37 | E M M A

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Wassertropfen treffen auf das Glas und perlen langsam daran ab. Angestrengt verfolge ich jeden Einzelnen. Es beruhigt mich, lenkt mich ab von dem, was mir bevorsteht.

»Keine Sorge, du Angsthase. Die beißen nicht«, meint Tom grinsend, ohne seine Augen von der Straße zu nehmen.

»Ich hab keine Angst.« Ich habe mich wirklich gefreut, dass wir mal wieder etwas unternehmen. Bis zu dem Zeitpunkt, als er mir eröffnet hat, womit er mich diesmal überraschen möchte. »Und ich bin auch kein Angsthase. Nur um das mal klarzustellen«, betone ich und umklammere den Blumenstrauß in meiner Hand. Wenn ich schon an einem Tag, der in Amerika das Familienfest ist, einfach in ein fremdes Haus platze und mich durchfresse, will ich wenigstens nicht mit leeren Händen kommen.

Tom lacht und am liebsten würde ich ihn dafür töten. Dabei bin ich froh, dass er wieder der Alte ist. Gesprochen haben mir über den Vorfall nicht mehr. Ich will ihn nicht bedrängen. Jeder hat seine eigene Art mit Problemen umzugehen und das ist nun mal seine.

»Ist deine Familie eigentlich groß?«

Er verzieht die Lippen. »Ein paar Leute sind es schon, aber sie werden nicht alle da sein.«

»Schön.« Obwohl ich am liebsten schreiend aus dem Fenster springen möchte, lächele ich. Ich kenne diese Menschen doch gar nicht, aber Tom ist ein liebenswerter Mensch. Wieso sollte seine Familie also anders sein? Von wegen der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und so.

Kurz darauf verlassen wir den Highway und landen in Claremont vor einem großen Haus mit beiger Holzvertäfelung. Vor allem die Veranda mit Vordach, zu der drei Treppenstufen führen, gibt ihm dem typisch amerikanischen Charme, den ich so mag. In Deutschland sieht man einen Betonklotz nach dem anderen. Auch in Beverly Hills findet diese Bauweise immer mehr Anhänger. Dieses Haus hat eine Seele. Bereits von außen strahlt es Gemütlichkeit aus mit seinen großen weißen Sprossenfenstern und den kleinen Dachgauben.

Tom legt seinen rechten Unterarm hinter die Kopfstütze meines Sitzes und parkt rückwärts vor der Doppelgarage ein. Im Gegensatz zu sonst, trägt er ein hellblaues Hemd zu seiner Bluejeans und den Sneakern. Es steht ihm und sieht auf keinen Fall schnöselig aus. Was daran liegen könnte, dass er es nicht bis oben zugeknöpft und die Ärmel hochgekrempelt hat. Von diesem Tattoo sehe ich allerdings nicht viel außer das Y von Day, dem Wort, was ich ja schon entziffern konnte.

Innerlich seufze ich. Es interessiert mich immer noch, was es damit auf sich hat. Fragen möchte ich ihn jedoch nicht. Schließlich ist mir nicht entgangen, dass wir noch eine Gemeinsamkeit haben.

»Darf ich bitten, Miss?«

Überrascht sehe ich in sein grinsendes Gesicht. Während mein Verstand mich anschreit, dass es noch nicht zu spät ist, um wegzulaufen, hält Tom mir die Tür auf. Noch nie habe ich einen Mann kennengelernt, der so aufmerksam ist, ohne dabei aufdringlich zu sein. Auch wenn ich das Gegenteil behauptet habe – Anstand hat er. Wahrscheinlich war das der verzweifelte Versuch zu kontern, nachdem er mir auf den Kopf zugesagt hat, dass ich - wie war sein Wortlaut gleich? ›Einen Stock im Arsch habe‹. Und ja. Er hat leider nicht ganz unrecht damit.

Ich versuche zwar, dagegen anzukommen, aber die Stimme in meinem Kopf wird von Tag zu Tag lauter. Jene, die mir sagt, dass das Leben an Johns Seite mich verändert hat. Dennoch kann ich nichts daran ändern. Nett lächeln und winken ist eben einfacher, als sich mit dem, was um einen herum schiefläuft, auseinanderzusetzen.

»Sicher«, erwidere ich, ehe ich mich dazu zwinge auszusteigen. Mit zaghaften Schritten folge ich ihm und kralle mich dabei erneut an dem Blumenstrauß fest.

Vor der Tür angekommen, betrachte ich das bunte Schild. Es sieht aus, als wäre es selbstgemacht. Family is where life begins and love never ends. Ein warmes Gefühl überkommt mich, aber auch Neid auf diese perfekte Familie, die ich nicht haben durfte.

»Stimmt was nicht?«

Ich zucke zusammen. »Doch doch. Alles supi.« Als ich merke, dass er schmunzelt, lächle ich ihn peinlich berührt an. »Sorry. Manchmal merkt man wohl doch, von wo ich komme.« Gerade in Situationen wie diesen neige ich dazu, deutsch und englisch zu vermischen.

Er schenkt mir wieder dieses schiefe Lächeln, das mich irgendwann noch wahnsinnig macht. Genauso wie seine Grübchen, auf die ich mich nicht konzentrieren sollte, wenn ich den Hauch einer Chance haben will, diesem Mann zu widerstehen. »Mach dich nur lustig über mich«, meckere ich und verschränke die Arme vor der Brust.

»Wenn du so rumzickst, macht es gleich noch mehr Spaß dich zu ärgern. Weißt du das eigentlich?«

Für einen Moment vergesse ich sogar, wo wir uns befinden. »Ich bin überhaupt nicht zickig!«, wehre ich mich und gebe ihm einen Schubs.

»Doch bist du. Hast du selbst zugegeben.« Breit grinsend tippt er mir auf die Nase, ehe sich die Tür öffnet.

»Wie schön, dass du da bist, mein Junge«, sagt die zierliche Frau mit den blonden Haaren, die von ein paar grauen Strähnen durchzogen werden. Ganz besonders fallen mir ihre warmen braunen Augen auf. Sie glänzen richtig, während sie Tom in die Wange kneift.

Jetzt grinse ich. Irgendwie ist es süß, wie sie sich freut, ihren Sohn zu sehen.

Leider scheint der das anders zu sehen. »Mom.« Tom nimmt stöhnend ihre Hand von seinem Gesicht. »Ich hab doch gesagt, du sollst das endlich mal lassen. Ich bin schon zu alt dafür.«

Seine Abwehrhaltung scheint die blonde Frau mit der Blümchenschürze keineswegs zu stören. »Was denn? Du wirst immer mein kleiner Tommy bleiben. Egal, wie alt du bist«, sagt sie mit einem schiefen Lächeln, das mich an seins erinnert. Genauso wie die kleinen Grübchen, die sich neben ihren Mundwinkeln abzeichnen.

Tommy! Wie süß!

Sein lautes Stöhnen verrät mir, dass er da anderer Meinung ist. »Verstehst du jetzt, wieso ich selten herkomme?«, fragt er mich, nachdem er sich zu mir umgedreht hat und verzieht das Gesicht. Dabei sollte er dankbar sein.

Misses Davis räuspert sich auffällig laut. »Das habe ich gehört, junger Mann!« Sie lacht und gibt ihm einen sanften Schlag auf den Oberarm. Wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen muss. Seine Größe hat er jedenfalls nicht von ihr. Dafür aber die humorvolle und gleichzeitig liebevolle Art.

Von dieser bekomme ich kurz darauf eine kleine Kostprobe. »Und du musst Emma sein. Wie schön dich endlich kennenzulernen.«

Endlich? Das klingt so, als ob sie schon sehnsüchtig darauf gewartet hat.

Verwundert reiche ich ihr die Hand. »Ich freue mich auch Sie kennen zu lernen, Misses Davis. Vielen Dank für die ...«

Ich bin so perplex, als sie ihre Arme ausbreitet und mich zu sich zieht, dass ich nichts mehr sagen kann. »Linda«, flüstert sie mir ins Ohr.

Nur langsam gebe ich meine Schockstarre auf. »Oh äh ... ja, Emma«, wiederhole ich unnötigerweise, löse mich mit einem Räuspern von ihr und halte ihr den Strauß entgegen. »Die sind für dich.«

Meine kleine Geste scheint sie zu freuen. »Die sind wirklich wunderschön. Danke.« Sie schnuppert an den Blumen, drückt sie dann jedoch ihrem Sohn in die Hand. »Ach, herrje! Der Truthahn!«

Während Linda durch den Flur eilt, schüttelt Tom grinsend den Kopf. »Darf ich vorstellen?« Er streckt seine Hand aus. »Meine Mutter. Fällt über jeden her wie eine Herde wildgewordener Büffel, ist aber ansonsten ganz harmlos.«

»Ich liebe dich auch, du Frechdachs!«, kommt es aus dem Inneren des Hauses amüsiert.

Seltsam, dass es sie gar nicht stört, wenn er solche Kommentare von sich gibt. Ich hätte dafür ...

Ach, hör doch auf zu jammern! Du hast doch immer alles gehabt!

»Alles okay?«, fragt Tom und durchbohrt mich mal wieder mit seinem Blick.

»Klar.« Ich könnte mich ohrfeigen. Ausgerechnet dieses Wort muss ich benutzen. »Wir ... sollten vielleicht reingehen.« Ich lache und höre mich dabei eher an wie eine hysterische Kuh. »Oder feiert ihr Thanksgiving immer im Vorgarten?«

»Nein.« Er verzieht die Lippen. Das macht er öfters, wenn er nachdenkt.

Ich sollte definitiv vorsichtiger sein. Sonst kann ich mir gleich ein Schild mit der Aufschrift ›Schlechte Kindheit‹ um den Hals hängen.

»Hey! Kein Grund nervös zu sein. Du wirst es überleben«, sagt er mit dieser sanften Stimme, die ich so liebe und legt seine Hand auf meinen Oberarm. »Muss ich ja auch.«

Wieso er? Wenn der Rest seiner Familie nur ansatzweise so herzlich ist wie seine Mutter, hat er doch gar nichts zu befürchten. Ich nicke und folge ihm.

Bereits im Eingangsbereich hängen überall Bilder. Meist sind es Kinderfotos. Auf einem entdecke ich ein Mädchen. Ihre nassen langen Haare kleben auf ihrem Rücken. Hinter ihr laufen zwei Jungen. Ein Blonder, den ich minimal jünger schätze und ein Kleinerer mit dunklen Haaren. Er lacht ausgelassen und rennt dem Mädchen mit der Wasserpistole hinterher.

»Bist du das?«, frage ich Tom und deute auf den kleinen Wirbelwind, dessen Lachen ich förmlich hören kann.

»Hmm ...«

Auch wenn er nicht den Anschein macht, als würde er diese Konversation weiterführen wollen, lächle ich. »Süß«, stelle ich fest und bekomme dafür ein Augenrollen.

»Sag das mal meiner Schwester.«

»Und das? Ist dann dein Bruder, oder?«, löchere ich ihn weiter und deute auf den blonden Jungen, der sich nicht nur wegen des Aussehens von ihnen unterscheidet.

Diesmal nickt Tom nur mit zusammengepressten Lippen.

Falsches Thema, Emma, warnt mich mein Verstand, aber da ich manchmal einfach dumm bin, frage ich ihn, ob ich die beiden heute auch kennenlernen werde.

»Sophia, also meine Schwester wird mit ihrer Familie schon da sein und mein Bruder, der kommt heute nicht. Ist leider verhindert.«

»Oh. Das ist aber schade«, sage ich und bekomme dafür von Tom ein Schulterzucken.

Wirklich traurig scheint er nicht zu sein. Zumal er seinen Bruder nicht mal namentlich erwähnt hat. Dabei sehen die beiden auf einem anderen Bild so aus, als wären sie die besten Freunde.

Seltsam.

Halt dich da raus. Es geht dich nichts an!

Das sollte ich wirklich. Tom geht weiter und führt mich in den großen Wohn- und Essbereich. Auch er ist liebevoll gestaltet mit bunten Kissen und sehr viel Deko. Ganz besonders gefällt mir der Kamin, auf dem ebenfalls Bilder stehen. Die Gesichter darauf kann ich aus der Ferne allerdings nicht erkennen.

Während Linda pfeifend in der offenen Küche in ihrem Element zu sein scheint, kommt eine Frau auf uns zu. Sie hat die gleichen dicken Haare wie Tom. Nur sind sie länger und ihre Locken sind um einiges schöner als meine. Zum Glück habe ich immer ein Haargummi dabei. Ich mag es überhaupt nicht, wenn sie mir beim Essen ins Gesicht fallen.

Genauso wie sie es nie mochte.

»Hey! Ich bin Sophia. Die ältere Schwester von diesem sturen Esel hier«, meint sie und verpasst ihrem Bruder einen kleinen Schubs, der daraufhin schnaubend mit den Augen rollt.

Früher habe ich mir auch einen Bruder oder eine Schwester gewünscht, wobei ich inzwischen der Meinung bin, dass es besser so ist.

»Willst du mir deine Freundin nicht vorstellen?«, fragt Sophia grinsend und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

»Oh! Das ist ein Missverständnis! Ich bin nicht ...«

»Onkel Tom!« Plötzlich kommt ein kleiner Junge auf uns zugestürmt.

Tom lacht und verliert beinahe das Gleichgewicht, als ihn sein Neffe nahezu anspringt. Dabei könnte er glatt sein Sohn sein. Er hat dieselben vollen Haare, die ihm ins Gesicht fallen. Schöne Augen, die strahlen, während er seine Arme um seinen Onkel schlingt. Sogar die kleinen Grübchen hat er von ihm und dieses helle Lachen.

Tom wuschelt ihm durch die Haare. »Nicht so stürmisch, Sportsfreund.«

Fasziniert von diesem schönen Anblick vergesse ich für einen Moment, wo ich mich befinde und lächle breit.

»Nicht wundern«, schaltet sich Sophia ein, »das geht immer so. Max, also mein Mann ist schon eifersüchtig.«

Schade, dass Tom keine eigenen Kinder hat. Er wäre bestimmt ein toller Vater. »Äh ... ich bin übrigens Emma. Eine Freundin von Tom.«

Sophia lächelt und streckt mir ihre Hand hin. »Schön dich kennenzulernen, Emma«, meint sie und stellt mir ihren Mann Max, sowie ihre beiden Kinder Joshua und Alice vor.

Während Max mir die Hand schüttelt, sind die beiden Kinder nach wie vor beschäftigt. Joshua klebt weiter an Tom und erzählt irgendwas von einem Trick, den er inzwischen genauso gut beherrscht wie sein Onkel. Und Alice ist vertieft in Instagram und Co.

Ein weiterer Mann betritt den Raum. Bis auf die Tatsache, dass seine Haare ergraut sind, scheint Tom die jüngere Ausgabe von ihm zu sein. »Schön dich zu sehen, mein Junge«, begrüßt er seinen Sohn nicht so stürmisch wie Linda.

Aber der hat sowieso nur Augen für die Tür. »Greg«, sagt Tom und verzieht das Gesicht.

Trotz Kaminfeuer ist es von einer Sekunde auf die andere so kalt in diesem Raum, dass ich meine Strickjacke um den Körper wickle.

»Ich freue mich auch dich zu sehen, Bruderherz«, gibt der blonde Mann mit Vollbart nicht minder bissig zurück, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.

Kein Wunder. Er ist schließlich kein Unbekannter.

»Klar.« Tom lächelt so falsch, dass ich mich erschrecke, obwohl mir diese Geste durchaus bekannt vorkommt.

»Schön, dass du es doch noch geschafft hast«, meint Linda, die ihren Sohn umarmt.

Tom murmelt so etwas wie: »Und wie schön das ist.«

Und ich? Ich bin heillos überfordert. Erneut erinnere ich mich an die Gespräche zwischen Doktor Davis und mir. Förmlich angebettelt habe ich ihn, mir den Namen meines Lebensretters zu verraten. Doch er meinte, dass das keine gute Idee wäre. Dennoch bin ich ihm so lange auf die Nerven gegangen, bis er mir den Standort der Wache verraten hat. Der Rest war ein Kinderspiel. Dieser Mister Graham war zwar nicht sonderlich freundlich am Telefon, aber nachdem ich ihm die Situation geschildert hatte, verriet er mir, wann Tom da wäre.

Obwohl ich all das glasklar vor Augen habe, macht es für mich absolut keinen Sinn. Vor allem ein Satz spukt mir im Kopf herum.

»Wer weiß, wozu es gut ist.«

Was meinte er damit? Und wieso macht Tom den Eindruck, als wolle er seinem Bruder am liebsten an die Kehle gehen?

»Miss Schmidt«, begrüßt mich der blonde Mann, ohne mir die Hand zu reichen.

»Ihr kennt euch bereits?« Linda sieht zwischen ihrem älteren Sohn und mir hin und her.

»Flüchtig.« Sein Blick ist immer noch genauso distanziert wie seine Stimme.

»Dann ist ja alles geklärt«, wirft Tom ein und lächelt ihn wieder falsch an.

»Sieht ganz so aus.« Doktor Davis Blick fällt auf meine linke Hand, mit der die Strickjacke umklammere.

Inzwischen ist die Atmosphäre so geladen, dass ein kleiner Funke ausreicht, um eine Explosion zu erzeugen. Ich traue mich nicht mal zu atmen. Räuspernd nehme ich meine Hand hinter den Rücken und richte den Blick auf den Mann neben Toms Bruder, der beherzt das Schweigen bricht.

»Ich bin Juan.«

Und ich bin verwirrt. Also nicht, dass ich das nicht vorher auch gewesen wäre. Dennoch reiche ich ihm meine rechte Hand. »Juan. Etwa wie Don Juan?« Ich lache auf und könnte mich erneut ohrfeigen, als er mich skeptisch ansieht.

»Nein. Ohne Don. Einfach nur Juan.«

»Äh ja ... Emma. Sehr erfreut. Wirklich«, erwidere ich mit hilfesuchendem Blick zu Tom, der damit beschäftigt ist, mit seinem Doktor Davis zu töten.

»Mein Ehemann«, betont dieser, woraufhin Toms Vater, der inzwischen neben Max auf der Couch sitzt, nur verächtlich schnaubt.

Vielleicht ist in dieser Familie doch nicht alles so perfekt, wie ich dachte. Zumindest weiß ich jetzt, dass ich mit meiner Vermutung nicht ganz falschgelegen habe. Denn wenn Toms Bruder homosexuell ist, wieso sollte er es dann nicht auch sein?

Nicht schon wieder!

Lucy kann sagen, was sie will. Ich bleibe dabei. Wieso sollte das Verhältnis zwischen den Brüdern sonst so ganz anders sein, wie das zu Sophia? Doktor Davis weiß bestimmt davon und nimmt es Tom übel, dass er nicht dazu steht.

Ja. Das ergibt Sinn.

Ehe ich mir weiter darüber Gedanken machen kann, ruft Linda uns zu Tisch. Es duftet herrlich und schmeckt genauso.

»Jetzt erzählt doch mal. Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«, fragt sie in die Runde hinein.

»Mom, bitte.« Tom lässt die Gabel in seiner Hand sinken und bedenkt seine Mutter mit einem Lass-es-Blick.

Doch die denkt gar nicht daran. »Was denn? Man wird doch wohl mal fragen dürfen?« Linda zuckt mit den Schultern und schürzt die Lippen, was Tom mit einem leisen Seufzen kommentiert. Inzwischen zerpflückt er den armen Truthahn dermaßen brutal, dass man meinen könnte, er würde ein Hühnchen rupfen.

»Er war mein Retter in der Not«, beschließe ich, ihre Frage zu beantworten. Das Lächeln vergeht mir jedoch, nachdem nicht nur Tom, sondern auch sein Bruder schnaubt.

Linda schaut erst Tom besorgt an, ehe ihr Blick zu mir wandert. »Das tut mir leid. Es muss furchtbar sein, sein zu Hause zu verlieren oder ...« Sie schluckt und lässt den Rest des Satzes in der Luft hängen. Stattdessen erzählt sie von der Hilfseinrichtung für Brandopfer, in der sie ehrenamtlich tätig ist.

»Oh, aber nein«, sage ich, »ich hatte ...«

»Glück im Unglück«, fällt Tom mir ins Wort, bevor er mit den Schultern zuckt und sich seine Stimme wieder senkt. »Sozusagen.«

Komischerweise bin ich nicht die Einzige, die ihn skeptisch ansieht.

»Und wie läuft es bei dir so, Max? Was machen die Aktien?«, fragt Tom, ehe ich dazu komme, das Missverständnis aufzuklären. Auch auf die Gefahr hin, dass Linda mich hasst, aber ich verdiene ihr Mitleid nicht. Toms Hand, die meine unter dem Tisch drückt, hält mich jedoch davon ab.

»Gut. Also der Kurs ist momentan ganz gut«, erwidert Max sichtlich überfordert.

Nach dem Essen zieht Joshua Tom nach draußen, weil er ihm unbedingt etwas zeigen will. Ich nicke kurz. Gerade ist es mir ganz recht, wenn ich alleine bin. Ich strecke die Beine aus und lehne mich im Stuhl zurück. Selbst unter dem Mieder wölbt sich mein Bauch. Wie eine Schwangere streiche ich darüber und stehe dann auf, um zum Kamin zu gehen. Linda hat wirklich jedes erdenkliche Ereignis ihrer Kinder festgehalten. An einem bleibt mein Blick kleben. Dass sein Bruder studiert haben muss, kann ich mir ja denken. Tom mit dieser schwarzen Robe und dem komischen Hut zu sehen, überrascht mich allerdings. Bisher dachte ich, die Ausbildung bei der Feuerwehr würde der, der Armee gleichen. Aber vielleicht irre ich mich auch. Neben ihm steht eine Frau mit langen dunkelbraunen Haaren. Obwohl sie um einiges kleiner ist, hat sie ihren Arm auf Toms Schultern gelegt. Er wirkt glücklich. Richtig gelöst. Ob das die Frau ist, von der er erzählt hat?

Mein Magen grummelt. Überhaupt fühlt er sich an wie ein Stein. Ich schaue von Tom zu dieser Frau. Sie strahlt richtig vor Schönheit. Das Grummeln wird lauter, unangenehmer. Unbemerkt reibe ich über den Bauch, doch mein Magen will sich nicht beruhigen. Wahrscheinlich liegt es einfach daran, dass Lindas Brownies inzwischen zu einem riesigen Hefekloß darin aufgegangen sind und er vom Mieder zerquetscht wird. Da wäre ich auch unzufrieden.

Schnell richte ich meinen Blick zum nächsten Bild, was es auch nicht besser macht. Im Gegenteil. Wie hypnotisiert starre ich den Kettcar an, als mich einzelne Erinnerungsfetzen einholen.

»Mein Tommy hat Autos schon immer geliebt, weißt du? Früher da hat er ...«

Lindas Stimme nehme ich nur am Rand wahr. Ich höre zwar, was sie sagt, schaffe es aber nicht, ihr zu antworten. Mein Herzschlag beschleunigt sich.

»Ist alles in Ordnung, Liebes? Du bist plötzlich so blass«, meint Linda, aber ich will nur noch eins.

Weg.

»Sicher«, bringe ich unter großer Anstrengung hervor, »ich muss nur mal kurz ...«

»Treppe hoch, zweite links.«

»D...danke.«

Oben angekommen, schließe ich schnell die Tür und lasse mich auf dem Toilettendeckel nieder, ehe sich die Fetzen zu einem Film zusammenfügen.

»Das ist meiner! Gib ihn her!«, schreie ich, doch Pascal nimmt schon wieder Anlauf und fährt mir über die Füße. Er wohnt im Nachbarhaus und ärgert mich ständig. Seitdem Mama und Papa mir zu Weihnachten einen Kettcar gekauft haben, ist es richtig schlimm. Auch heute hat er mich sofort runtergeschubst.

»Hol ihn dir doch, du dumme Kuh!« Er streckt mir die Zunge raus und lacht, als ich anfange zu weinen.

Eigentlich will ich das nicht. Mama sagt immer, dass nur dumme Leute weinen. Manchmal haut sie mir auch den Popo, wenn ich es nicht schaffe damit aufzuhören. Dabei strenge ich mich wirklich an. Ich will sie nicht böse machen. Am schlimmsten ist es, wenn sie nicht mit mir redet und ich auch nichts sagen darf. Dann rede ich immer mit meinem Teddy. Papa hat ihn mir geschenkt, als ich noch ganz klein war. Er ist viel lieber als Mama, aber ich sehe ihn nicht so oft. Arbeiten nennt er das. Damit er diese komischen Scheine verdient, die Mama immer im Geschäft abgibt und dafür Essen mitnimmt. Einmal wollte er mit mir tauschen. Einen Schein gegen ganz viele Taler, die ich gesammelt habe. Aber ich bin doch nicht doof. Er gibt mir einen und bekommt dafür von mir ganz viele? Er hat gelacht und mir erklärt, dass er meine Taler braucht, um sie den Leuten, die er durch die Gegend fährt geben zu können. Mit so einem weißen Auto, auf dem ein gelbes Schild ist.

Als Pascal mir noch mal über die Füße fährt, werde ich sauer. »Das geh ich sagen!«, schreie ich und laufe über die Wiese, die hinter unserem großen Haus ist. Ganz viele Leute wohnen da, aber Mama sagt, die sind alle doof.

»Wie siehst du denn schon wieder aus?«, schimpft sie und guckt mich böse an.

»Pascal fährt mir immer ...«

»Dann wehr dich endlich! Oder willst du immer nur rumjammern?«

»Nein, Mama.« Ich sehe auf den Boden in unserem Hausflur und gehe zurück nach draußen, nachdem sie die Tür zugeknallt hat.

»Na, Heulsuse? Da bist du ja wieder!«, sagt Pascal, der immer noch auf meinem Kettcar sitzt.

Aber ich bin keine Heulsuse. Ich will keine sein. Heulsusen sind doof. »Lass mich in Ruhe«, sage ich bockig und setze mich auf die Schaukel.

Aber er hört nicht auf. So ist er immer. »Ohhh ... wo ist denn jetzt deine fette Mutter? Kommt sie mit ihrem Arsch nicht aus dem Sessel?«

»Mama ist nicht fett! Das nimmst du zurück!« Sie kann nichts dafür. Das ist meine Schuld. Sie hat nur so viel Hunger, seitdem ich da bin. Das sagt sie immer, wenn sie mir Bilder von sich zeigt. Auf denen sieht sie so glücklich aus, dass ich mir manchmal wünsche, ich wäre gar nicht da. Dann würde sie bestimmt jetzt noch lachen.

»Und was ist, wenn nicht?«, provoziert er mich weiter und sagt noch ein paar schlimme Wörter, bis ich von der Schaukel abspringe.

Ich gebe mein Bestes, aber er ist einfach zu groß und stark. Immer wieder haut er mich, obwohl ich sage, er soll aufhören. Herr Becker schimpft zwar, dass wir nicht so laut sein sollen, hilft mir aber nicht. Das ist immer so. Keiner hilft mir.

Ich klingle wieder, nachdem ich vor Pascal weglaufen konnte. Ich will einfach nur in mein Zimmer. Zu meinem Teddy.

»Was habe ich dir eben gesagt?«, schreit sie und haut mir den Popo, nachdem sie mich in die Wohnung gezogen hat.

»Nein Mama! Ich bin wieder lieb! Ich verspreche es ...«

Doch alles Betteln hilft nicht. Immer wieder haut sie mir auf den nackten Popo. Es tut so weh, dass ich gar nicht anders kann, als noch mehr zu weinen.

»Ich hab dir doch ... gesagt, du solltest dich wehren! Das hast du jetzt davon! Also hör endlich auf zu heulen!« Wieder haut sie mich. Immer auf dieselbe Stelle.

»Ich hör auf! Bitte!«, flehe ich, aber sie macht weiter. Wäre Papa doch nur hier. Aber dann würde sie ihn auch hauen und das möchte ich nicht.

»Wer nicht hören will, muss fühlen«, sagt sie und ich schwöre mir, dass ich nie wieder weinen werde.

Denn weinen macht nur eins. Aua.

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