aus dem Valerio das Geschirr geholt hatte, eindeutig aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts stammten.
Wie kam man an solche alten Stücke, ohne ein Vermögen dafür auszugeben? Es war unglaublich: Alles in diesem Raum, die Stoffe und Polstermöbel, die Bilder und Leuchter, auch der imposante Eichentisch und die Schränke und Truhen, schienen aus der Blütezeit des Hauses zu kommen und seither nicht ausgetauscht worden zu sein.

Als Liebhaber alter Dinge mochte Magnus mit seinen Straßenschuhen die verblassten Teppiche kaum betreten, ohne dass sich sein schlechtes Gewissen regte. Es war unvorstellbar, dass sein junger Gastgeber für all diese Schätze noch extra Geld ausgegeben hatte! Wahrscheinlich war dieses Haus mitsamt dem Inhalt, der noch geblieben war, vollständig von ihm übernommen worden – und wohl zu einem Spottpreis. Es gab tatsächlich Leute, die kein Verhältnis zu antiken Einrichtungsgegenständen hatten und froh waren, wenn sie diese samt einem verrotteten Anwesen in ungünstiger Gegend an einen Liebhaber alten Zeugs los wurden. Einiges schien Valerio aber ausrangiert zu haben; die Möbelstücke unten in der Halle erzählten davon. Oder war er ein Erbe - jemand, der in den verfallenen Ruinen des Familienbesitzes hauste, bis er es zu eigenem Geld und somit zu neuen und moderneren Perspektiven für sein Leben gebracht hatte? Nein, ganz sicher nicht ... Er mochte ein Erbe des Hauses und seines Inhalts sein - aber er plante nicht, sich hier weg zu bewegen und seinem Leben eine andere Kulisse zu geben. Er lebte das hier mit ganzer Seele. Er verkörperte das Alte, zelebrierte das Vergängliche. Man sah es ihm an.

„Ti piace?"

Valerio stand an das Ende des langen Tisches gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er musste ihn beobachtet haben. Wer wusste, wie lange er schon dort gestanden hatte ... Beinahe hätte Magnus ihn vergessen, so versunken war er in seine Betrachtungen gewesen.

„Ob es mir gefällt", fragte er verlegen zurück, um einen Moment Zeit zu gewinnen. Er wies durch den Raum. „Ja ... sehr! Es ist ... beeindruckend."

„Allora si usava così. Damals war es so Brauch."

Magnus wusste nicht genau, wie das gemeint war. Vorsichtig fragte er: „Es war Brauch ... Leute zu beeindrucken?"

Statt einer Antwort lachte Valerio auf. Er nickte zum Tisch hinüber. „Dai - setz dich. Du hast Hunger."

Konnte man es ihm so sehr ansehen? Sehnsüchtig blickte er auf das Brot, das frisch und hausgebacken wirkte, da war kaltes Fleisch in Scheiben, dazu Butter und ein Korb voller Früchte. Wann hatte Valerio diese Dinge auf den Tisch gestellt? Und woher genommen - hatte er überhaupt den Raum verlassen? Magnus musste ganz im Anblick von Möbeln, Teppichen und Kamin aufgegangen sein ...
Dieser junge Mann hat eine direkte Art, dachte er, als er sich in einen der beiden Armlehnstühle fallen ließ. Vielleicht war er nicht von hier. Er sprach ein gutes Deutsch, wenn auch mit einem Akzent, der italienischen Ursprungs sein konnte - aber nicht musste. Sicher war er sprachbegabt, Italienisch war aber womöglich nicht seine Muttersprache. Magnus selbst hatte sein Italienisch überwiegend auf Reisen gelernt, er war oft in Italien und mindestens zweimal im Jahr auch in Venedig. Harald schickte ihn gern, da er sich hier auskannte, es war abgesprochen, dass er die Italien-Aufträge erhielt. Ein Sprachexperte war er aber nicht - er lernte nur sehr schnell, da er viel und gern kommunizierte. Letztlich war und blieb er nur ein Ausländer in Italien. Seine Erfahrung mit diversen Sprachen und Dialekten erlaubte es ihm aber durchaus, das Sprachvermögen anderer Leute einzuschätzen. Valerio gebrauchte die italienische ebenso wie die deutsche Sprache auf eine eigensinnige Weise, und das kannte er in dieser Form nicht von den Einheimischen.

Als er aufgefordert war, sich zu bedienen, griff er dankbar nach dem Obst, während Valerio den Fleischteller zu sich heran zog. Zweimal sah sein Gastgeber kurz vom Teller auf. Er schien ihn zu beobachten. „Woher kommst du? Du sprichst ein gutes Italienisch."

Magnus verschluckte sich an dem Saft seiner Weintraube. Sah dieser Kerl in seinen Kopf hinein? Er hustete einige Male, griff nach dem Glas und trank einen großen Schluck Wasser.

„Also ... ich bin mehrmals im Jahr beruflich hier, seit acht Jahren bereits", erklärte er, als er sich einigermaßen beruhigt hatte. "Venedig kenne ich, dazu einige Ecken auf dem Festland. Ich bin Deutscher, wie du sicher schon bemerkt hast. Ich komme aus Frankfurt."

Valerio nickte. „Ich verstehe."

Ich verstehe! Was war das für eine Antwort? Magnus wurde nicht schlau aus ihm, ebenso wenig konnte er sich die intensiven Blicke erklären, mit denen Valerio ihn zu inspizieren schien. Aber wahrscheinlich war er zu müde, um solche Details sachlich beurteilen zu können. Er nahm sich noch mehr Weintrauben. Der Zucker der Früchte ging schnell ins Blut. Vielleicht bekam er so wenigstens seine Kopfschmerzen in den Griff, sie begannen ihn zu quälen. Er wartete, bis Valerio mit der Fleischgabel fertig war und legte sich ein dickes Stück des kalten Bratens auf sein Brot.

„Nimm dir Butter dazu", forderte Valerio ihn auf. Er schob ihm eine Schale mit einer zähen dunklen Masse hin. "Oder Honig."

Honig - zu Fleisch? Seit wann aß man in Italien denn so etwas? „Oh, das ist in Ordnung", beeilte er sich zu erklären, "Butter nehme ich auf die zweite Scheibe. Vielen Dank." Den Honig ließ er stehen. Verstohlen sah er von seinem Teller auf und musste feststellen, dass Valerio ihn noch immer mit diesem Blick ansah. Er hatte ungewöhnlich schöne Augen. Das war im Schein der Kerzen nicht zu übersehen ... aber traute er ihm etwa nicht? Magnus war aufrichtig dankbar, dass er nun etwas zu essen bekam. Und er wollte, dass sein Gastgeber ihm abnahm, was er von sich mitteilte und ihn nicht für einen Lügner hielt. Vielleicht sollte er mehr von sich erzählen, anstatt ihn nun ebenfalls nach seiner Herkunft und Muttersprache zu fragen. Obwohl ihn Valerios Antwort extrem interessiert hätte.
„Ich lebe in der Stadt, inmitten von Lärm, Geschäftshäusern und Menschenmengen", begann er und hoffte, er konnte die Stimmung zwischen ihnen ein wenig auflockern. „Keine Ahnung, wieso es mich dorthin verschlagen hat, denn im Grunde liebe ich das Land. Die Ruhe. Ich bin gern mal für mich allein. Darum reise ich gern. Mein Job ermöglicht mir genau diese Abwechslung." Er sah von seinem Brot auf, bevor er hinein biss, bemühte sich zu lächeln. "Ich habe großes Glück."

„Tu stai bene? – Dir geht es gut?" Valerio fixierte ihn mit einer Aufmerksamkeit, die Magnus beinahe körperlich spüren konnte. Wenn er nicht gewusst hätte, dass es unmöglich war, dann hätte er in diesem Moment geglaubt, der Jüngere wüsste die Antwort bereits. Unsicher hielt er seinem Blick stand. Valerio schien in seinem Gesicht zu lesen; einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann wurden seine Augen schmal. Langsam sagte er: „Es ist schwer, die Flammen des Hasses und der Liebe zu löschen."

Erschrocken starrte Magnus ihn an. Er wusste nichts zu entgegnen, er fühlte sich auf einmal furchtbar nackt und verletzbar. So sehr, dass er fürchtete weinen zu müssen. Das fehlte noch, dass er hier nun emotional wurde! Er hatte das alles seit Stunden erfolgreich verdrängt, hatte gar nicht mehr an sie gedacht. Valerio lenkte ihn mit seiner exzentrischen Art ab, beschäftigte seine Gedanken – und ja, genau das war es, was ihn bewegt hatte, sich ihm überhaupt anzuschließen! Jetzt war er völlig aus der Bahn geworfen, damit hatte er nicht gerechnet. Dieser Mann war nahe an der Wahrheit, er hatte ein unglaubliches Gespür. Und auf einmal war da ein Bedürfnis, ihm seine Geschichte zu erzählen. Er schluckte seine Betroffenheit hinunter, holte tief Luft und wollte gerade bestätigen, dass Valerio recht hatte, als dieser ihm zuvor kam.

„Erzähle mir erst die anderen Dinge. Später, am Feuer und bei einem Glas Wein, ist die richtige Zeit für dies hier. Ich werde zuhören." Dann fiel er wieder in sein Italienisch. "Quanto ti fermi qui?"

„Wie lange ich hier bleibe? Noch bis morgen früh, dann muss ich nach Deutschland zurück. Mein Flug geht um neun Uhr zwanzig." Magnus lachte auf, schüttelte den Kopf. „Ich sollte eigentlich nicht mehr hier sitzen, sondern im Bett sein! Ich habe nicht viel geschlafen in letzter Zeit."

"Ja, es ist spät. Wenn du willst, kannst du hier bleiben. Ich habe ein Bett für dich. Ich kann dich am Morgen rechtzeitig zurück bringen." Er ließ Magnus keine Zeit für eine Reaktion. "Wo bist du untergebracht?"

„Im Fortuna."

Einen Moment schwiegen sie, dann lachten beide. „Ausgerechnet", sagte Valerio. „La Fortuna di Gianni. Wie sagt ihr? Hans ... im Glück!"

„Nicht so ganz. Zurzeit jedenfalls nicht." Magnus war nicht zu Scherzen über seine Situation aufgelegt. Seit Valerio ihn auf sein Drama gestoßen hatte, fraß sich seine Trauer durch jede Wand hindurch, die er in seinem Innern aufzustellen versuchte. Es war einige Stunden gut gegangen. Nun bröckelte die Fassade, das Ausmaß der ganzen Katastrophe holte ihn ein und kam wie eine Welle über ihn.

Valerio schenkte beiden Wasser nach und nahm eine Handvoll Weintrauben. "Das Glück ist mit den Mutigen", sinnierte er. „Man muss von diesem schmerzenden Punkt einen Schritt weitergehen, man muss Geduld mit dem Leben haben. Manchmal zeigt sich erst später, wozu etwas gut gewesen ist. Manchmal ist vermeintliches Unglück ... Glück." Seine Stimme enthielt plötzlich etwas Sanftes. "Oder umgekehrt."

Magnus wusste das. Oft war es so, ja. Aber wenn man einen geliebten Menschen verlor ... wo war daran das Glück zu finden?

„È sempre la solita storia", seufzte Valerio und betrachtete nachdenklich die Weintraube, die er zwischen Daumen und Zeigefinger gegen die Kerzenflamme hielt.

"Es ist immer dieselbe Geschichte? Was heißt das, was meinst du damit?" Magnus fühlte sich zunehmend herausgefordert, er wollte keine weisen Ratschläge oder philosophischen Betrachtungen über seine Privatangelegenheiten. Nachdem sie sich auf der Brücke ein aggressives Gefecht geliefert hatten, hatte er Valerio auch von einer anderen Seite erlebt. Er war und blieb ein eigenartiger und exzentrischer Typ, aber er konnte freundlich sein und schien trotz seines jungen Alters einige Vernunft und sogar Einfühlungsvermögen zu besitzen. Darum hatte er sich vorgenommen, ruhig zu bleiben und sich ebenfalls höflich und freundlich zu zeigen. Aber wenn er solche Dinge sagte? Er war viel zu müde, um seine Emotionen unter Kontrolle zu haben. Man sollte besser nicht zu viel von ihm erwarten, er hatte gefühlte achtundvierzig Stunden Schlaf nachzuholen. „Immer dieselbe Geschichte?", hakte er nach und gab sich kaum Mühe, seine üble Laune zu verbergen. "Das kann man doch so nicht sagen! Und erst recht nicht du in deinem Alter. Wie alt bist du eigentlich, dass du meinst, so über das Leben sprechen zu können?"

Valerio antwortete nicht. Sehr ruhig saß er da und sah ihn einfach nur an, als bräuchte Magnus' Frage keine Reaktion. Aber hinter seiner Stirn, ja, auch in diesen dunklen Augen, schienen sich Welten zu bewegen. Plötzlich war sein Blick voller Schmerz. Er beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber, funkelte ihn wütend an. „Was weißt du über das Leben, was ich nicht weiß, alter Mann", schoss er ihm entgegen.
Magnus glaubte Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen. Entgegen der Ablehnung, die er für die Überheblichkeit seines jungen Gastgebers hegte, konnte er nicht anders: Er bewunderte, wie Valerio seine Gefühle zeigte. Und aussprach, was er dachte. Ohne jede Scham - er versteckte nichts, er war aufrichtig, pur und gerade heraus. Es ließ ihn so stark und überlegen wirken! Aber genau das war es, was Magnus an ihm zugleich nervte und faszinierte. Er hatte etwas an sich, das konnte er nicht leugnen; etwas, das ihn nicht allein Neid oder Ärger empfinden ließ, es war ... komplizierter.

Der Moment war vorbei. Valerio lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück, legte den Hinterkopf gegen die hohe Lehne. Er maß sein Gegenüber mit eisigem Blick. „Alter ist relativ", sagte er in ruhigem Ton und Magnus spürte die unterdrückten Gefühle im Untergrund seiner Stimme. "Du weißt gar nicht, wie sehr. Quanto ne sai - Was weißt du schon! Vielleicht erzähle ich dir meine Geschichte. Nichts von dem, was du über das Leben zu wissen meinst, wäre danach mehr gültig. Aber nun...", er stand auf und nahm sein Glas vom Tisch, „bist du an der Reihe. Dai. Es ist kalt hier. Ich mache uns Feuer. Nimm dein Glas mit."

Ende Teil 6


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