(8/5) Riss im Weltbild

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Zu Beginn seines zweiten Besuches in Valerios Haus hatte Magnus so vieles noch nicht gewusst. So hatte er gestern noch keine Vorstellung davon gehabt, woher seine Verletzungen stammten. Die wenigen Bilder in seinem Kopf hatten ihm zwar eine ungefähre Vorstellung des Ausmaßes vermittelt - aber sie hatten ihm nichts darüber verraten, was tatsächlich geschehen war. Inzwischen war auch diese Frage beantwortet.

Hier standen sie nun im Schein des fünfarmigen Leuchters an der Treppe, die nach unten in die Halle führte. Die Zugluft ließ die Kerzenflammen beinahe ausgehen, sie züngelten waagerecht von den Dochten weg. Während Valerio eine der Fackeln am Leuchter entzündete, starrte Magnus in die Schwärze hinunter. Er nahm den feuchten Modergeruch des Wassers wahr, spürte die Höhe und Geräumigkeit der Halle unter ihnen. Im Fackelschein wurde nun auch ein Teil der abgetretenen steinernen Stufen sichtbar, die ins Dunkel hinab führten. Bei der Vorstellung, dass er hier in völliger Dunkelheit hinunter gestürzt sein sollte, erschauderte er. Sein Fuß hatte sich nach etlichen Metern im schmiedeeisernen Geländer verfangen, Valerio hatte es ihm beschrieben. Die Wucht, mit der sein Körper mitten im Fall gestoppt worden war, musste sich mit entsetzlicher Hebelkraft auf den im Geländer gefangenen Knöchel übertragen haben.

Als er Valerio nach ihrer Ankunft in der letzten Nacht diese Treppe hinauf gefolgt war, waren ihm die dunklen Flecken auf den Stufen gar nicht aufgefallen - sicher, weil er zu diesem Zeitpunkt nicht damit rechnete, dass es Blut sein konnte. Sein Blut. Nun aber, da sie mit dem Leuchter und der Fackel zur Halle hinab schritten, sah er die großen bräunlichen Flecken auf dem Stein, dazu Spuren dunkler Rinnsale, die über mehrere Stufen gelaufen waren. Es mussten wahre Lachen gewesen sein! Acht bis zehn Meter weiter unten war es, wo er den größten Fleck entdeckte: Er begann am Geländer und erstreckte sich bis über die Mitte der Stufe hinaus.

Magnus warf einen Seitenblick zu Valerio hinüber. Er hatte den Eindruck, dass dieser dasselbe dachte wie er selbst, als sie die Stelle überschritten. Sein Gesicht war ernst und blass, die Lippen fest verschlossen, die Augen funkelten im Schein der Fackel. Sein Zögern war spürbar, beinahe sah es aus, als würde er anhalten. Für eine Sekunde begegneten ihre Blicke einander; aber er blieb stumm, nahm die nächste Stufe und Magnus folgte ihm. Es gab keinen Zweifel: Er musste seine unausgesprochene Frage aufgefangen haben.

Als sie die letzte Stufe erreichten, blieb Valerio stehen. Er rückte die Kiste auf seinem Arm zurecht; unschlüssig wanderte sein Blick durch die im Halbdunkeln liegende Halle, dann fand er wieder zurück und blieb an Magnus' Gesicht hängen. Sein Seufzen klang, als müsste er mit sich ringen, die Augen unter den dunklen Brauen wurden schmal. "Deine Frage. Sprich sie aus." Die samtene Stimme hallte von den Wänden vielfach flüsternd wider.

Magnus fühlte sich hin und her gerissen. Er zögerte. Er wollte ihm nicht zu nahe treten. Er dachte an den emotionalen Ausbruch Valerios, als dieser davon gesprochen hatte, wie sehr er unter dem Tier litt, das er war. Und was es ihn kostete, es unter Kontrolle zu halten. Als ihm bewusst wurde, dass er seine Frage erwartete, nahm er seinen Mut zusammen und tastete sich vor. Er fürchtete den Hall hier unten. Valerios Stimme hatte eben etwas Gespenstisches gehabt ... So waren seine Worte kaum mehr als ein Flüstern, als könnten sie Dämonen wecken. Die des Widerhalls in diesem Haus - und vor allem die, die in Valerio selbst lauerten. Was wusste er schon darüber, was ihn reizen konnte, was das Tier in ihm hervor lockte! Er hatte Angst, ihn nach dem Blut zu fragen.

 "Wie gehst du mit solchen ... Situationen um", brachte er schließlich heraus, "ich meine ... Ich war schwer verletzt und bewusstlos. Ich war absolut hilflos. Und überall war ... mein Blut."

Er sah das dünne Lächeln, das Valerios Mundwinkel umspielte. Die Augen blieben ernst.

"Du hast mich von der Treppe geholt, hast mich getragen." Er sprach jetzt leiser, vorsichtiger. Zu sehr befürchtete er, ihm nun vielleicht Bilder zu geben, die etwas in ihm auslösten. Und wenn es so war - er konnte es aber nicht verhindern! Er musste seine Frage stellen, vielleicht enthielt sie den Schlüssel zu dem, was er wissen wollte. "Mein Blut, es war ... an deinem Hals", fuhr er zögernd fort. "An deinen Händen und Armen. Dein Hemd, es war ... getränkt, ich habe gesehen, wie es an dir klebte."

"Genug", unterbrach Valerio ihn. "Ich weiß, was du sagen willst." Das Licht der Fackel zuckte in seinen Augen. "Eine interessante Frage." Noch immer sprach er mit ruhiger Stimme, sein Lächeln hatte sich jedoch bei Magnus' Beschreibung verflüchtigt. "Interessant - aber die Antwort muss warten. Für jetzt sollte dir genügen: Ich trinke nicht uneingeladen. Nicht mehr. Wie ich es dir schon sagte." Sein Ton wurde plötzlich härter, die Halle warf den Klang seiner Worte zurück. "Und ob du es glauben magst oder nicht: Ich betrachte solche Situationen durchaus differenziert. Ich kenne Not und Leid. Und Mitgefühl." Er sah ihn herausfordernd an. "Ist deine Frage damit beantwortet?"

Nachdenklich nickte Magnus. Es war noch nicht das, was er hören wollte. Auch wenn ihm gar nicht wohl dabei war, setzte er seinen waghalsigen Versuch fort. "Du bist in einer solchen Situation so konsequent, so beherrscht? Du ... hast das so sehr unter Kontrolle, dass ich selbst in diesem hilflosen Zustand, in dem ich war, nichts durch dich zu fürchten hatte?"

Valerio hob erstaunt die Augenbrauen. "Du scheinst davon auszugehen, dass es keine berauschende Erfahrung wäre, sondern etwas, das ... zu fürchten ist?" Sein Lachen hallte vielstimmig von den Wänden wider. "Hast du eine Ahnung!" In seinen Augen blitzte Belustigung auf. "Du weißt nicht, was du willst, nicht wahr?"

"Wie meinst du das?" Valerios Worte verwirrten ihn.

"Du wolltest wissen, wie es ist - dieser Rausch, das Wilde, das Blut. Das Begehren. All diese Dinge. Weißt du noch? Erst vorhin hattest du danach gefragt. Oder sagen wir, du wolltest fragen."
Sein wissendes Lächeln behagte Magnus nicht.
"Du suchst nach Möglichkeiten für dich selbst. Glaubst du ernsthaft, du kannst hier an einem Bungee-Seil und mit Sicherheitsleine einen Sprung wagen, um zu erfahren, wie es ist, sich kopfüber von einem Hochhaus zu stürzen - zu fliegen wie ein Adler? Zu strahlen wie Sonnenfeuer?" Seine Stimme enthielt plötzlich etwas Scharfes. Das Echo schwoll gespenstisch an und füllte die Halle, die Flammen des Leuchters zuckten in den Spiegeln und schickten unruhige Lichtreflexe über den nassen Boden. "Glaubst du, ich weiß nicht, was deine eigentliche Frage ist?" Ablehnend schüttelte er den Kopf. "Werde ehrlich, Magnus. Ich bin deine Unaufrichtigkeit, deine Feigheit und dein Misstrauen leid."

Er wandte sich ab. "Du bist nicht bereit!" Das Echo seiner melodischen Stimme sang zwischen Wänden und Decke. Mit energischen Schritten ging er voraus und Magnus folgte ihm mit schlechtem Gewissen, beeindruckt von seiner Rede.

"Ich bin ein Medicus", rief Valerio, während sie die Halle durchquerten und er hinter ihm her stolperte. "Ich denke nicht an Ernährung oder an meine persönliche Lust, während ich ein Leben rette." Er lachte rau. Das Echo seiner Stimme erklang schaurig, als ob viele mit ihm mitlachten. "Und nein, Magnus, auch an allen folgenden Tagen habe ich dich in Ruhe gelassen! Du wärst tot, wenn ich mich hier bedient hätte. Oder wir wären jetzt in den Schatten der Nacht unterwegs, um deinen Durst zu stillen." In seinen Worten lag unerträgliche Bitterkeit. Eilig  versuchte Magnus mit ihm Schritt zu halten. Valerio redete sich in Rage, er schien ernsthaft enttäuscht von ihm zu sein. "Aber warum sage ich dir das wieder und wieder", warf er über die Schulter zurück. "Du hörst nicht zu! Du vertraust mir nicht! Dabei beweise ich es durch mein Tun die ganze Zeit bereits." Er stieß ein wütendes Knurren aus. "Du bist so ... entsetzlich blind!"

Magnus'  Füße platschten durch das wenige Wasser, das den Boden bedeckte. Er hatte Valerio keuchend eingeholt und lief nun neben ihm her. "Du hast mich falsch verstanden", verteidigte er sich und hatte den Eindruck, das Echo verspottete ihn. "Ich möchte doch nur wissen, warum dich mein Blut nicht deine Beherrschung gekostet hat! Ist das keine berechtigte Frage? Ich ... Ich hätte mich nicht wehren können! Ich hätte nicht einmal gewusst, was geschieht! Wer weiß - vielleicht hätte ich nicht einmal etwas gespürt, ich ... Ich war ja kaum bei Bewusstsein!"

"Ich habe deinen Zustand nicht ausgenutzt", fauchte Valerio und ging noch schneller. "Ich habe dir dein Leben gerettet."

Magnus musste darauf achten, dass er auf der Schlammschicht, die sich unter der dünnen Wasserfläche befand, nicht ausrutschte. Er gab nicht auf. "Gut. Dann wird es so gewesen sein. Aber ... du willst mir doch sicher nicht erklären, dass es genügt, wenn sich ein Vampir eines Tages vornimmt, seine Gier nach Blut zu zügeln, seine Impulse zu unterdrücken und sein Verhalten vollständig zu verändern. Was ist es? Wie schafft man das? Ein guter Vorsatz, ein starker Wille etwa? Genügt das denn? Normalweltliche Disziplin wird es wohl kaum gewesen sein."

"Wein, Weintrauben, Rosinen. Es ist ein besonderer Stoff darin", erklärte Valerio knapp. Er sah ihn nicht an. Er schien nicht mit ihm reden zu wollen.

Sie erreichten das andere Ende der Halle. Hier war der Boden trocken. Mit dem Ellenbogen stemmte er eine mit Nägeln beschlagene Tür auf.

Magnus ließ nicht locker. "Wein, Rosinen ... und was noch? Das ist doch nicht alles?"

"Nein, das ist nicht alles." Valerio drückte die Tür mit der Schulter weiter auf und trat hindurch. Magnus folgte ihm.

Sie befanden sich in einer winzigen Kammer, die kaum breiter war als der Gang im ersten Stock. Valerio steckte die Fackel in eine Halterung in der Wand, ließ die Kiste auf den Boden gleiten und legte das Päckchen mit dem Zopf sorgsam darauf ab. Er streifte ihn mit einem strengen Blick; grob nahm er ihm den Leuchter aus der Hand und stellte ihn auf einem Fass ab. Seine Laute fand einen Platz an der Wand, ebenso wie der Stapel mit der Kleidung, den Magnus ihm eifrig reichte, als er danach verlangte. Es war deutlich: Er bemühte sich, seine Wut zu zügeln. Als er sprach, wirkte er müde.
"Biete einem Vampir eine Tüte Rosinen und ein Glas Wein an - oder zwei oder drei - und er wird dich nicht laufen lassen, bis er mit dir fertig ist."

"Aber du machst es doch ebenso? Es wirkt doch auch bei dir!"

Valerio schüttelte resigniert den Kopf. Seine Geduld schien am Ende zu sein.  "Es gehört weitaus mehr dazu, sich zu entwöhnen, Magnus. Man wechselt nicht einfach Blut gegen Wein auf einer Speisekarte."

"Aber wie? Wie ist es möglich, dass das funktioniert?"

Valerio hatte eine Klappe in der Wand geöffnet. Dahinter befand sich ein großes Ofenloch, in das er nun Feuerholz schichtete, das er von einem großen Stapel an der Wand nahm. "Ich habe zweiundvierzig Jahre gebraucht, um hinter das Geheimnis des Blutes zu kommen", erklärte er. Ich habe nachgedacht, beobachtet und experimentiert, habe unzählige Versuche unternommen und mehrfach den eigenen Tod riskiert. Es war der Versuch einer Umgewöhnung, einer Veränderung des Organismus über einen langen Zeitraum. Ich habe nicht aufgegeben." Er griff in einen Sack, der neben der Luke stand, stopfte Hände voll trockener Späne zwischen die Scheite. "Bis es schließlich funktionierte."

"Mit Weintrauben, Rosinen und Wein", sagte Magnus nachdenklich. "Das ist ... genial."

Mit einem Knall warf Valerio die Klappe zu, wirbelte zu ihm herum, seine Haltung wirkte bedrohlich. Rohe Wut funkelte in seinen Augen, seine Stimme füllte den Raum. "Du, Magnus Weber, möchtest doch gar nichts von meinen Erfahrungen wissen. Mein Leid interessiert dich nicht! Hör auf mit deiner Unaufrichtigkeit! Das ist die Art, wie ihr unter der Kuppel eures Weltbildes miteinander umgeht. Ihr nehmt voneinander, was euch Nutzen bringt, ihr fragt nicht nach den Folgen für euch selbst oder andere. Verschone mich mit solchen Verhältnissen!"

Magnus schluckte. Unsicher trat er von einem Bein aufs andere, er verspürte den Impuls zu flüchten.

Plötzlich war Valerio still. Er neigte den Kopf zur Seite, nur ein wenig, aber Magnus lief es eiskalt den Rücken herunter. Er fixierte ihn so intensiv, dass ihm schwindelig wurde. Dann sprach er, leise und ruhig. Wenn seine Stimme auch in ihrer verführerischen Sanftheit schnurrte, war doch die Gefahr darin spürbar.

"Du erhältst ein ewiges Leben, gigantisches Wissen und phantastische Erkenntnisse. Ein Bewusstsein, das auf weiten Schwingen durch das Universum reist. Macht in Form tödlicher Kräfte, wirksame Möglichkeiten der Manipulation. Eine Aura, die  Andere vor dir zittern lässt und die dir Frauen und Männer zu Willen macht. Und all dies zum Preis einer Tüte Rosinen und einer Flasche Wein?" Er kam näher. "Das ... glaubst du also." Er lachte leise. "Ein Allmachtstraum weltlicher Männer, nicht wahr? Keine Nachteile, keine Verantwortung. Und so billig." Die letzten Worte waren nur mehr ein Flüstern gewesen. Das Kinn gesenkt, die Augen auf Magnus' Gesicht geheftet, machte er einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er war ein Panther, unmittelbar vor dem Sprung, gespannt bis zum Äußersten.

Magnus wich zurück. Sein Herz schlug hart gegen das Brustbein. Beinahe sprengte der Puls seinen Hals.

"Wirst du Tierblut trinken? Rohes Fleisch essen?" Valerios Worte waren tief und rau. "Dir menschliche Spender organisieren? Und jede Stunde deines ewigen Daseins damit rechnen, dass man dich verrät?"

Er war nun ganz nahe, streckte den Arm nach ihm aus. Magnus erstarrte, er konnte sich nicht rühren, als Valerios Hand sich auf seine Brust legte. Entsetzt rang er nach Luft, er konnte plötzlich nicht mehr atmen. In seinen Lungen flammte Feuer auf , er spürte sein Herz, als wäre es mit einer Faust umklammert, es begann zu schmerzen und Panik erfüllte ihn ... Mit weiten Augen starrte er ihn an. Die Wand drückte in seinem Rücken. Der Boden schwankte unter ihm und löste sich auf, Valerios Hand auf seinem Herzen brannte kalt. Er war hilflos ausgeliefert.

"Spüre, wie dein Herz flattert und zittert. Wie eine Maus, wenn die Eule ihre Jagd beginnt." In Valerios Stimme schwang eine bizarre Mischung aus Bedrohung und Sinnlichkeit. "Ich sehe ... deine Angst ist grenzenlos, bereits jetzt. Aber dies ist nur ein Bruchteil der Kraft, die du bändigen willst. Mit welchen Mitteln, Magnus, sollte dir das gelingen? Was bringst du mit, um eine derartige Herausforderung zu meistern?" Sein Lächeln war hypnotisch, die Augen schön und kalt wie eine letzte dunkle Winternacht vor dem Ende der Welt. Er ergriff sein zitterndes Kinn, hielt es eisern fest, Magnus konnte seinem Blick nicht ausweichen.
In Valerios Gesicht spiegelte sich auf einmal Bedauern und eine tiefe Traurigkeit. "Wenn du bereits an deinem kleinen menschlichen Leben scheiterst", flüsterte er, "an den alltäglichen Fragen und Problemen, an deinen kleinen menschlichen Ängsten - wie willst du die größeren Fragen in einer größeren Welt für dich klären, Magnus? Wie willst du größere Ängste bewältigen, größere Aufgaben meistern - und das Tausendfache einer Einsamkeit überstehen, an deren schwächster Form du bereits jetzt zugrunde gehst?"

Magnus hatte Mühe zu antworten. Sein Verteidigungsversuch klang jämmerlich. Mühsam presste er die Worte hervor. "Ich ... habe bereits einiges durchgestanden! Ich bin nicht schwach! Meine Schwester ... sie ist tot. Giulia hat mich verlassen. Meine ... Mutter spricht nicht mehr mit mir. Sie ignoriert mich, behandelt mich, als gäbe es mich nicht." Er wand sich, versuchte aus Valerios Griff zu entkommen. "Aber hier bin ich, und ... ich lebe! Ich lasse mich nicht so schnell erschüttern!"

Valerios Gesicht war über ihm, er sprach jetzt sanft an seinem Ohr. "Du weinst einer einzelnen Frau hinterher, deren Weg sich von deinem trennt, weil sie ohne dich glücklicher ist als mit dir. Du bis ein Egozentriker. Das ist keine Liebe, das ist Haben-wollen. Lass sie frei. Jeder zweite Mensch auf dieser Welt ist eine Frau und das Leben muss gelebt werden. Aber du weinst wie ein Kind, das nicht über den Tellerrand seiner kleinen Welt blicken kann. Du leidest. Du stirbst. Weil du den Anker, die Kette nicht lösen kannst. Die Glieder deiner Kette sind aus Ängsten und falschen Bedürfnissen geschmiedet, aus Süchten und Abhängigkeiten, die du selbst ins Leben gerufen hast. Du verstehst nichts von Freiheit, Magnus. Du durchschaust nicht einmal deine eigene enge Welt. Dein Gefängnis."

Er ließ von ihm ab und trat einen Schritt zurück. "Du wirst nicht größere Welten betreten, solange du dich ängstlich und unsicher in deiner eigenen bewegst. Ich hätte jede Verantwortung für dich. Du kannst dich mir so nicht zumuten."

Valerio wandte sich wieder dem Ofen zu, er öffnete die Klappe, die er wütend zugeschlagen hatte. Er nahm die Fackel aus der Wandhalterung und stieß sie an die Späne.

Magnus sackte hinter ihm auf den Boden, seine Beine trugen ihn nicht mehr. "Ich weiß, dass ich ein erbärmlicher Haufen Elend bin", brachte er leise hervor. Seine Worte waren kaum zu verstehen. Er weinte. "Ich habe Angst vor meiner Angst. Ich hasse meine Lügen. Mein Weltbild hat mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun, es dient meiner Feigheit und schützt mich davor, hinsehen zu müssen. Ich ... weiß das alles. Ich schäme mich dafür."

Valerio hielt inne. Er stand bewegungslos, die Fackel entzündete Holz und Späne, er überließ sie dem Feuer. Er rührte sich nicht. Er hörte zu.

"Ich weiß, dass ich eine Lüge lebe", fuhr Magnus mit zitternder Stimme fort. "Wir alle, die meisten von uns, leben diese Lüge." Er musste an Lena denken. Lena war anders, sie machte da nicht mit. Er holte tief Luft. "Wir ... wir glauben an Material. An Geld und Maschinen, an Verträge, und Regeln, an Beweise, an Wissenschaft." Er lachte bitter auf. "Oh ja, Wissenschaft ist gut, sie ist nützlich, aber sie erklärt nicht alles! Wir meinen, wir sind heute frei von Aberglauben und dumpfer Religion, aber das ist eine Lüge. Unser Gott ist die Wissenschaft - und die Wissenschaft ... das sind wir! Das Produkt unseres eigenen Kopfes ist es, was uns beherrscht!" Er wusste, er klang verzweifelt, aber er wollte, dass es endlich ausgesprochen wurde; alles, was er dachte und fühlte, brach auf einmal haltlos durch die Oberfläche seiner verkrusteten Welt. "Wir, Valerio, sind unser eigener Gott! Und das bedeutet, dass wir bestimmen, was real ist!" Er schrie nun beinahe. "Es ist so ... entsetzlich. Es macht mir mehr Angst als jeder erweiterte Horizont, mit dem ich mich konfrontieren könnte. Wir ... wir haben jeden Kontakt zur Wahrheit verloren." Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Du hast gesagt, Wahrheit wird nicht gemacht, sie ist ! Und du hast Recht! Es ist Irrsinn, dass wir unsere eigene Wahrheit machen und sie für die Welt halten! Aber wie kann ich an der Welt, wie sie tatsächlich ist, Anschluss finden, wie kann ich sie berühren, mich berühren lassen, wenn ... wenn alle in meinem Umfeld dieses enge, falsche und angstbesetzte Weltbild haben und daran festhalten wollen?"

Langsam drehte Valerio sich zu ihm um. Hinter ihm rauschte das Feuer im Ofen. "Indem du loslässt, was dir falsch erscheint." Er ging die zwei Schritte zu ihm hinüber, reichte ihm seine Hand und zog ihn vom Boden hoch. "Und indem du lernst, wieder deinem Bauchgefühl zu vertrauen. Dies verlangt aber, dass du aufhörst, nach faulen Kompromissen für dich und deine Umgebung zu suchen. Kompromisse gibt es hier nicht."

Magnus wischte seine tränennassen Hände an der Hose ab. Seine Stimme bebte. "Ja ... das klingt gut. Aber es ist nicht so leicht."

"Was ist schon leicht? Als ich erkannte, dass Rocco meiner Entwicklung im Weg war, dass er mich falsche Dinge lehrte, dass er mich zurück hielt, mich begrenzte und meine Zeit mit ihm also vorbei war, weinte ich. Und ging einer so viel besseren und reicheren Zeit entgegen. Sie lag bereits vor meiner Nase, doch das konnte ich in diesem Moment noch nicht erkennen." Er schlug ihm mit der flachen Hand gegen den Oberarm. "Vertrauen heißt das Wort, na komm schon." Die Sanftheit in seiner Stimme tat Magnus gut. "Mach deine Schritte. Verliere keine Zeit." Er betrachtete ihn nachdenklich.
Magnus wusste nichts mehr zu sagen, sein Kopf war leer, er war auf einmal entsetzlich müde. Valerios Frage kam überraschend.

"Was kann man tun, wenn man mit sich selbst oder einer Sache nicht weiterkommt?"

Er wusste, das war die Frage, die sie in Valerios Raum erörtert hatten. Aber er hatte keine Ahnung, was er hier nun hören wollte.

Verwundert schüttelte Valerio den Kopf. "Wo ist nur dein Geist, Magnus", fragte er leise. "Wir hatten doch darüber gesprochen. Deine Mutter weiß es besser. Man badet."

Er ging zu der schmalen Tür hinüber, die sich neben dem Stapel mit dem Feuerholz befand, stieß sie auf und bat Magnus mit einer Kopfbewegung hinein. "Komm. Das Wasser wird gleich heiß sein."

Ende Teil 61

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