(6/1) Die Laute

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[Ernsthafte Empfehlung: Unbedingt die musikalische Untermalung oben leise mitlaufen lassen! MAGISCH!!]

Die Laute. Er hatte seine Laute im Kloster gelassen.

Mit Schwung kam er von seinem Lager hoch. Sein Herz klopfte wild und einige Sekunden lang konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Der Schreck legte sich wie eine Klammer um seine Brust, je mehr er realisierte, wie viele Stunden die Laute bereits verschwunden sein musste.

Er hatte eine gute Zeit lang in tiefer Dämmerung gelegen, mit wachen Augen träumend - die Arme hinter dem Kopf, die kühle Abendluft über der nackten Haut, den Blick auf das schwach erkennbare Viereck des offenen Fensters gerichtet. Ein magischer Mond vergoss dort draußen sein fernes Licht. Seine Gedanken waren in endlosen Wellen durch das nächtliche Blau und Silberweiß geströmt und dann waren ihm Flügel gewachsen. Er war geflogen, weit weg, an geheime Orte seiner Fantasie. Aber plötzlich hatte es ihn wie einen Schlag getroffen. Die Laute!

Im Dunkeln saß er auf der Kante seines Bettes. Die nackten Zehen tippten nervös auf der Strohmatte auf und ab und die Finger der einen Hand drückten und massierten den kleinen Finger der anderen Hand, als könnte dies seine Gedanken schärfer und schneller machen.

Fieberhaft rekonstruierte er die Stationen und Wege des Tages. Da war seine Mittagszeit auf dem Dach gewesen. Er hatte im Schatten des Erkers einige Stücke durchgespielt, schwierige Kombinationen geübt, vor sich hin probiert. Er hatte Uberta die Laute durchs Fenster gereicht und sie hatte sie ihm dann wieder zurück gegeben, als er zu ihr hinein geklettert war. Dann die Küche. Dort hatte er die Beeren abgeholt ... da hatte er die Laute auf dem Rücken gehabt – und da er es so sehr gewohnt war, sie mit sich herum zu tragen, und weil die Laute für ihn kein Gewicht darstellte, hatte er sie nicht mehr wahrgenommen.

Vielleicht lag sie in der Backstube bei Peppina? Ihre Unterhaltung war nur kurz gewesen, er hatte nur dagestanden, geredet, zugehört. Es hatte keinen Grund gegeben, das Instrument dort vom Rücken zu nehmen. Oder vielleicht doch, gleich zu Beginn - nachdem er die Eimer mit den Beeren auf die steinerne Ablage gestellt hatte? Peppina wollte, dass er ihr half, erinnerte er sich. Hatte er vielleicht im ersten Moment doch den Impuls verspürt, ihr beim Teigkneten zur Hand zu gehen und es deshalb irgendwo abgelegt? Und wenn es noch bei der Tür an der Wand lehnte? Oder er hatte die Laute neben die Eimer gelegt ... Nein, daran würde er sich erinnern. Er hatte eine Kelle Wasser getrunken, dann war er gegangen. Er musste sie also noch auf dem Rücken gehabt haben, als er zum Schwalbentor hinunter ging!

Ja. Das war es. Sie war am Schwalbentor zurück geblieben! Eine heiße Welle senkte sich in seinen Kopf und durchlief den Körper bis in die Fußsohlen, als er sich plötzlich erinnerte. Er hatte das Instrument vom Rücken genommen, weil es bei jeder geringsten Bewegung an der Wand entlang geschabt war und ein Geräusch verursacht hatte! Unter dem ersten Fenster war es gewesen, zwischen dem Kellarium und dem angrenzenden Empfangsraum. Er hatte sie hinter der alten Zypresse im Schatten an die Wand gelehnt, weil sie gestört hatte und man ihn nicht hören durfte. Dass die Laute dort hinter der Zypresse versteckt war, hatte er bereits in dem Moment vergessen gehabt, als die Mädchen in den zweiten Raum hinüber gingen und er ihnen bis ans nächste Fenster folgte.

Was, wenn jemand sie gefunden hatte? Alle im Kloster kannten ihn mit dem Instrument, man würde sofort wissen, dass er dort gewesen war! Peppina und Uberta hatten gewusst, dass er bei der Obstwiese erwartet wurde und beide Frauen würden bestätigen können, dass er ungefähr zu der Zeit am Schwalbentor und Kellarium vorbei gekommen sein musste, als Maria und Orazia dort die neuen Novizinnen empfingen. Was es war, das ihn zu den Fenstern gelockt hatte, würde sich also von selbst erklären. Es war nicht zu leugnen.

Und wenn es so war, dachte er trotzig. War das denn wirklich so schlimm? Wenn er dort gelauscht und dann seine Laute vergessen hatte - was konnte ihm passieren, außer dass man ihn rügte ... und dass Uberta böse auf ihn sein würde, weil er sich trotz Ermahnung bei den Mädchen herum getrieben hatte? Er war jung! Er war knapp erwachsen und irgendwo in ihm steckte noch der unvernünftige und neugierige Welpe, der er in den letzten Jahren gewesen war - immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen und Abwechslung! Würde man ihm das nicht nachsehen? Ein letztes Mal vielleicht?

Uberta hatte ihn heute Mittag ausdrücklich gewarnt. Und es war nicht so, dass er es sich nicht zu Herzen genommen hatte, er hatte verstanden, was sie ihm sagen wollte! Er könnte sich entschuldigen und beteuern, dass er nun wirklich vorsichtiger und vernünftiger sein würde, ab sofort!

Oh, er wusste um seine Wirkung auf Frauen, auch, wenn er nicht ganz verstand, warum das so war. Und auch bei manchem Mann musste er sich vorsehen, bei ihnen ganz besonders, weil sie zumeist nicht so zurückhaltend waren wie die Mädchen und Frauen, wenn sie mit ihm allein waren. Aber es ging um viel mehr als um sein Studium im Kloster und einen allgemeinen Frieden, den er hier stören konnte, das wurde ihm bei näherer Betrachtung der Sache bewusst.

Er hatte den Zopf des Mädchens an sich genommen. Und es waren nur vier gewesen, die dort am Fenster gelegen hatten. Es musste aufgefallen sein, dass einer fehlte. Je nachdem, wer die Zöpfe eingesammelt hatte, konnte nebenbei auch bemerkt worden sein, dass nicht irgendein Zopf fehlte, sondern der des rothaarigen Mädchens. Dieser Zopf war unter den anderen aufgefallen, und die Besitzerin war ausgerechnet dieses eine Mädchen, das Orazia nicht mochte. Wenn er Pech hatte, würde man sich dafür interessieren, warum es ausgerechnet ihr Zopf war, den er mitgenommen hatte!

Er seufzte in das Dunkel seiner Kammer hinein. Warum waren die Dinge nur immer so kompliziert! In dem Moment, als es ihm in den Sinn gekommen war, mit dem Zopf wegzulaufen, hatte er nicht überlegt, wie man es später deuten würde. Er war davon ausgegangen, dass man sicher nicht ausgerechnet ihn verdächtigen würde. Genauso gut hätte es irgendjemand sein können, es gab noch einige andere männliche Studenten und Arbeiter auf dem Klostergelände, wenn auch nicht sehr viele – oder er konnte einfach von der Fensterbank gerutscht und draußen ins hohe Gras gefallen sein!

Außerdem nahm man die Frauenhaare als Kissenfüllung und zum Schärfen der Nähnadeln, sie wurden eingesammelt und weiterverwendet. Wen scherte es also, ob es diesmal ein Zopf mehr oder weniger war? Neue Anwärterinnen kamen das ganze Jahr hindurch ins Kloster, es würde bis zum Winter noch mehr Haare geben, und auch die Nonnen schoren ihre nachwachsenden Haare regelmäßig und sammelten sie ein.

Also gut, seufzte er halblaut. Er musste die Laute holen. Es war besser, jeden Verdacht und jedes Missverständnis zu vermeiden und dafür noch einmal hinüber zu laufen, um es schnell zu erledigen. Er hatte sowieso nicht schlafen können, seine Unruhe nach dem heutigen Tag wollte sich einfach nicht legen. Ein kleiner Nachtausflug würde ihm vielleicht helfen, seine Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen.

Mit einem entschlossenen Ruck stand er von seinem Bett auf. In der Dunkelheit griff er nach seiner Hose und schlüpfte hinein, dann angelte er nach dem weiten Hemd, das über der Stuhllehne hing, warf es aber nach kurzer Überlegung auf den Stuhl zurück und huschte aus dem Raum.

Im Haus war es still, seine Mutter schlief bereits. Er nahm den Hinterausgang, schloss vorsichtig und leise die Tür hinter sich, lief durch den Gemüsegarten und tauchte dahinter in die Schatten der Gassen ein. Er wählte den Weg über den Hang und hielt sich nach einigen hundert Metern auf dem steilen Bereich, weit oberhalb des Weges, der hinunter in die Ebene führte. Nun ging es auf schrägem Grund an der Außenseite der Klostermauer entlang. Zweimal rutschte er mit den Füßen im taufeuchten Gras aus, bevor er das niedrige Stück Mauer erreichte.

Hier neben dem Schwalbentor kletterte er seit Jahren zu den Klostergebäuden hinüber. Hier hatte Orazia ihn erwischt. Um ganz sicher zu gehen, schlich er sich am Tor vorbei und wählte eine Stelle, an der die Mauer zwar bereits wieder höher war, aber zugleich auch entfernt genug von Orazias kleinem Haus lag.

Die alte Pförtnerin war sehr hellhörig und biss zu wie ein römischer Kampfhund. Er hatte buchstäblich keine Ambitionen, ihr heute Nacht zu begegnen und damit schon wieder einen neuen und weiteren Verdacht auf sich zu ziehen. Wenn er die Laute unentdeckt heraus holen konnte, war sein Fehler wieder gut gemacht. Fehlten noch die Schuhe, die immer noch auf dem Dach der Novizenschule lagen, aber die konnte er auch morgen holen.

Er kannte diese Mauer im Schlaf. Er wartete einen Moment ab, bis der Mond von Wolkenschleiern bedeckt war. Seine Füße fanden jeden einzelnen Vorsprung ohne Zögern; im Nu war er oben und schwang ein Bein hinüber. Auf der Innenseite gab es wenig Halt für Füße und Hände, seit man die Mauer nachgebessert hatte. Da er hier weit genug entfernt von Orazias kleiner Wohnstätte war, konnte er sich einen Sprung leisten. Er stieß sich ab, schwang die Beine in einem Bogen nach vorn, balancierte sich im Flug aus – und landete wie eine Katze auf allen Vieren, geschmeidig und leise.

Dann lief er über die freie Fläche und zum Kellarium hinüber. Im Dunkel der Wand, gleich neben dem ersten Fenster des Empfangsraumes, stand die alte Zypresse. Er mochte ihren starken, würzigen Duft. Die weichen und fedrigen Zweige strichen kühl über seinen Rücken, als er sich vorbeugte. Hier musste die Laute irgendwo sein ... Aber da war nichts. Seine Hand griff ins Leere. Er tastete die Wand noch einmal ab, diesmal etwas tiefer, aber vergeblich. Sie musste hier sein!

Er war so zuversichtlich gewesen, dass er sie hier finden würde! Nun wusste er nicht, was er tun sollte. Er kniete sich in die Nische zwischen Wand und Zypresse, beugte sich weit vor und streckte den Arm aus, um die Erde entlang der Wand abzutasten. Vielleicht war sie umgefallen und lag nun am Boden! Aber auch hier: nichts.

Er schob sich rückwärts aus der engen Lücke heraus und kam wieder auf die Füße. Der scharfe Duft der Zypresse lenkte ihn ab, irgendwo schrie ein Kauz. Er stand im Schatten der Mauer, das Mondlicht beleuchtete die Wand nur schwach. Orazias Haus, das gleich neben dem Tor in die Mauer eingefügt war, stand dort hinten im Halbdunkel. Wenn sie ans Fenster treten würde, konnte sie ihn sehen, zumindest, wenn er sich bewegte. Gut, dass er sein helles Hemd zuhause gelassen hatte.

Es gab hier kein Versteck für ihn, also bemühte er sich ganz still zu stehen. Er musste nachdenken, sich konzentrieren. Was, wenn er sich schlichtweg irrte? Er hatte vielleicht die Situation am Fenster nur falsch erinnert, hatte die Laute hier gar nicht hinter der Zypresse an die Wand gelehnt, sondern es nur vorgehabt – oder er hatte es wohl getan - und dann die Laute aber noch gegriffen, als er mit dem Zopf weggelaufen war. Oder jemand hatte die Laute hier gefunden und ... sie mitgenommen.

Es machte keinen Sinn, er durfte sich nichts vormachen. Das Letztere war geschehen. Und es war genau das, was er befürchtet hatte und was er nicht gebrauchen konnte.

Würde man seine Jungenstreiche noch für unwesentlich und belanglos halten, jetzt, wo er so gereift war? Die Zeiten hatten sich geändert, er war längst nicht mehr entschuldigt. Mittlerweile ging es in seinem Leben um ganz andere und wichtigere Dinge als harmlose Späße oder kindliche Unbedachtheiten. Er wollte nicht als Unruhestifter gelten! Man hatte ihn hier freundlich, geradezu liebevoll aufgenommen und ihm wunderbare Möglichkeiten geschenkt, Möglichkeiten, die er draußen in der Welt nicht hatte. Wenn er bald dort hinaus ging, dann wollte er vorbereitet sein. Er hatte noch zu lernen! Er war noch nicht soweit.

Mehr als drei Jahre hatte man ihn nun die Schriften über Heilkräuter studieren lassen; er hatte wertvolle Erfahrungen im Krankentrakt, im Kräutergarten und bei der Herstellung von Medizin gewonnen und eine gute und geduldige Anleitung in Schwester Anna gefunden. Mittlerweile erlaubte man ihm den Zugang zu allen Aufzeichnungen über Anatomie, sogar einige wertvolle und noch unter der Hand gehandelte Druckexemplare eines Meisters der Wissenschaften, Leonardo da Vinci, besaß dieses Kloster. So nannten sie den Künstler und Gelehrten hier, da er aus Vinci bei Florenz kam. Sein richtiger Name war Leonardo di ser Piero, er hatte ihn sich ehrfurchtsvoll eingeprägt. In den letzten Jahren hatte man nichts mehr von ihm gehört; man sagte, er sei alt geworden und würde sich verstecken, da man ihn wegen seiner bahnbrechenden Erkenntnisse für einen Ketzer hielt. Oh, er verehrte ihn glühend und hätte sich gewünscht, einige Jahrzehnte früher geboren zu sein, um seine Schule besucht zu haben. Als sein Schüler wäre er glücklich gewesen, er hätte den Ehrgeiz gehabt, Leonardos Werk weiter zu führen, es in diese unwissende Welt zu bringen!

Die Aufzeichnungen des vielseitigen Meisters, die er hier im Kloster als Kopie in Händen gehalten hatte, galten bisher nur unter ganz wenigen Medizinern als die akkuratesten und detailliertesten, die in ganz Italien erhältlich waren; das Geheimnis, das Verbotene, das sie umgab, faszinierte ihn. Leonardo war Maler, Erfinder und zugleich ein Universalgelehrter und Anatom. Seine Ausarbeitungen stellten die gängigen Abbildungen des menschlichen Körpers dermaßen radikal in Frage und korrigierten sie, so dass die medizinische Welt mit Abwehr und Ignoranz reagierte und weiter die alten Vorstellungen zum Maßstab nahm.

Dieses kleine Kloster beherbergte wertvolle Abzüge der Schriften und Zeichnungen des Meisters, und man hatte ihn Nützliches draus lernen lassen! Und so viel hatte er verstanden: Es war brisant, seine anatomischen Skizzen ernst zu nehmen, denn man richtete sich dabei längst nicht nur gegen das, was die Lehre über den menschlichen Körper allgemein ausmachte, man griff  damit auch die Kirche und die Inhalte der Bibel an. Leonardo war deswegen zum Papst geordert worden, sagte man. Er sollte erklären, wie er zu der Aussage kam, dass er jeden Winkel im menschlichen Körper gesehen und genau aufgezeichnet und doch die Seele nicht gefunden hatte. Man raunte, er habe sogar erklären wollen, es sei gar keine Seele im Körper zu finden! Solche Dinge zu behaupten galt als Blasphemie, darauf stand der Tod. Darum wurden Leonardos Zeichnungen versteckt und nur unter der Hand herum gereicht. Wie viele gedruckt worden waren und wie oft - und auch, wo man sie verwahrte - darüber munkelte man nur hinter der vorgehaltenen Hand. Dennoch sollte der Meister noch leben und frei sein; aber über den Handel, den er mit der Kirche gemacht haben musste, war nirgends auch nur ein Wort bekannt geworden.

Oh, wenn er ihn treffen könnte, nur ein einziges Mal! Aber das war wohl unmöglich. Also musste er dankbar sein, dass ausgerechnet dieses unbedeutende Kloster einige der Zeichnungen und Ausarbeitungen Leonardos in einer der hintersten Ecken der Bibliothek verwahrte. Wahrscheinlich hatte er diesen Umstand Annas frei denkendem Geist zu verdanken - bisher hatte er nicht gewagt sie zu fragen, weil er damit auch seine unerlaubten Aufenthalte in der Bibliothek hätte zugeben müssen.

Und sein Singen ... wie liebte er den Unterricht! Nein, er war hier noch längst nicht fertig. Camilla schulte seine Stimme und meinte, es sei eine Schande, dass er nicht ins Kloster nach Rom ging, um mit seinem Gesangsvermögen den Herrn zu preisen. Sie hatte ihm geholfen, seine Notenkenntnisse noch zu erweitern, und ihn zu einem hervorragenden Sänger und Lautenspieler gemacht.

Ein Kauz rief und schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Er konnte hier nicht länger an der Mauer herum stehen, er musste verschwinden. Die Laute war nicht mehr da, er brauchte nicht weiter zu suchen. Sicher würde man ihn morgen zur Rede stellen. Dazu war er auch nicht mehr auf die Obstwiese gekommen, wie man ihm aufgetragen hatte ...Er konnte heute Nacht nur eines tun: sich eine gute Ausrede einfallen lassen – oder sich Gedanken machen, wie er die Wahrheit möglichst charmant und freundlich darstellen konnte, damit sie einigermaßen harmlos und belanglos klang.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr das Erlebnis am Fenster ihm den Kopf verdreht hatte. Dieser Zopf war es wert, dass er in Schwierigkeiten war! Mochte morgen kommen, was wollte, er konnte unmöglich zugeben, dass er nicht nur am Fenster gelauscht, sondern auch den Zopf mitgenommen hatte! Er würde sich etwas einfallen lassen, aber den Zopf würde er weder heraus geben, noch würde er zugeben, ihn gestohlen zu haben, das entschied er hier und jetzt. Er sah sich in alle Richtungen um, horchte in die Nacht hinein - und als er nichts hörte, lief er geduckt zur Mauer zurück.

Die Vorsprünge zum Klettern fehlten auf dieser Seite, daher nahm er Anlauf, sprang gegen die Mauer in der besten Höhe, die er erreichen konnte, umklammerte mit den Händen die obere Kante und schwang sich hoch. Mit sechzehn Jahren war es ihm zum ersten Mal gelungen, weil seine Arme kräftiger geworden waren. Dann hatte er es regelmäßig geübt, um besser und sicherer zu werden. Heute Nacht zeigte sich, wofür es gut gewesen war! Schnell war er auf die andere Seite hinüber gelangt und kletterte dort wieder hinunter. Wenigstens hatte die alte Orazia ihn nicht gesehen, das hätte diesem Tag noch den letzten Tritt versetzt! Es war genug Aufregung für heute.

Er setzte sich in Trab und sah zu, dass er nun schnell nach Hause kam. In seiner Kammer lag der Zopf, er hatte ihn dort. Welch ein Gedanke! Er hatte das eigenartige Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Seltsam, dachte er, als er bemerkte, wie es in seiner Brust zog und schmerzte, wenn er an sie dachte, an ihre Stimme und daran, dass es tatsächlich ihre Haare waren, die er nun berühren konnte. Das schmerzliche und dennoch beinahe süße Ziehen füllte ihm Körper, Herz und Gedanken so sehr, dass in diesem Moment nichts anderes mehr in ihm Platz fand, er genoss es irgendwie. Es kam nicht von dem Sprung oder dem Klettern an der Mauer oder dem vielen Laufen, es war im Grunde gar kein körperlicher Schmerz, es ging ihm gut. Der Schmerz, dieses Ziehen war da, weil er an diese langen, glänzenden und leuchtend roten Haare dachte. An die Haare – und an alles, was dazu gehörte.

Wie weich und glatt und schwer der Zopf sich auf seiner Haut angefühlt hatte, als er in seinem Hemd steckte und er damit nach Hause lief! Als das Mädchen mit der Haube den ersten Zopf ans Fenster brachte, hatte er sich eine Sekunde lang gefragt, ob diese Haare noch warm waren von ihrer Trägerin. Er wollte sie berühren, um es heraus zu finden, war dann aber unterbrochen worden ... Und als er dann den roten Zopf unter dem Hemd im Laufen an seine Brust drückte, hatte er es gespürt: Die Wärme war noch da gewesen.

Die letzte Wärme dieser Haare, bevor sie kalt wurden, hatte er in sich aufgenommen. Ein seltsamer, vibrierender Gedanke! Es hatte etwas Geheimes und sehr Persönliches, es war kostbar und beinahe verboten. Es war ein Zauber, der nur ein einziges Mal geschehen konnte und danach niemals mehr: dieser Rest von Wärme in diesen Haaren. Von ihrem Körper zu seinem.

Er hatte ihre Haare! Haare waren Freiheit und Stolz und Glück. Und ihre ganz besonders! Weil sie fallen mussten als Geste ihrer Unfreiheit, als Zeichen für den Verlust ihres Glücks und ihrer Möglichkeiten. Und dafür, dass man ihren Stolz brach.

Er hatte ihre Freiheit in seinen Händen, an seinem Herzen. Er war ihr Hüter und Bewahrer! Plötzlich verspürte er das Bedürfnis ihr zu sagen, dass ihre Freiheit nicht ganz verloren war. Sie war in guten Händen.

Als würde jede Sekunde, die er nicht bei ihren Haaren war, reine Verschwendung von Leben sein, beeilte er sich und seine Beine flogen über das Pflaster der Gassen, ohne dass die Füße noch den Boden berührten. Er fühlte sich großartig, unüberwindbar – so als sei etwas in ihm aufgegangen an diesem Tag. Aus der sperrigen Schale seiner Jugend, aus dem dichten, spröden Kern war sein eigentliches kraftvolles und leidenschaftliches Wesen gekeimt. Sein Leben war bedeutungslos gewesen, bis er sie singen gehört und zum Hüter ihrer Haare geworden war. Jetzt fühlte er sich stark und frei. Er war ein Mann geworden. Er war erwachsen.

Ende 40. Teil

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