4 ▪ Zuversicht und Dämmerung

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Meine Lektion: Madison Asriel konnte mich also nicht nur hänseln, sondern auch beamen und Adriane Ludwigs sanftes Gemüt war in Wahrheit ein Quell der Apokalypsen. Zweifellos beschwörte Bailey mit heidnischen Gebeten Dämonen herauf, wenn ihr langweilig war. Hobbys wie zocken und lesen waren den Untoten augenscheinlich zu lahm.

Am Abend war die Großstadt ein Paradies aus Lichtern. Ich kannte die schattige Erhebung nicht, auf der wir uns befanden, aber sie bot ein fantastisches Panorama auf die weit entfernte Skyline, die in ihrer goldenen und türkisen Pracht erstrahlte. Über der Golden Gate Bridge glühte die Dämmerung und ließ die Meerenge schillern wie... Ach, diese Beschreibung wird zu romantisch für meinen Geschmack.

Zum ersten Mal seit gefühlten Jahren- dabei war es maximal eine dreiviertel Stunde gewesen- schleppten sich meine Gedanken nicht dahin wie unter Sedierung. Ich durchforstete im Geiste den Ozean aus Wolkenkratzern, bis ich abseits des Stadtgewimmels die Position einer weißen Marmorvilla ausgemacht hatte. Bei der Vorstellung, wie meine Abuelos mit einem Tee auf ihrem Balkon saßen und den Sonnenuntergang beobachteten, gefror mein Magen zu einem Eisklumpen. Die Sonne schwebte feurig am Horizont wie ein Kaiser auf seinem Thron und ahnte wohl selbst nicht, dass bald eine kolossale Macht ihr den Garaus machen würde. 

Madison rammte mir den Ellenbogen in die Taille, was mir ein Geräusch entlockte wie eine Möwe beim valentinstaglichen Liebesakt. ,,Was guckst du so geistesabwesend? Zum Hügel geht's da lang".
,,N-Nichts", stammelte ich überzeugend, ,,Ich habe nur darüber nachgedacht... Ist Bailey ein Junge oder ein Mädchen?"

Das war nicht völlig gelogen. Voodoopuppen schienen keine biologischen Merkmale wie Menschen zu haben, wodurch ich sie/ ihn unbewusst die ganze Zeit als beides betrachtet hatte. (Auch wenn dem so wäre, würde ich Bailey nicht unter der Gürtellinie begutachten, weil ich ein stattlicher junger Mann war und auf Intimsphäre achtete.) Aus Baileys Stimme konnte ich ebenfalls nichts ableiten, denn zu krähen wie verrostete Scharniere war für kein Geschlecht üblich.

Dramatisches Schweigen setzte ein. Bailey starrte so verkrampft auf eine limettengrüne Stecknadel in ihrem/seinem Oberschenkel, dass ihr/ihm vor geistiger Anstrengung sicherlich gleich der Kopf platzen musste- ach, ich hatte doch auch keine Ahnung, was jetzt die richtigen Pronomen waren. ,,Nun, ich bin Bailey", sagte die Puppe.

Ich vermied es, unhöflich zu glotzen, aber das war nicht die standardisierte Antwort auf eine solche Frage.
,,Äh... Hast du mich verstanden?", hakte ich nach und warf einen hilfesuchenden Blick zu Madison, die meinen peinlichen Auftritt voll auskostete. Beide Gesichtshälften grinsten höhnisch.
,,Nicht wirklich. Wiederhol das bitte in Gebärdensprache", entgegnete Bailey und klopfte sich auf die Stellen, wo die Ohren hätten sein sollen.

Mit diesem Anflug von Humor hatte ich nicht gerechnet. Aber es klang nicht so, als würde ich Bailey auf den Keks gehen und im nächsten Augenblick mit einem schwarzen Zauber verhext werden, von daher hakte ich munter nach: ,,Also bist du weder männlich noch weiblich? Beides?"
,,Hmmm. Ich kann mich bis heute nicht entscheiden. Aber ich denke, beides zu sein, trifft es am besten. Sag zu mir ,sie' oder ,er', ist mir schnulli". Über Baileys gekreuzten Augen kräuselte sich das Garn. ,,Obwohl, eigentlich nicht. Mach es wechselweise, sonst fühle ich mich unwohl".

Ich beließ es dabei. Vielleicht war das so ein Voodoopuppen-Dings, ähnlich wie schnulli als Synonym für egal zu verwenden. Weil ich nach wie vor ein stattlicher junger Mann war, würde ich auch auf ein Geschlecht außerhalb der Normen Rücksicht nehmen. Etwas sagte mir außerdem, dass mir sonst die Kastration mit einer Kettensäge bevorstünde, denn anders als die Abneigung zwischen uns schien Madisons Aversion gegenüber dem gehäkelten Zwerg stets sarkastisch zu sein. Ich wollte sie nicht dahin provozieren, es unter Beweis zu stellen.

,,Darf Connor dich trotzdem Dussel nennen?", fragte Madison, die das Gehäuse ihrer Mordwaffe am Pullover polierte.
,,Damit bin ich einverstanden", antwortete Bailey.

Danach entschied unsere diabolische Anführerin, dass wir uns in zwei Teams aufteilten, um auf verschiedenen Routen das Ziel zu erklimmen. (Mir war klar, dass sie Bailey und vor allem mich einfach loshaben wollte.)
Sie leierte herunter, wie wir zum Mount Davidson gelangten und dabei idealerweise eine Menge Schaden anrichteten, und wäre mir San Francisco nicht vertraut, hätte ich schon dabei versagt, mir die erste Rechtsabbiegung einzuprägen.

Bei jemandem, der einem so schnell so viel Information einprügelte, mochte man denken, dass dabei viel Gestikulation im Spiel war. Bei Madison nicht. Musste sie ihren kaum sichtbaren Bestand an Emotionen irgendwie ausdrücken, fummelte sie an ihrer Kleidung oder dem Holzfäller-Accessoire herum, mal nervös, mal gewaltvoll. Aber bei ihrem letzten Satz streckte sie von Tatendrang überwältigt die linke Hand aus und traf damit nicht gerade sachte das Nirvana-Logo auf zwei Beinen, Baileys Gesicht.

Die Puppe quietschte wie Autoreifen beim Bremsen. ,,Au! Du hast mir die Nase gebrochen!"
,,Idiot", feixte Madison, ,,Du hast gar keine Knochen!"
,,Es hat trotzdem geknackt!", heulte er.
,,Meine Güte, wenn du keinen Weihrauch schnupfen kannst, jammerst du vielleicht nicht mehr so viel". Was für eine umständliche Entschuldigung.

Das Mädchen seufzte. Ihr Hijab wellte sich im pfeifenden Wind wie diese krassen Monstedünen in Sandwüsten bei Sturm, nur in Miniatur. ,,Kümmer du dich um den Schwerverletzten, Connor. Geht den Weg, den ich euch beschrieben habe".
,,Ich bin gar nicht schwer!", protestierte Bailey und rüttelte an ihren wolligen Speckröllchen wie eine beschwingte Yoga-Mutti.
,,Bis nachher", murmelte Madison und nickte mir zu, als hätte sie gar ein Fünkchen Vertrauen in mich gesetzt. Sie wandte sich ab und stiefelte durch knirschende Schneereste hinter das nächste Gebüsch.
,,Bis Baldrian!", schmiss ihr Bailey nach.

Dann marschierten er und ich in die andere Richtung. Auf dem Weg ängstigten wir Kinder mit Tüten voller Süßigkeiten, flirtende Liebhaber und sogar deren Hunde und schwupps, schon waren wir am Mount Davidson angelangt. Guter Witz, nicht?
Die Realität war, dass wir nach ein paar Minuten nicht mal richtig von der Startposition weggekommen waren. Beim Wandern war Bailey eine Bürde. Er wackelte unkoordiniert herum, flog wegen jedem noch so winzigen Stein hin und war insgesamt so schnell wie eine Rollator benutzende Schnecke. Die durch die Avenues rauschenden Autos schienen uns auszulachen.

Ich fröstelte ohne Jacke bei diesen frühlingshaften Temperaturen. Das machte die elend beschissene Situation noch dreifach beschissener. Um mich nicht zusammenzurollen wie ein Embryo und weinend am Waldrand zu verkümmern, brach in ein Gespräch vom Zaun.

,,Weil es mir gerade einfällt: Welche Beziehung hast du zu Madison? Seid ihr Freunde oder Arbeitskollegen oder zusammen in einem Gothic-Fanclub?"
,,Wir sind alles davon", sagte die Puppe. ,,Das war allerdings keineswegs so, als wir beide in San Franciscos Totenheime eingezogen sind". Er presste sich die Hand an das nicht definierbare Kinn, wie um die Tränen zurückzudrängen.

,,Am Anfang gab es blankes Drama! Eine Muslima und ein okkultes Lebewesen haben sich leider nicht vertragen. Wir waren Rivalen vom Dienst, haben die Nachbarschaft permanent mit unseren Streits unterhalten und uns gegenseitig die Abflussrohre verstopft. Irgendwann gab es einen so derben Streit, dass daraus Freundschaft wurde".
Das klang nach Miguel und mir, nur dass unserer lieblichen Kameradschaft keine schicksalhafte Begegnung zugrunde lag, sondern alleinig der schwerwiegende Fehler unserer Eltern, auf Verhütung zu verzichten.

,,Also schlagt ihr euch nicht mehr die Köpfe ein, weil sich die Existenz eurer höheren Wesen gegenseitig ausschließt? Oder... auch nicht?"
Die Puppe taumelte eine weniger elegante Pirouette als Señora Ludwig. Die Grazie eines Pandirs traf es besser, aber zumindest kippte Bailey nicht schon wieder um. ,,Madison hat mir versichert, dass Allah bei mir eine Ausnahme macht. Ich glaube, dass das kein Scherz war".

Ich war den Umgang mit zynischen Personen gewöhnt, aber Madison stellte jede davon in den Schatten. Wenn sie den kleinen nicht-binären Kerl tatsächlich gern haben sollte, ließ sie es sich geschickt nicht anmerken.
Bailey las mir die nächste Frage wohl vom Gesicht ab. ,,So eine harte Nuss wie heute ist sie eigentlich gar nicht. Wenn wir zum Beispiel gemeinsam Angeln mit Handgranaten machen, ist es zwischen uns tip top". Sie drosselte ihren tapsigen Schritt noch stärker, was nicht nötig gewesen wäre. ,,Ich schätze, der letzte Einsatz an diesem Ort hat ihr die Laune verdorben".

Meine gerunzelte Stirn animierte Bailey dazu, ausführlicher zu werden. ,,Vor ein paar Monaten hat Madison bei einer Mission in San Francisco ein Artefakt verloren und nie wieder gefunden. Es war ein magischer Stein, der ihr geholfen hat, ihre Fähigkeiten zu entwickeln".
Mal wieder verstand ich nur Bahnhof, doch Bailey schüchterte das nicht ein. Er machte für ein paar Sekunden eine Pause im Sitzen, rappelte sich auf und fuhr fort: ,,Madison kann durch die Dunkelheit reisen, wie vorhin. Schattenwandeln, wie es genannt wird, ist eine charakteristische Eigenschaft von Ghulen. Der Stein hat ihr geholfen, diese Kraft zu bündeln. Er war nicht nur mächtig, sondern auch eine Augenweide; azurblau und an einer silbernen Kette befestigt".

Fast wäre ich über einen Maulwurfshügel gestolpert. Ich sog scharf die Luft ein, Kälte schnitt in meine Zähne.
,,Huch. Musst du niesen?", fragte Bailey, vor dem ich meine entrüstete Mimik nicht verbergen konnte.
,,Quatsch, Quatsch", grunzte ich. Es war beschämend, dermaßen überwältigt zu sein. Ich mochte diesen kehligen Tonfall nicht. Er ließ sich nicht kaschieren und mich nicht gerade lässig wirken. ,,Hat Madison noch so ein Artefakt?"

,,Nope", antwortete Bailey. ,,Mittlerweile kann sie das Schattenwandeln ohne einen Unterstützer. Der Stein bedeutete ihr trotzdem viel und sie wird nicht gerne an den Verlust erinnert".
Vermutlich waren es meine Blutbahnen in dem mickrigen Versuch, mich vor der Milde des Februars zu schützen, aber mir jagten warme Schauer über das Rückgrat. Gegen das Puzzle, das sich nun in meinem Kopf zusammenfügte, war selbst die Entdeckung von Zombies in Lilhuddy-Merch zum Gähnen.

,,Funktioniert der verschollene denn noch?", fragte ich flehend.
Bailey kratzte sich an einer Naht am Kinn, die bereits ausfranste. Mit etwas Pech konnte sie sich durch diese Taktik eines Tages selbst in Fetzen reißen. ,,Wenn er nicht zerstört ist, jep. Die Magie des Steins findet immer zu ihrem Partner. Wenn er jedoch von diesem getrennt ist, meinte Madison, ist er nicht kontrollierbar und es kann bei der Reise zu einer Verzerrung von Raum und Zeit kommen. Wie genau das funktioniert, habe ich bis heute nicht geschnallt".

Bailey murmelte grüblerisch vor sich hin, als versuche er, die korrekten Formeln zurück in sein Gedächtnis zu befördern. Was es auch war, es misslang dem Plüschmännchen, zumal sich unter dem schwarzen Garn eh kein Denkapparat befinden dürfte. ,,Ich glaube, es hat mit Magie zu tun. Und Physik. Pah, das kann sich ja auch keiner merken!"
Gewagte Worte dafür, dass mein Physiklehrer mich suspendiert hätte, wenn er von mir erzählt bekäme, dass ein normaler Schmuckstein einen auf Zeitreise schicken könne.

,,Also wäre, wäre es möglich, dass ein Fremder das verlorene Amulett findet, versehentlich berührt und dann mit einer Verschiebung von ein paar Monaten bei Madison landet? Rein hypothetisch?", bohrte ich nach.
Bailey patschte die bauschigen Hände gegeneinander. ,,Exacto! Du lernst schnell".

Ein Brocken löste sich von meiner inneren Mauer aus Verzweiflung, die jegliche Hoffnung blockiert hatte. Was, wenn ich mein rätselhaftes Auftauchen durch den Auslöser auch rückgängig machen konnte? Wenn meine Vermutung stimmte, brauchte ich dafür ein spezielles Steinchen, das zu unkalkulierbarer Hexerei imstande war- und ein bisschen Ablenkung, um zu ihm zu gelangen.
,,Erzähl mir mehr über deinen Glauben", bat ich Bailey. ,,Wie bist du eigentlich, wie drücke ich das am respektvollsten aus, entstanden? Mit einem Ritual?"

Durch Schlammschlachten im Internet hatte ich gelernt, dass man sehr tief in Diskussionen über Religion versinken und dabei alles ausblenden konnte, das außerhalb des eigenen Tellerrands lag. Ein genialeres Ablenkungsmanöver gab es nicht.
,,Connor, du bist ein Geschenk. Dass sich die Jugend für unsere Bräuche interessiert, ehrt mich", zwitscherte Bailey und faselte drauf los.

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