9 | E M M A

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Mein Geburtstag war mir noch nie besonders wichtig. Ein Tag wie jeder andere halt. Dieses Jahr ist das anders. Lucy wollte unbedingt meinen Eintritt in den Ü30-Club feiern und ist für ein paar Tage nach Los Angeles gekommen. Ganz spontan hat sie mich gestern angerufen, um mich zu fragen, wann ich sie denn abholen würde. Verstanden, was sie meint, habe ich erst nicht. Manchmal stehe ich eben etwas auf der Leitung. Als ich jedoch begriffen habe, dass sie in ihrem Salon in Frankfurt alles stehen und liegen gelassen hat – für mich – hätte ich vor Freude heulen können. Leider konnte ich ihr deshalb den Wunsch, sich ins Nachtleben von L.A. zu stürzen, auch nicht abschlagen.

Tja ... und hier sitze ich nun, spiele lustlos mit dem Schirmchen in meinem fast leeren Cocktailglas und ärgere mich mal wieder darüber, dass ich es einfach nicht schaffe, ›Nein‹ zu sagen.

Mein Blick wandert zur Tanzfläche. Unzählige schwitzende Körper bewegen sich zu dem Beat, der sich für mich eher wie ein Presslufthammer anhört. Ich seufze. Viel lieber würde ich es mir mit ihr auf der Couch gemütlich machen. Lucy hingegen scheint vollends in ihrem Element zu sein. Und wie immer ist sie dabei nicht allein.

Eigentlich mag ich Musik und liebe es, zu tanzen, wenn man dieses Rumgehüpfe überhaupt so bezeichnen darf. Die vielen fremden Menschen in diesem Club hindern mich jedoch daran. Seit ich denken kann, fühle ich mich unwohl in der Gegenwart anderer. Ganz anders als John. Sobald er einen Raum betritt, kann man seine Anwesenheit förmlich riechen, weil sein Charisma ihm das gibt, was ich niemals besitzen werde.

Selbstbewusstsein.

Ich mache mir nichts vor. Ich war schon immer diejenige, die abends lieber mit einem guten Buch im Bett lag, anstatt die Nächte betrunken in der Disco zu verbringen. Menschen sind nun mal unterschiedlich. Und das ist gut so. Der Eine liebt das Rampenlicht, während der Andere sich lieber in der hintersten Ecke versteckt. Ich gehöre eindeutig zur zweiten Kategorie.

Nachdem Lucy sich von dem blonden Typen gelöst hat, kommt sie tanzend auf mich zu. »Komm schon, Emma! Lass uns ...«

»Was?« Der Lärm ist so penetrant, dass ich sie anbrüllen muss, um mein eigenes Wort zu verstehen.

»Du sollst dich mal locker machen, hab ich gesagt!«, schreit sie mindestens genauso laut und wackelt mit ihrem Hinterteil.

»Ich bin locker, okay?!«, gebe ich mit zugehaltenen Ohren zurück, woraufhin Lucy die Augen verdreht. Sie kennt mich lange genug, um zu wissen, dass ich stur sein kann. Eine Eigenschaft, die mir schon oft geholfen, mich aber auch mindestens genauso viele Male in Schwierigkeiten gebracht hat.

Inzwischen hat sie ihr Glas Bacardi-Cola ausgetrunken. »Komm. Wir verschwinden.« Sie deutet Richtung Ausgang, den ich schon die ganze Zeit sehnsüchtig anvisiere. »Wir finden schon etwas, wo es ruhiger ist.«

Ergeben lasse ich die Schultern sinken und sehe mich in der Menge um. »Wenn es sein muss.« Vielleicht sollte ich mich einfach hemmungslos betrinken. Ich vertrage zwar nicht viel von diesem Teufelszeug, aber es könnte mich zumindest auf andere Gedanken bringen.

Muss ich dich wirklich daran erinnern, wohin das beim letzten Mal geführt hat?

Ich seufze leise. Alkohol ist also keine Option. Aber was dann?

Ehe ich mir die Frage beantworten kann, zieht Lucy mich vom Barhocker. »Hallo?! In ein paar Stunden bist du immerhin dreißig! Das muss gefeiert werden«, meint sie und schiebt mich Richtung Ausgang, nur um mich kurz darauf in eine Bar zu ziehen.

Joe's, lese ich auf dem Schild, bevor wir durch die vertäfelte Holztür treten. Vielleicht hat sie ja recht und es tut mir wirklich gut, wenn ich nicht Trübsal blasend auf der Couch sitze. John ist vor ein paar Tagen nach Washington geflogen. Irgendein wichtiger Geschäftstermin. Um ehrlich zu sein, macht es mich traurig, dass er nicht mal an meinem Geburtstag da ist.

Andererseits ... was habe ich auch erwartet?

In der Bar ist es ebenfalls ziemlich voll. Durch das dunkle Holz der rustikalen Möbel und die Vertäfelungen an den Wänden wirkt es hier drin zwar gedrungen, aber dennoch gemütlich. Auch wenn ich nach wie vor einen ruhigen Abend auf der Couch bevorzugen würde, kann ich mich damit anfreunden hierzubleiben. Besonders gut gefallen mir die kleinen Nischen mit den dunkelroten Lederbänken, die zusammen mit dem schwarz-weiß karierten Linoleumboden an ein typisches Diner erinnern. Alte Messinglampen an der Decke und den Wänden geben dem Ganzen jedoch wieder den typischen Barcharakter und schaffen eine warme Atmosphäre.

Während Lucy mich zur Theke zieht, wandern meine Augen zu dem Billardtisch im hinteren Teil des Raumes, wo sich zwei ältere Männer ein Duell liefern. Wie lange habe ich das schon nicht mehr gespielt?

»Was wollt ihr trinken?«, fragt ein Mann mittleren Alters, der eines der Gläser poliert. Mit den blonden Haaren, die unter seinem Cowboyhut hervorkommen, wirkt er fast ein wenig wie Robert Redford in Der Pferdeflüsterer.

Lucy verdreht die Augen, als ich eine Cola bestelle. Dabei reicht es, wenn einer von uns beiden später nicht mehr den Weg zurück nach Beverly Hills findet. Und da ich aus Erfahrung weiß, dass sie meistens diejenige ist, die am Ende schwankt wie ein Schiff auf hoher See, ist es besser, wenn ich einen klaren Kopf bewahre.

Eine Weile lausche ich der Musik im Hintergrund, die zwischendurch von dem Gemurmel der Gäste unterbrochen wird. Eine gute Mischung aus neuen und älteren Songs, die geradezu Balsam für meine Ohren ist, nachdem sie von dem Elektro-Techno-Mischmasch eben reichlich überstrapaziert wurden.

Lange genießen kann ich die Ruhe allerdings nicht, weil Lucy neben mir quiekt wie ein Meerschwein auf LSD. Sogar Robert oder Joe - wie ihn vorhin jemand genannt hat - lässt vor Schreck beinahe eine der Flaschen aus dem großen Regal hinter der Theke fallen.

Meine beste Freundin bekommt weder davon noch von dem Umstand, dass ich mir mein linkes Ohr reibe, etwas mit. »Da ist er! Jimmy!«

Wer zum Teufel ist Jimmy? Ich dachte, ihre neuste Eroberung heißt Alex.

»Jimmy Borelli«, meint sie, als wenn das alles erklären würde. »Chicago Fire. Du erinnerst dich?«

Dunkel. Wobei ich mir ernsthaft die Frage stelle, ob man ihr vorhin etwas ins Getränk gemischt hat. Drogen würden ihren Zustand auf jeden Fall erklären.

»Gut. Er sieht ihm nur ähnlich.« Lucy grinst immer noch bis über beide Ohren. »Aber ich sage dir, der wäre genau dein Typ.«

»Ich bin vergeben«, erinnere ich sie und greife zu meiner Cola, obwohl der Wunsch nach Alkohol immer größer wird.

»Nur gucken, nicht anfassen.«

Wer schon einmal Kohlensäure durch die Nase inhaliert hat, wird wissen, dass das höllisch brennt. Ich wusste es bisher nicht. Dank Lucys Kommentar bin ich mal wieder um eine Erfahrung reicher.

Natürlich weiß sie nichts Besseres, als sich halb tot zu lachen. Hilfe wird ja auch total überbewertet, wenn man danebensitzt, während jemand beinahe erstickt. Mein vorwurfsvoller Blick lässt sie endlich verstummen. »Was denn?« Sie zuckt mit den Schultern. »Ist so. Oder meinst du, dein toller John guckt jetzt sein Leben lang keine andere mehr an, bloß weil er dich hat?«

Eigentlich hatte ich das gehofft ... ja.

Breit grinsend stupst sie mir auf die Nase, bevor ihre Stimmlage erneut die eines quiekenden Ferkels kurz vor der Schlachtung annimmt. »Du bist so herrlich naiv, dass es fast schon wieder süß ist.«

»Und du bist blöd!«, gebe ich beleidigt zurück und widme mich diesmal vorsichtiger meinem Getränk.

Eine Weile herrscht Funkstille. Kein Wunder. Sie ist ja auch zu beschäftigt damit, sich zu verrenken, um ja alles sehen zu können, was in einer der Nischen vor sich geht.

»Jetzt guck da nicht immer so auffällig hin«, zische ich leise, doch sie quiekt erneut.

»Männer in Uniform machen mich immer ganz wuschig!«

Wie praktisch, dass Alex Finanzbeamter ist und dementsprechend keine hat. Gleich nach ihrer Ankunft hat sie es sich nicht nehmen lassen, mir zu erzählen, dass sie niemals gedacht hätte, wie gelenkig Männer mit einem so steifen Beruf doch sein können. Heißt dann wohl, dass sie ihm nicht bloß einen Einblick in ihre Geschäftsbücher gewährt hat. Ich bin bestimmt nicht prüde oder verklemmt, aber das geht eindeutig zu weit.

»Vor allem der rechts ist ne echte Sahneschnitte.« Mit einem Geräusch, das dem einer rolligen Katze gleicht, leckt sie sich über die Lippen.

Ich bin froh, dass Lucy und ich ausschließlich Deutsch sprechen und weder Joe noch die anderen mitbekommen, was sie von sich gibt. Trotzdem guckt er immer wieder zu uns, während er am anderen Ende der Theke eine Bestellung aufnimmt.

»Den würde ich bestimmt nicht von der Bettkante stoßen.« Inzwischen ist sie so in ihrem Flirt-Modus, dass sie gar nichts mehr mitbekommt. Selbst mein Ich-töte-dich-Blick hält sie nicht davon ab, ihr Opfer weiter ins Visier zu nehmen. Oder sollte ich lieber sagen, ihre beiden Opfer? Schließlich hat sie mir ja schon mal davon berichtet, wie prickelnd es war von zwei Männern gleichzeitig ›verwöhnt‹ zu werden. An dem Punkt, wo sie etwas von Fesselspielen, Oralverkehr und erogenen Zonen erzählt hat, bin ich allerdings ausgestiegen und habe mir pummelige Einhörner mit Regenbogenmähne vorgestellt, die Konfetti furzen. Und ja ... sie furzen verdammt oft, um die Dinge, die sie im wahrsten Sinne des Wortes treibt, wieder aus dem Kopf zu bekommen.

»Komm schon, Emma! Ein Blick! Ich sag dir ... du verpasst was.«

Ich lasse mich nicht davon beirren, dass sie inzwischen wie eine Geistesgestörte an mir herumzerrt und schaue weiterhin in mein Glas. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber vielleicht befindet sich darin ja die Antwort auf die Frage, wie ich ihr diese Schnapsidee endlich ausreden kann.

»Der guckt schon die ganze Zeit hier rüber. Na los! Gib dir 'nen Ruck.«

Seufzend verdrehe ich die Augen. »Na schön.« Möglichst unauffällig, lehne ich mich so weit vor, dass ich ebenfalls einen Blick in die Nische erhaschen kann und ... erstarre.

Das muss ein Traum sein. Ein Albtraum! Ich blinzle ein paar Mal, aber das Bild bleibt unverändert.

Gott! Wieso hasst du mich so?!

Mittlerweile bin ich mir ziemlich sicher, dass er regelmäßig mit Popcorn und Cola vor einer überdimensionalen Leinwand da oben sitzt, um sich mit wachsender Begeisterung die Peinlichkeiten meines erbärmlichen Lebens reinzuziehen. Anders kann ich mir manche Dinge einfach nicht erklären.

Schnell wende ich meinen Blick ab und krame in meiner Handtasche nach meinem Portemonnaie.

»Was wird das, wenn es fertig ist?«, will Lucy wissen, während ich kurz davor bin, den gesamten Inhalt auf dem Tresen auszukippen.

Meine beste Freundin sieht mich immer noch mit erhobenen Augenbrauen an. Mir spukt jedoch nur eine Frage im Kopf herum.

Wie bekomme ich die hier bloß weg, ohne dass sie etwas merkt?

»Wir gehen.« Mit zittrigen Händen ziehe ich einen Fünfzig-Dollar-Schein heraus und schmeiße ihn auf die Theke. Meinetwegen soll Joe den Rest behalten. Entschlossen packe ich Lucy am Arm, den Blick zum Ausgang gerichtet. Ungefähr zehn Schritte und ich kann endlich wieder aufatmen.

Zurücklegen kann ich nicht einen einzigen, weil ich es noch nicht mal schaffe sie vom Barhocker zu ziehen. »Du willst immer sofort gehen, wenn es lustig wird«, meckert sie und nimmt zu meinem Entsetzen das Geld an sich, bevor Joe es tun kann.

Ich schmolle. Natürlich könnte ich die Bar allein verlassen, aber erstens kann ich sie nicht einfach in dieser fremden Stadt sitzen lassen und zweitens ...

»Ach, komm schon, Emma!« Sie gibt mir einen Schubs. »Das wird spaßig.« Wenn sie nur wüsste, wie ernst es ist. »Lass uns mal rübergehen.« Sie wackelt mit ihren perfekt gezupften Augenbrauen. »Vielleicht geht da ja was.«

Ganz dumme Idee!

»Vergiss es! Ich geh da nicht hin! Und du ... du auch nicht! Hörst du?!« Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass mein Puls gefühlt bei zweihundert liegt. Leider merkt Lucy das auch, wie mir ihr misstrauischer Blick beweist. »Ich ... bin müde und außerdem ...«

»Wie alt bist du? Achtzig?!« Sie lacht. »Mensch, Emma! Sei doch nicht immer so schrecklich verklemmt.«

»Ich bin überhaupt nicht verklemmt! Ich bin ...« Erneut überlege ich fieberhaft, welches Argument am besten ist, um sie endlich zur Vernunft zu bringen. »... in einer Beziehung. Jawohl! Und das soll auch bitte so bleiben. Auch wenn dir das nicht passt!«

Tom hat sich inzwischen etwas weiter nach außen gesetzt. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er die Hand hebt. Das hat mir gerade noch gefehlt. Zumal Lucy diese Geste ebenfalls nicht entgeht und sie nun neben mir auf und ab springt wie ein Flummi. »Hast du gesehen? Der will, dass wir rüberkommen.«

Ja ... leider!

»Du sollst ja nicht gleich sonst was mit ihm anstellen. Einfach nur nett unterhalten reicht. Außerdem ... wenn du ihn nicht willst – ich nehme ihn gerne.«

Die hat Nerven! Als ob die Liebe ein All-you-can-eat-Buffet wäre, an dem man sich hemmungslos bedienen kann?!

»Jetzt guck dir diesen perfekten Körper an.« Mittlerweile klingt sie nicht mehr wie eine rollige Katze, sondern wie ein ausgewachsener Tiger auf Beutezug. Sie zieht noch mal am Strohhalm ihres Sex on the Beach. »Also, ich sage dir, wenn die Männer hier in Kalifornien alle so heiß sind, dann überleg ich mir das mit dem Auswandern noch mal.«

Heiß. Er ist ja nicht umsonst bei der Feuerwehr, oder? Wäre ich nicht so intensiv damit beschäftigt, meine Verzweiflung im Zaum zu halten, würde ich jetzt lauthals lachen. Doch als sie mich packt, weiß ich ganz genau, was sie vorhat und dass ich sie davon abhalten muss.

»Lucy, hör zu, das geht nicht. Ich erklär dir das später, okay? Aber jetzt lass uns bitte bitte einfach von hier verschwinden!«, plappere ich in meiner Panik drauflos und bereue es keine zwei Sekunden später.

»Moment mal! Was erklärst du mir später?«

Gut. Spätestens jetzt dürfte sie dann auch bemerkt haben, dass etwas faul ist. Ich bin so eine dumme Kuh manchmal!

Ohne auf eine Antwort zu warten, wandert ihr Blick erneut zu den beiden Männern. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet sie Tom. Wobei es sich bei besagter Uniform eigentlich nur um dieses dunkelblaue Hemd handelt. Ich wüsste ja zu gern, wieso man in Arbeitskleidung in eine Bar geht.

Na, warum wohl? Um Frauen abzuschleppen! Lucy ist doch das beste Beispiel dafür, dass die weibliche Fraktion auf so etwas steht.

»Nee, oder?! Ich flipp aus!« Sie quiekt erneut. Und zwar so laut, dass es auch der Letzte in dieser Bar gehört haben müsste.

»Doch verdammt!« Erneut will ich sie vom Barhocker ziehen. »Und jetzt ... komm endlich!«

»Auf gar keinen Fall!« Sie muss gar nicht so energisch klingen. Das Funkeln in ihren Augen reicht vollkommen aus, um zu wissen, dass sie keine zehn Pferde hier wegbekommen werden.

Ob es ihr eigentlich Spaß macht, mich zu blamieren?

»Sag! Welcher von beiden ist es?«, fragt sie und stößt mir ihren spitzen Ellenbogen in die Seite, nachdem sie sich in Geheimagenten-Manier an mich rangepirscht hat.

»Ist das jetzt wirklich so wichtig?« Ich verziehe das Gesicht, doch sie kennt wie immer keine Gnade.

»Jetzt sag schon! Rechts oder links?«

»Rechts.«

»Ich hab dich nicht verstanden! Du redest auf einmal so leise!«, schreit sie und reibt sich grinsend das Ohr.

Oh ... und wie viel Spaß es ihr macht!

Ich schnaube. »Rechts, okay?! Bist du jetzt endlich zufrieden?!«

Leider nicht. »Die Sahneschnitte?!« Ihre sonst eher katzenartigen Augen werden von einer Sekunde auf die andere tellergroß, während sie zwischen Tom und mir hin und her sieht. Ich will gar nicht wissen, was er gerade denkt. »Nullachtfünfzehn?! Sag mal, hattest du deine Kontaktlinsen nicht drin, oder was?!«

Während ich weiterhin verzweifelt nach dem Notausgang suche, gibt Rihanna im Hintergrund ihr SOS zum Besten.

Wie passend!

Stöhnend lasse ich den Kopf auf die Theke sinken. »An deiner Stelle würde ich noch lauter schreien. Dann bekommt es auch der Letzte hier mit«, nuschele ich gegen das dunkle Holz, wobei ich die Ironie in meiner Stimme schwer verbergen kann.

Lucys diebisches Grinsen verrät nichts Gutes. Wie recht ich damit haben soll, merke ich, als ich eine mir nur zu bekannte Stimme höre.

»So sieht man sich also wieder.«

Obwohl ich dieses dunkle und zugleich so sanfte Timbre unter tausenden sofort wiedererkennen würde, blinzle ich und sehe von seinen schwarzen Sneakers an diesen langen Beinen hoch, die in einer gut sitzenden Bluejeans stecken.

Okay. Ruhig bleiben, Emma. ALLES. WIRD. GUT. Irgendwann. In einem anderen Leben vielleicht ...

Am liebsten würde ich mich kneifen. Aber dann denkt er wirklich, ich wäre gestört. Also richte ich mich langsam auf und versuche, mir ein Lächeln ins Gesicht zu tackern.

Tom hat seine Hände in die Hosentaschen geschoben und grinst mich übertrieben breit an. Man könnte fast meinen, dass es als Zähnefletschen durchgeht. Ist er etwa sauer? Gut. Ihn zu ignorieren war jetzt nicht gerade die feine englische Art, aber was sollte ich bitte sonst tun, nachdem Lucy ihn in Gedanken schon auf dem Billardtisch beglücken wollte?

Die feiert inzwischen mimiktechnisch ihre eigene Party.

»Äh ja. So ein Zufall, was?«, bringe ich heraus und kralle mich an meinem Glas fest. »Hab dich gar nicht erkannt.« Ja. Ich war schon immer eine lausige Lügnerin. Das merkt auch Tom, der mit zusammengepressten Lippen nickt.

Mist! Jetzt ist er wirklich sauer.

»Ist mir auch gar nicht aufgefallen.« Wie es aussieht, beherrscht er die Kunst des Sarkasmus ebenfalls.

»Ach wie unhöflich von mir«, mischt sich diese Verräterin neben mir ein und reicht ihm die Hand. »Ich bin Lucy, Emmas beste Freundin. Tom ... richtig? Hab schon viel von dir gehört.«

Oh bitte! Ernsthaft?! So viel habe ich jetzt auch wieder nicht über ihn erzählt!

Mein Blick wandert zu dem jungen Mann, der uns die ganze Zeit beobachtet. Er kann einem fast leidtun. Schließlich sitzt er da hinten wie bestellt und nicht abgeholt, obwohl er anscheinend mit Tom zusammen hier ist.

Dieser ergreift Lucys Hand. »Ach?! Ist das so?« Er hebt seine rechte Augenbraue. Etwas, das er in Perfektion beherrscht.

Lucy sieht immer noch aus wie Gollum, wenn er seinen Schatz hypnotisiert und mir wird klar, dass ich handeln muss. Sofort! »Ja äh.« Unsanft packe ich sie am Arm. »Wir wollten ohnehin gerade gehen!«

»Wieso denn?«, meint Toms Begleiter, der sich inzwischen zu uns gesellt hat. »Ist doch gerade so lustig?!« Er zuckt mit den Schultern und grinst breit. »Ich bin übrigens Samuel. Also falls es wen interessiert, heißt das.«

Habe ich gerade ernsthaft behauptet, er würde mir leidtun? Nein. Das muss ein Irrtum gewesen sein.

»Emma. Freut mich«, nuschele ich und verkneife mir das ›nicht‹ am Ende des Satzes.

»Hey! Du bist doch die, die bei uns auf der Wache war. Geile Karre übrigens. War bestimmt nicht billig.«

»Äh ja ... die bin ich wohl.« Immer schön lächeln. Lächeln und nett winken nicht vergessen.

»Ich hab doch gleich gesagt, ich kenn die irgendwoher. Aber du wolltest mir ja nicht glauben.« Samuel stupst Tom an und erntet dafür einen bösen Blick.

Aha. Er hat ihm also auch nicht verraten, wer ich bin. Aber Hauptsache beleidigt sein, dass ich ihn ignoriert habe. Das haben wir gerne.

»Können wir das bitte später klären?«, murmelt er diesem Mann zu, der neben ihm wie ein Zwerg aussieht. Der grinst ihn jedoch nur noch breiter an, was Tom mit einem ziemlich düsteren Blick quittiert. Scheinbar ist ihm die ganze Situation mindestens genauso unangenehm wie mir.

Beruhigt mich irgendwie.

Lange Zeit zum Verschnaufen bleibt mir jedoch nicht. Lucy ist heiß wie Frittenfett und dreht jetzt so richtig auf. »Also ich finde es auch sehr amüsant gerade.« Sie mustert Tom erneut von oben bis unten. »Emma hat gar nicht erzählt, dass du so ...«

So! Jetzt reicht es!

Ehe sie weiter Blödsinn von sich geben kann, kneife ich ihr unauffällig in den Oberschenkel. Ihr Pech, wenn sie es anders nicht kapieren will.

»Aua!«, schreit sie, anstatt endlich ihre Klappe zu halten und sieht mich vorwurfsvoll an. »Warum kneifst du mich denn?«

Ich bringe sie um! Ich schwöre ... GLEICH. BRINGE. ICH. SIE. UM!

Während Tom sich mal wieder auf meine Kosten amüsiert, versuche ich, nicht die Gesichtsfarbe einer überreifen Tomate anzunehmen und hoffe darauf, dass sich der Boden unter mir auftut. Aber wie das nun mal mit Wünschen und Hoffnungen ist, nur die wenigsten von ihnen gehen in Erfüllung. Dafür hat mein Gehirn in Stresssituationen eine Art Notfallplan entwickelt. Auch jetzt blendet es die Realität komplett aus. Stattdessen sehe ich eine junge Frau vor mir, die es nicht nötig hat sich zu verstecken.

»Haben Sie öfter das Bedürfnis, sich in Luft aufzulösen? Geraten Sie immer wieder in unangenehme Situationen?«

Sie zieht etwas Schwarzes aus ihrer Handtasche, entfaltet es und legt es auf den Boden, um kurz darauf elegant zu verschwinden.

»Black Window ist die Lösung all Ihrer Probleme. Jederzeit einsatzbereit, diskret und wiederverwendbar.«

In Zeiten des Klimawandels sollte man ja auf so etwas achten.

»Holen Sie sich Black Window noch heute und verändern Sie Ihr Leben! Zögern Sie nicht! Nur heute erhalten Sie dieses sensationelle Produkt zum einmaligen Vorzugspreis von nur 299,– Dollar! Selbstverständlich, nur solange der Vorrat reicht.«

Wie man auf so einen Schwachsinn kommt? Ich hatte schon immer eine blühende Phantasie. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich als Kind zu viele Homeshopping-Sendungen gesehen habe. Was auch immer es ist, gerade würde ich alles für so ein schwarzes Loch im Handtaschenformat geben.

Vor allem, als ich Lucys Ellenbogen an meiner Seite spüre und Toms Grinsen sehe. Eigentlich mag ich seine Grübchen. Gerade würde ich mir allerdings wünschen, sie nicht zu sehen. Hoffentlich habe ich nicht wieder laut gedacht. Sonst stellt er sofort die Einweisung in die Geschlossene aus.

Wo sind eigentlich die Naturkatastrophen, wenn man sie mal braucht?

»Wollt ihr zwei Hübschen vielleicht mit rüberkommen?«, fragt Samuel und deutet auf die Nische, in der die beiden gesessen haben. 

Haben sich denn jetzt alle gegen mich verschworen?

»Äh ...« Wenigstens Tom scheint vernünftig zu sein. Auch wenn es mich ein bisschen trifft, dass er ebenso wenig von diesem Vorschlag hält wie ich. Dabei hat er mich doch angesprochen. Wieso sollte er das tun, wenn er keine Zeit mit mir verbringen will? Oder war das einfach nur sein verletztes Ego, weil ich ihm nicht sofort um den Hals gefallen bin? Obwohl ... darauf scheint er ja erst recht nicht zu stehen.

»Aber gerne doch«, flötet Lucy mit engelsgleicher Stimme, die so gar nicht zu ihrem teuflischen Charakter passt. Ich muss mich wirklich daran erinnern, dass sie eine Menge für mich getan hat. Sonst würde ich ihr spätestens jetzt die Freundschaft kündigen.

Ehe ich etwas sagen kann, schnappt sie sich ihr Glas und hakt sich bei Samuel ein, um mit ihm nach hinten zu gehen.

Mein Blick wandert zu Tom, der jedoch nur mit den Schultern zuckt und dann zurück zu Lucy. Ob ich in diesem speziellen Fall auf mildernde Umstände wegen seelischer Grausamkeiten plädieren könnte?

Nur für den Fall, dass ich sie aus Versehen erwürge.

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