(14/11) Leichentücher

Màu nền
Font chữ
Font size
Chiều cao dòng

Magnus öffnete die Augen. Benommen blinzelte er gegen das trübe Viereck des Fensters. Er rührte sich nicht, lag nur da, gefangen im Echo seines aufgewühlten Unterbewusstseins. War es frühmorgens? Oder später? Er fühlte sich gar nicht gut. Bedrückende Szenerien und Bilder, Fetzen von Gesagtem lagen ihm schwer auf der Seele.

Er hatte geträumt. Schon wieder. Noch war er nicht ganz bei sich... Wann war er das zuletzt gewesen? Er hatte es vergessen. Diese unendliche Einsamkeit und Verlorenheit, in die sein Traum ihn hinab gerissen hatte... Er hatte sich schon lange nicht mehr so allein gefühlt. Die deprimierte Stimmung hing auch jetzt noch wie ein Leichentuch in seinen inneren Räumen. Mit dürren Fingern hielt ihn die Dunkelheit fest und wollte ihn nicht auftauchen lassen; was sie mit ihm machte, empfand er bereits jetzt, wenige Sekunden nach dem Aufwachen, als unerträglich.

Immer mehr erinnerte er sich nun. Diese furchtbare Schwere und Stille! Er war so unvorstellbar allein gewesen, er fühlte es noch... es hatte ihn auf den Grund der Lagune, in die absolute Schwärze hinunter gezogen. Und keine Hand, keine Stimme, kein warmer Blick war da gewesen, niemand, der ihn gehört hatte. Auch keine Tote. Und kein Zeitwanderer. Und keine Mutter, die ihm verzeihen wollte. Die ihm sagte, dass furchtbare Dinge nun einmal geschahen und dass ihn keine Schuld an Lenas Tod traf! Wer konnte denn vorher wissen, was passieren würde! Jeden Tag, jede Nacht stiegen Menschen in Autos von Freunden ein und kamen lebendig und unversehrt zuhause an.

Nach Hause kommen.... Und oh, Valerio. Wo bist du, dachte er und bewegte die Lippen bei der Frage, stumm, ungehört. So wie eben, im Traum.

Wir sind zuhause. Dies hier ist mein Heim. Das hatte Valerio zu ihm gesagt. Seit der Nacht ihrer ersten Begegnung war es ihm vollkommen aus dem Gedächtnis entfallen, Nun aber geisterten die Worte urplötzlich durch seinen Kopf - und mit ihnen die Erinnerung an das starke Gefühl, das ihn in diesem Moment beschlichen hatte. Noch betäubt von dem Schlaf in der Gondel hatten ihn Valerios Worte so tief getroffen und bewegt; da war so viel Aggression in ihm gewesen, er fühlte es noch jetzt, während er daran dachte. In dieser seltamen Nacht ihrer ersten Begegnung war ihm das Thema lästig gewesen. Und doch hatte er bei Valerios Worten unsagbaren Neid empfunden.

Aber nicht wegen des Hauses! Was er davon in dieser nebelumhangenen Nacht hatte sehen können, war ihm gar nicht begehrenswert genug vorgekommen, um neidisch zu sein. Es war nur dies: Er wusste nicht, wann er selbst in seinem Leben überhaupt einmal irgendeinen Ort sein Zuhause genannt hatte. Es kam ihm vor, als erinnerte er sich durchaus, eines gehabt zu haben. Immer schon hatte er gewusst, wie dieser Zustand des Zuhauseseins sich anfühlte. Es war nur seltsam, dass er nie einen Ort dazu nennen konnte! Es hatte keinen gegeben, noch niemals, solange er lebte. Nur das vertraute Gefühl kannte er - und er suchte und vermisste es, solange er sich erinnerte. In Valerios Worten, in jener Nacht, da war es ihm auf einmal lebendig und spürbar begegnet: nicht an seinem Haus, nicht an diesem Ort, sondern... an Valerio selbst.

Wir sind zuhause, hatte Valerio  gesagt. Wir. Und er hatte sich aber dennoch so unsagbar isoliert gefühlt. Beinahe so, als habe Valerio hier für sich selbst eine Bindung geschaffen, von der Magnus aber doch völlig ausgeschlossen war. Das wir schmerzte ihn auch jetzt wieder, als er daran dachte. Denn auch ein wir hatte er noch niemals wirklich erfahren. Es würde wohl unerfüllte Sehnsucht bleiben, so lange er lebte.

Was ist das alles für ein Blödsinn, dachte er im nächsten Moment und versuchte die abstrusen Gedanken aus seinem Kopf zu schieben. Er war ja wohl völlig verrückt! Wie konnte er eifersüchtig darauf sein, dass ein Fremder, den er zu der Zeit doch gar nicht kannte, sich einem Haus zuwandte und nicht... ihm! Was waren das für abwegige Fantasien! Er wollte doch nicht etwa mit einem Haus um die Aufmerksamkeit eines... Vampirs kämpfen? Oh, bestimmt war es nur diese verdammte Einsamkeit, die Stille in diesem Haus. Er war das nicht gewohnt. Aber es nützte nichts. Wenn er nicht noch vollkommen durchdrehen wollte, musste er jetzt in Bewegung kommen.

Er hob den Kopf vom Kissen, strampelte die Decke weg, sah an sich herunter und auf die Kleidung, die er noch immer trug. Er hatte sich in der Nacht gar nicht ausgezogen; er musste herausfinden, ob es Morgen oder bereits Nachmittag war, sein Zeitgefühl war vollkommen hinüber. Dass ihm die Traumstimmung, aus der er aufgetaucht war, auch jetzt noch zusetzte, machte ihm Sorgen.

Wie melancholisch begann dieser Tag... Er wollte sich doch im Griff haben, er brauchte Kontrolle! Er erinnerte sich an seine guten Vorsätze, seine Pläne für heute; sie sollten ihm helfen, den Tag zu strukturieren und die Zeit herum zu bringen. Die Müdigkeit saß ihm zwar immernoch in den Knochen, aber er musste zumindest einige Stunden geschlafen haben. Ihm war mulmig vor dem Tag. Widerwillig zwang er sich vom Lager hoch.

Halb hoffnungsvoll, halb verzweifelt lauschte er in die Tiefe des Hauses hinein. Da war nichts. Wenn er inzwischen zurück gekommen wäre, hätte er sich ganz sicher bemerkbar gemacht. Er musste sich denken können, welche Verwirrung er mit seinem Verschwinden ausgelöst hatte.

Die deprimierende Stimmung aus dem Traum begleitete ihn wie ein düsterer Schleier, als er zögernd ans Fenster trat. Er blinzelte in das trübe Licht des Himmels, dann ging sein Blick über die unbewegliche Szenerie dort unten. Der Ausblick, der sich ihm von hier bot, zeigte den linksseitigen Teil der wilden Wiese, den Abschnitt, der weiter hinten bis an die hohen Bäume heran führte. Dorthin, wo er die Geistererscheinung gehabt hatte, kurz bevor Valerio verschwunden war. Noch immer wirkte das Gelände wie ausgestorben. Kein Windhauch regte sich da draußen. Der Sturm der letzten zwei Nächte war vorbei.

Seine Augen suchten die geschlossene Wolkendecke nach dem Stand der Sonne ab. Ihre Position war nicht feststellbar. Gut - er würde die Tageszeit herausfinden. Er musste nur geduldig warten und einige gezielte Überlegungen anstellen.

Die Natur sah nach einem späten September aus. Es war nicht wirklich kalt, aber auch nicht mehr warm. Und der Sturm war typisch für die Übergänge zwischen Sommerende und Herbst. Das Grün der Bäume war noch vorhanden und die Wiese sah aus, als hätte sie drei Monate Sommerhitze mit wenig Niederschlag hinter sich; aber an manchen Bäumen zeigten sich bereits erste Verfärbungen der Blätter: Gelb und braun wurden sie - und dass der stürmische Wind so viele von ihnen hatte abreißen können, zeigte deutlich, wie nahe der Herbst war.

Magnus legte sich auf September fest. September erschien ihm realistisch. Nicht, dass es darauf ankam, ob es Ende August oder bereits September war. Es ging ihm nicht um den Namen eines Monats in einem imaginären Kalender. Es war nur so, dass er ohne eine einigermaßen korrekte Uhrzeit nicht gut aus seinem Gefühl der Orientierungslosigkeit heraus fand. Und um die Uhrzeit festzustellen, brauchte es zunächst den Monat, oder besser noch die ungefähre Kalenderwoche, in der er sich befand.

Er wusste, dass sich zum Sommerende die Sonnenaufgänge sehr schnell in die späteren Morgenstunden hinein zu verschieben begannen. Um eine Uhrzeit für einen Sonnenaufgang einkreisen zu können, musste er sich zunächst über den Stand des Jahres sicher sein. September - vielleicht die Mitte - bedeutete, dass die Uhr bei Sonnenaufgang je nach Fortschreiten des Monats auf halb Sieben oder Sieben stehen musste. Er wollte zusehen, dass er heute Abend nicht zu spät ins Bett kam, damit er morgen vor Anbruch des Tages wieder wach war. Damit der Moment des Sonnenaufgangs nicht unmarkiert vorbei ging, musste er heute außerdem versuchen, so etwas wie eine Sonnenuhr zu bauen ;er würde den Sonnenaufgang am Morgen darauf kennzeichnen. Wenn er heute Abend nur schon den Sonnenuntergang markieren könnte! Aber so wie der Himmel aussah, gab es wohl keine Hoffnung auf Sonnenschein und somit auch nicht auf Schatten. Trotzdem: Er musste sich vorbereiten, falls sich das Wetter gegen Abend doch noch klären sollte.

Zum Einrichten einer Sonnenuhr nutzte man in der Regel eine korrekt funktionierende Uhr. Und man sollte den Längen- und Breitengrad des Ortes kennen, an dem man sich befand, so viel wusste er. Es gab keine Uhr und er hatte keine Ahnung von Längen- und Breitengraden. Es musste auch anders gehen, dachte er, während er seinen Blick über das verdorrte Gras schweifen ließ. Irgendwo da draußen würde er einen Platz dafür finden.

Die kleine Installation, die er im Sinn hatte, sollte ihm nur für jetzt und vielleicht noch einige Tage mehr dienen. Wenn das überhaupt nötig war! Denn er wollte stur daran festhalten, dass Valerio sehr bald zurück kam. Auch ging es ihm nicht um die genaue Uhrzeit; er wollte sich beim Aufwachen nur nicht mehr jedes Mal fragen müssen, ob es nun Morgen oder Abend war. Nur die ungefähre Tageszeit brauchte er, damit würde er zufrieden sein. Er wollte nur den Tag strukturieren können, denn sein Wach- und Schlafrhythmus waren völlig durcheinander. Vor allem aber brauchte er die zeitliche Orientierung, damit er nicht durchdrehte.

Ein lautes Magenknurren brachte ihn aus seinen Grübeleien heraus. Hunger und Durst ließen ihn unruhig werden. Er gab sich einen Ruck und wandte sich zu Tür. Barfuß tappte er in den Gang hinaus und steuerte zunächst das Badezimmer an. Das matte Licht, das weiter vorne durch die offen stehenden Flügeltüren des Kaminzimmers in den Flur hinaus sickerte, genügte ihm.

In dem kleinen Bad hielt er sich nicht lange auf. Vielleicht war es der Spiegel, der ihn verunsicherte. Er wollte sich darin nicht sehen, er befürchtete, die Angst könnte ihm zu sichtbar in den Augen stehen. Lieber machte er sich heute etwas vor und glaubte daran, dass diese irrsinnige Situation sehr bald ein Ende haben würde, als dass er noch einmal in die Panik der letzten Nacht zurück fiel. Das durfte ihm kein zweites Mal passieren.

Unsicher, vorsichtig wagte er sich schließlich ins Kaminzimmer. Er durchquerte den Raum und trat ans mittlere der hohen Fenster, das bis zum Boden ging. Der Sturmwind hatte die Asche aus dem Kamin bis auf den Tritt geweht. Seine Zehen malten Spuren in die feine, graubraune Schicht, mit der die marmorne Stufe bedeckt war. Später würde er einen Putzlappen finden und es wegwischen, zusammen mit der Asche vor dem Kamin; jedenfalls nahm er sich das vor.

Was hätte er heute für einen strahlenden Sonnenschein gegeben, nicht nur wegen der Sonnenuhr! Dieses trübe, stille Wetter wirkte so eigenartig. Es erinnerte ihn an einen Zombiefilm, zu dem ihn ein Freund einmal ins Kino gelockt hatte. Die verdorrte Wiese dort unten... er würde sich nicht wundern, wenn da gleich ein paar graue Gestalten unter den Bäumen hervor kamen und das Haus zu belagern begannen! Entschlossen öffnete er die Tür zu dem kleinen Balkon. Kein Lufthauch wehte in den Raum hinein. Er ließ die Tür offen stehen und ging durch den Gang und in die Küche hinüber, um sich etwas zu essen zu suchen.

Ende Teil 128





Bạn đang đọc truyện trên: Truyen2U.Pro